Der Fotografische Akt

Ohne Kamera kein event of photography, aber nicht unbedingt ein photographed event. Im Fall dieses Fotos eines holländischen Studenten in Afrika, der seine Kamera vor dem Hintergrund eines Dorfes in der Wüste unten checkt, gibt es beides. Foto: Maarten van Dis, 6. November 1961. Quelle: African Studies Centre Leiden / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Um Missverständnisse gleich vorwegzunehmen: Bei diesem Text geht es keineswegs um die Beschäftigung mit der fotografischen Form des Akts als einem zentralen Motiv der Kunstgeschichte. Stattdessen wird der fotografische Akt hier als der Akt des Fotografierens verstanden. Es geht also um die Situation, in der Fotograf*in, Fotografierte und Kamera aufeinandertreffen und aus der in der Regel ein Bild entsteht. Damit einher geht die Einschränkung, dass die hier dargelegten Argumente vor allem auf Situationen zutreffen, in denen Menschen fotografiert werden. Während mit „Bildethik“ oft pauschal diverse Aspekte von Fotografie gemeint werden, die sowohl die Ästhetik und die Bildlichkeit als auch die Produktion umfassen, fällt bei einer Zerlegung des fotografischen Prozesses in seine Einzelteile auf, dass sich verschiedene bildethische Fragen stellen.

Der fotografische Akt ist ein elementarer, wenn nicht gar der elementarste Teil fotografischen Arbeitens und meist eine soziale Situation. Er steht exemplarisch für die Betrachtung der Fotografie als Handlung und nimmt anders als Begriffe wie „Fotografieren“ oder „Fotograf“ eine übergeordnete Perspektive ein. Die Fotokamera als technisches Objekt ist konstitutiv für den fotografischen Akt, weil sie die daran Beteiligten miteinander in Beziehung bringt. Es ist also die Einführung einer Kamera in eine soziale Situation, die den fotografischen Akt auslöst. Seine Bedeutung zieht er daraus, dass ein Teil der Begegnung sich später – möglicherweise – auf einer Fotografie wiederfindet.

Auch wenn mit dem Begriff des Akts etwas Geplantes bzw. eine bewusste Handlung verbunden ist, so gilt die Planmäßigkeit nicht zwangsläufig für alle Beteiligten. Menschen können etwa auch zufällig in einen fotografischen Akt geraten und als Unbeteiligte fotografiert werden, ohne sich dessen bewusst zu sein oder erst im Moment des Entdeckens darauf reagieren, dass sie an ihm teilhaben. Aus der Perspektive des Fotografierenden ist der fotografische Akt der Moment, in dem die eigentliche kreative bildnerische Arbeit stattfindet. Gleichwohl ändert sich dies je nach der Vorleistung, die für diesen erbracht werden muss.

Als zentraler Moment fotografischen Handelns ist er in allen Genres zu finden. Ob Journalismus, Werbung, Kunst oder Amateurfotografie, immer gibt es einen fotografischen Akt, dessen Bedeutung und Ablauf jedoch zwischen den Genres differieren. Während er im Fotojournalismus oft eine Art „quick hit encounter“ ist, in dem sich während eines Ereignisses Dargestellte und Fotograf*in kurz begegnen, stellt er in der Werbefotografie eher den Kulminationspunkt einer langen Vorbereitungsphase dar. Die aus dem fotografischen Akt als ästhetische Produkte resultierenden Fotografien entstehen in der Regel für einen klar definierten Gebrauchszusammenhang. Das gilt auch für die Amateurfotografie, etwa wenn eine Person ein Selfie während einer Reise macht und dadurch mit der eigenen Peer-Group auf sozialen Netzwerken kommuniziert, oder wenn Fotokünstler*innen ein Stillleben im Studio aufbauen und dieses für eine Ausstellung einer Galerie fotografieren.

Eine Möglichkeit, das Verhältnis von fotografischem Akt und Bild auch theoretisch anders zu fassen bzw. zu beschreiben, liefert die Ausdifferenzierung von zwei Ereignisformen der Fototheoretikerin Ariella Azoulay. In ihrem Essay „Photography“ aus dem Jahr 2011 unterscheidet sie zwischen einem event of photography und einem photographed event.[1] Das event of photography lässt sich mit dem Ereignis der Fotografie oder eben auch dem fotografischen Akt übersetzen, während photographed event das fotografierte Ereignis darstellt. Nicht immer fallen beide zusammen, denn ein event of photography, also das Versammeln vor der Kamera, ist zwar theoretisch dazu gedacht, ein Ereignis auch fotografisch festzuhalten, aber es kann etwa durch technische Probleme eine Aufnahme verloren gehen oder gar nicht erst entstehen. Umgekehrt jedoch ist ein photographed event nicht ohne ein event of photography denkbar.

Aus bildethischer Perspektive sind das event of photography bzw. der fotografische Akt deswegen interessant, weil sie konstitutiv dafür sind, dass es überhaupt eine Fotografie gibt, über die eine ethische Auseinandersetzung geführt werden kann. Beim Zeigen der Fotografien eines photographed event, die als digitale oder analoge Kopie zirkulieren, ist eine ganze Reihe von Fragen relevant. Diese sind zum einen ethisch-moralischer Natur – im Sinne von dem, was zeig- und darstellbar ist – und zum anderen rechtlicher Natur – im Sinne etwa des Rechts am eigenen Bild. Diese Debatten, die als zentralen Gegenstand die Auseinandersetzung um ein Bild haben, nehmen dabei für sich in Anspruch, auch etwas über den fotografischen Akt auszusagen. Die soziale Situation, die das event of photography kennzeichnet, ist im Moment der Bildbetrachtung jedoch schon vorbei und kann nur theoretisch etwa über bildimmanente Hinweise oder Gespräche mit den Beteiligten rekonstruiert werden.

Für die kritische Reflexion der Reichweite bildethischer Debatten ist relevant, dass während des fotografischen Akts zwischen den an diesem Prozess beteiligten Personen bereits ein Aushandlungsprozess stattfindet, der auch ethische Fragestellungen umfasst. Für eine ganze Reihe dieser Fragen müssen die Beteiligten beim Akt selbst eine Antwort finden, etwa ob sie eine Kamera zücken oder dies nicht tun. Andere Themen, wie etwa die Frage, ob etwas fotografier- als auch zeigbar ist, können auf den Moment der Bildauswahl verschoben werden. Da eine Grundeigenschaft der Fotografie als einem photographed event darin besteht, ihre Entstehungsbedingungen zu verschleiern, bleibt der während des event of photography abgeschlossene (ethische) Aushandlungsprozess in der Regel unsichtbar. Daraus folgt, dass bestimmte bildethische Fragestellungen ohne eine Hinzuziehung von Fotografierendem und Fotografierten nicht geklärt werden können. Zum anderen können die zu Grunde liegenden ethischen Prämissen beim fotografischen Akt den auf die Fotografie bezogenen diametral entgegenstehen.

So mag eine erotische Fotografie nicht zeigbar sein, weil sie gegen Normen einer Gesellschaft oder gegen die Regeln von Social Media-Plattformen verstößt, aber aus Produktionsperspektive völlig unproblematisch sein, da sie das Ergebnis eines gleichberechtigten kollaborativen Prozesses aller Beteiligten ist. Dieses kann jedoch nur unter Hinzuziehung der am fotografischen Akt Beteiligten herausgefunden werden. Aber es ist auch andersherum denkbar, etwa wenn es um die Folterbilder aus Abu Ghraib geht. So stellten sowohl die Folterhandlungen als auch deren Dokumentation zweifellos eine Verletzung der Menschenwürde dar. Die Publikation jedoch kann sowohl moralisch wie rechtlich in bestimmen Kontexten gerechtfertigt sein, etwa wenn es um ein übergeordnetes Interesse geht, Folterpraktiken im Irak-Krieg zu bezeugen. In diesem Fall ließe sich bereits aus dem Dargestellten die Normverletzung des photographed event ableiten.

Retrospektiv, also ausgehend von in unterschiedlichen Foren zirkulierenden Bildern, geführte bildethische Debatten werden in der Regel mit dem Wissen um die Werte und Normen einer Gesellschaft geführt, in der die Bilder (öffentlich) sichtbar werden. Damit sind für Fragen nach dem ethisch und rechtlich Zulässigen und Nichtzulässigen primär die Normen der Betrachtenden sowie des Ortes, an dem sich befinden, von Relevanz. Dies gilt vor allem deswegen, weil der Austausch meist zwischen Publizierenden und Betrachtenden und nur selten unter Einbeziehung der Dargestellten sowie der Fotografierenden geführt wird. All dies hat zur Folge, dass bei bildethischen Debatten immer genau geklärt werden muss, worauf sich diese beziehen und worauf mit welchen Mitteln eine Antwort gefunden werden kann. Dies gilt insbesondere in Zeiten, in denen moralische Empörung einen entscheidenden Faktor massenmedialer Aufmerksamkeitsökonomien darstellt.

 

 

[1] Vgl. Ariella Azoulay, Photography, in: Mafteákh 2e/2011, S. 74, online unter http://mafteakh.tau.ac.il/en/wp-content/uploads/2011/01/Photography.pdf [16.11.2020].

 

 

Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, hg. von Christine Bartlitz, Sarah Dellmann und Annette Vowinckel

Themendossier: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet

 

 

 

 

Zitation


Felix Koltermann, Der fotografische Akt, in: Visual History, 16.11.2020, https://visual-history.de/2020/11/16/der-fotografische-akt/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2017
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