Alberto Henschel und die frühe Porträtfotografie in Brasilien
Brasilien weist eine lange und vielfältige fotografische Geschichte auf. Bereits in den 1840er-Jahren wurden die ersten Fotostudios in den großen Küstenstädten eröffnet. Die Fotografen waren häufig europäische Immigranten, die vorzugsweise in Recife, Salvador und Rio de Janeiro erfolgreiche Studios führten.[1] In der besonderen gesellschaftlichen und politischen Situation im Brasilien des 19. Jahrhunderts, die durch eine rasante Technisierung und Modernisierung nach europäischem Vorbild geprägt war, erfüllte die Fotografie spezifische Aufgaben. Sie diente der Strukturierung von Wahrnehmung und der Repräsentation einer gesellschaftlichen Realität, die von tiefgreifenden sozialen Umbrüchen gezeichnet war. Eine besondere Rolle spielte dabei die Porträtfotografie, die eines der wichtigsten Betätigungsfelder der frühen Fotografen war. Zu ihrer Klientel gehörten die ökonomischen Eliten sowie die neu aufstrebende Mittelschicht, der ebenfalls viele europäische Immigranten angehörten. Sie teilten demnach weitgehend den Habitus der Fotografen, die mit der fotografischen Technik auch die europäischen fotografischen Bildtraditionen mit nach Brasilien brachten. Vor allem für diese neue bürgerliche Mittelschicht waren die fotografischen Porträts ein geeignetes Mittel zur Selbstvergewisserung und Kommunikation ihres neuen sozialen Status, den sie in ihren Herkunftsländern oft nicht innehatten.
Zu den weiteren Aufgabenbereichen der ansässigen und der vielen reisenden Fotografen gehörten die fotografische Dokumentation der vielfältigen technischen Neuerungen, etwa im Bereich des Verkehrswesens, sowie die Begleitung wissenschaftlicher Expeditionen, auf denen auch zahlreiche Porträts der indigenen Bevölkerung entstanden sind. Auch der im 19. Jahrhundert aufkeimende internationale Tourismus brachte den Fotografen viel Kundschaft. In einer Zeit, in der die Amateurfotografie und die Bildpostkarte als Reiseandenken noch nicht verbreitet waren, erwarben ausländische Reisende teils ganze Bildserien aus den besuchten Regionen.
Gefördert wurde die Fotografie nicht zuletzt vom brasilianischen Kaiser Pedro II., der selbst einer der ersten Fotografen und Fotosammler des Landes war.[2] Diese große Wertschätzung führte dazu, dass bereits im 19. Jahrhundert umfangreiche Fotografiesammlungen angelegt wurden. Bis heute existiert ein reichhaltiger Fundus historischer Fotografien in öffentlichen und privaten Sammlungen, in Brasilien selbst sowie in Europa. Auch der Porträtfotografie und ihrer Geschichte wird in Brasilien nach wie vor große Aufmerksamkeit gewidmet, wie kürzlich etwa die vielbeachtete Ausstellung „Assis Horta: A Democratização do Retrato Fotográfico através do CLT / The Democratization of Photographic Portrait through the Brazilian Labor Law (CLT)“ in Brasilia zeigte.[3]
Zum Werdegang Alberto Henschels
Einer der renommiertesten Fotografen und Studioinhaber im Brasilien des 19. Jahrhunderts war Alberto (Albert) Henschel (1827-1882). Als Sohn des Kupferstechers und Lithografen Moritz Henschel (1785-1862) migrierte er vor etwa 150 Jahren aus seiner Geburtsstadt Berlin nach Brasilien. Bereits kurz nach seiner Ankunft in Recife, Pernambuco, eröffnete er 1866 gemeinsam mit seinem ebenfalls aus Deutschland stammenden Partner Carlos Henrique (Karl Heinrich) Gutzlaff sein erstes Fotostudio unter dem Namen Fotografia Allemã (Deutsche Fotografie).[4]
In den folgenden Jahren kamen, mit wechselnden Geschäftspartnern, Studiobetriebe in Salvador da Bahia, Rio de Janeiro und São Paulo hinzu. Damit war Henschel einer der ersten Fotografen in Brasilien, der eine Kette von Fotostudios in verschiedenen Orten unterhielt.[5] Diese weit verzweigte Vernetzung mit anderen Fotografen und Künstlern in Brasilien und Deutschland sowie die herausragende Qualität der Fotografien aus den Studios Henschels führten dazu, dass Henschel einer der einflussreichsten Fotografen Brasiliens wurde. Er war eine bekannte Figur des öffentlichen Lebens und ein gefragter Porträtfotograf der ökonomischen Elite. Die Tageszeitungen und illustrierten Zeitschriften berichteten regelmäßig über die Entwicklungen der Studios Henschels und seine Reisen nach Europa.[6] 1874 wurde er, gemeinsam mit seinem Partner Francisco Benque (Henschel & Benque), durch Pedro II. zum kaiserlichen Hoffotografen ernannt.
Das fotografische Werk
Generell erfolgten Architekturaufnahmen und die Dokumentation von Bauten und Industrieanlagen oft in offiziellem oder privatem Auftrag, ebenso wie die Landschafts- und Landwirtschaftsaufnahmen, die zum typischen Angebot der professionellen Fotografen gehörten.
Bekannt sind die Studios Henschels vor allem durch die Porträtfotografien. Es existiert eine Fülle an Porträtfotografien aus den verschiedenen Studios, die die große Bandbreite ihrer Kundschaft offenbaren. Angefangen von der kaiserlichen Familie über zeitgenössische Künstler und Literaten, Besitzer großer Zuckerfabriken und Plantagen, ausländische Reisende, die bürgerliche Mittelschicht bis hin zur versklavten afrikanischen Bevölkerung. Da die Autorschaft der Fotografien meist nicht den verschiedenen im Studio beschäftigten Fotografen zuzuordnen ist, kursieren sie unter den Studiobezeichnungen, die oft auch nach Henschels Tod beibehalten wurden. Beispielsweise ließen sich die deutschen Forschungsreisenden Karl und Wilhelm von den Steinen und Otto Clauss nach ihrer zweiten Xingú-Expedition ca. 1888 im Studio Henschels fotografieren.
Besondere Beachtung fanden in den letzten Jahren die Fotografien von Afrikanern und Afrikanerinnen sowie Afrobrasilianern und Afrobrasilianerinnen aus den Studios Henschels. Sie sind im Zuge der Vorbereitungen der 100-Jahrfeier zur Abschaffung der Sklaverei in Brasilien, 1988, vielfach überhaupt erst wiederentdeckt worden in den öffentlichen Archiven und Sammlungen. Seither haben sie Eingang in diverse Fotoausstellungen und Bildbände gefunden.[7] Auch die generelle Aufwertung von Fotografien als historische Quelle in den Kultur- und Geschichtswissenschaften hat dazu beigetragen, dass diese Fotos verstärkt zum Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung geworden sind.
Aus den Studios Henschels stammt eine große Anzahl Porträts der Afrikaner und Afrobrasilianer. Sie sind vor 1888 entstanden, als die Sklaverei in Brasilien noch legal war. Auf den Fotos sind einige Personen bei der Ausübung typischer Sklaventätigkeiten dargestellt, etwa beim Tragen einer Sänfte oder bei der Ausübung handwerklicher Tätigkeiten (Abb. 2). Hier dient gemeinhin die Tatsache, dass die Personen keine Schuhe tragen als visueller Beleg ihres Status als Sklave, denn unter der befreiten Bevölkerung war es verpönt, nach wie vor barfuß zu gehen. Auf einer Vielzahl der Porträts wird allerdings nicht ersichtlich, ob die Personen als Sklaven oder Befreite dargestellt werden: Die Bilder enthalten keine Aussagen oder visuellen Codes, die den Status der Fotografierten als Sklaven oder Befreite ausgewiesen hätten – anders als beispielsweise die Fotografien Christiano Juniors, der ebenfalls einen großen Fundus von Porträts der Afrikaner oder Afrobrasilianer hergestellt hat.[8] Hier sind die Personen durchgehend als Sklaven dargestellt, was durch typische, statusindizierende Attribute und Gesten assoziiert wird (Abb. 3).
In einigen der Porträtfotografien Henschels sind die Afrikanerinnen im aristokratischen Ambiente der Studiofotografie jener Zeit abgebildet und tragen Accessoires, die mit der gehobenen Gesellschaft assoziiert werden, beispielweise einen Fächer oder Schmuck (Abb. 4). Für einen weiteren größeren Bestand an Porträts aus den Studios Henschel liegt die Vermutung nahe, dass sie im Auftrag der Justizbehörden angefertigt worden sein könnten und der Registrierung von Mitgliedern der (verbotenen) Candomblés (afro-brasilianische Religion) gedient haben. Bei diesen Fotografien handelt es sich ausschließlich um Brustbilder, die keine schmückenden Gegenstände oder typisierenden Gesten enthalten. Sie ähneln damit den frühen Identifizierungsfotos (und den späteren Passbildern), die auch in anderen Regionen Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommen sind. Anhand von Gerichtsakten wies die Historikerin Gabriela Sampaio[9] die Identität eines der Fotografierten als feiticeiro (Heiler, Magier) Juca Rosa nach (Abb. 5).
Verbreitung der Fotografien
Die Fotografien Henschels, ebenso wie die anderer bekannter Fotografen des 19. Jahrhunderts wie Marc Ferrez, Augusto Stahl oder Guilherme Gaensly, zirkulierten bereits in ihrer Entstehungszeit weitläufig. Sie wurden beim Fotografen erworben, häufig in Form von Alben zusammengestellt und in Publikationen abgebildet. Auch auf den großen Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts und vielen anderen, späteren Ausstellungen gewannen die Fotografien ein zeitgenössisches internationales Publikum. Da viele Touristen und Geschäftsreisende[10] ganze Fotoserien erwarben, fanden die Bilder Eingang in diverse europäische Archive und Sammlungen. Besonders die Porträtfotografien der Afrikaner bzw. Afrobrasilianer scheinen auf großes Interesse der europäischen Reisenden gestoßen zu sein, denn sie finden sich sehr häufig in Fotosammlungen jener Zeit wieder.[11] Dabei sind es nicht so sehr die typisierten „Sklavenfotografien“, sondern eher die eleganten Porträts der (ehemals) versklavten Bevölkerung, die in den Augen der Reisenden einen exotischen Reiz innegehabt haben müssen.
Die Porträtfotografien aus den Studios Henschels wurden beispielsweise auch von den beiden Forschungsreisenden Alphons Stübel (1835-1904) und Wilhelm Reiß (1838-1908) gesammelt. Sie befinden sich heute auf zwei Sammlungen verteilt im Leibniz-Institut für Länderkunde, Leipzig, sowie in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim. Auch das Pitt Rivers Museum, Oxford, sowie verschiedene private Sammlungen verfügen über eine Vielzahl der Porträts aus den Studios Henschels in Einzelbildern, Serien oder Alben. Sie wurden hier häufig in einem ethnografischen Kontext gesammelt und gruppiert. In Brasilien beherbergen namhafte Sammlungen wie das Instituto Moreira Salles, das Museu Histórico Nacional und die Biblioteca Nacional, Rio de Janeiro, umfangreiche Bilder aus den Studios Henschels.[12]
Vernetzte Quellen der Bildforschung
Für die Fotogeschichtsschreibung und die Bildforschung anderer Disziplinen ist es äußerst hilfreich, dass in den letzten Jahren verstärkt Bildsammlungen online zur Verfügung gestellt worden sind, auch wenn die wissenschaftliche Bearbeitung anhand originärer Abzüge und Negative dadurch bei weitem nicht obsolet geworden ist. Doch gerade bei seriell-ikonografischen Ansätzen, in der Erstellung umfassender Monografien oder in der vergleichenden Bildforschung erleichtert der schnelle Zugriff auf verstreute Bildbestände und die zugehörige Dokumentation die Bearbeitung großer Konvolute wesentlich. Darüber hinaus wird eine noch zu intensivierende Rückkoppelung der Forschungsergebnisse an die Bildquellen auch eine stärker vernetzte Forschung signifikant voranbringen.
Literatur
Paulo Cesar de Azevedo/Mauricio Lissovsky (Hrsg.), Escravos Brasileiros do Século XIX na Fotografia de Christiano Jr., São Paulo 1988.
George Ermakoff, O negro na fotografia brasileira do século XIX, Rio de Janeiro 2004.
Gilberto Ferrez, A Fotografia no Brasil, 1840-1900, Rio de Janeiro 1985.
Guilherme Horta, Assis Horta: A Democratização do Retrato Fotográfico através do CLT / The Democratization of Photographic Portrait through the Brazilian Labor Law (CLT). Ausstellungskatalog, Brasilia 2013.
Boris Kossoy, „Photography in Nineteenth-Century Latin America“, in: Wendy Watriss/Lois Parkinson Zamora (Hrsg.), Image and Memory. Photography from Latin America 1866-1994, Houston 1998, S. 19-53.
Boris Kossoy, Dicionário Histórico-Fotográfico Brasileiro, São Paulo 2002.
Boris Kossoy/Maria Luiza Tucci Carneiro, O olhar europeu: o negro na iconografia brasileira do século XIX, São Paulo1994.
Margrit Prussat, Bilder der Sklaverei. Fotografien der afrikanischen Diaspora in Brasilien, 1960-1920, Berlin 2008.
Gabriela dos Reis Sampaio, A historia do feiticeiro Juca Rosa: cultura e relações sociais no Rio de Janeiro imperial, Campinas 2000.
Lilia Moritz Schwarcz, As Barbas do Imperador. D. Pedro II., um monarca nos trópicos, São Paulo 2000.
Pedro Karp Vasquez, Fotógrafos Alemães no Brasil do Seculo XIX. Deutsche Fotografen des 19. Jahrhunderts in Brasilien, São Paulo 2000.
Frieda Wolff/Egon Wolff, Os Judeus no Brasil Imperial, São Paulo 1975.
Anmerkungen:
[1] Gilberto Ferrez, A Fotografia no Brasil, 1840-1900, Rio de Janeiro 1985; Boris Kossoy, „Photography in Nineteenth-Century Latin America“, in: Wendy Watriss/Lois Parkinson Zamora (Hrsg.), Image and Memory. Photography from Latin America 1866-1994, Houston 1998, S. 19-53; Boris Kossoy, Dicionário Histórico-Fotográfico Brasileiro, São Paulo 2002.
[2] Lilia Moritz Schwarcz, As Barbas do Imperador. D. Pedro II., um monarca nos trópicos, São Paulo 2000, S. 345-355.
[3] Guilherme Horta, Assis Horta: A Democratização do Retrato Fotográfico através do CLT / The Democratization of Photographic Portrait through the Brazilian Labor Law (CLT). Ausstellungskatalog, Brasilia 2013.
[4] Über den beruflichen und persönlichen Werdegang Henschels in Europa und seine Beweggründe zur Migration liegen bisher kaum Daten vor. Eine umfassende Monografie zu Alberto Henschel steht nach wie vor aus. Auch die von Egon und Frieda Wolff vorgelegten Publikationen zu jüdischen Immigranten in Brasilien enthalten nur wenige Angaben zu Henschels Biografie vor der Emigration (z.B. Frieda Wolff/Egon Wolff, Os Judeus no Brasil Imperial, São Paulo 1975).
[5] Kossoy, Dicionário Histórico-Fotográfico Brasileiro, S. 175-177; Pedro Karp Vasquez, Fotógrafos Alemães no Brasil do Seculo XIX. Deutsche Fotografen des 19. Jahrhunderts in Brasilien, São Paulo 2000, S. 109-115.
[6] Sein Name wurde in Brasilien geradezu emblematisch für die Fotografie verwendet, vgl. Margrit Prussat, Bilder der Sklaverei. Fotografien der afrikanischen Diaspora in Brasilien, 1960-1920, Berlin 2008, S. 91f.
[7] Beispielsweise Vasquez , Fotógrafos Alemães no Brasil; Boris Kossoy/Maria Luiza Tucci Carneiro, O olhar europeu: o negro na iconografia brasileira do século XIX, São Paulo1994; George Ermakoff, O negro na fotografia brasileira do século XIX, Rio de Janeiro 2004.
[8] Paulo Cesar de Azevedo/Mauricio Lissovsky (Hrsg.), Escravos Brasileiros do Século XIX na Fotografia de Christiano Jr., São Paulo 1988.
[9] Persönliche Kommunikation, vgl. auch Gabriela dos Reis Sampaio, A historia do feiticeiro Juca Rosa: cultura e relações sociais no Rio de Janeiro imperial, Campinas 2000.
[10] Die wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Europa und Brasilien waren im 19. Jahrhundert sehr ausgeprägt.
[11] Zu den v.a. in Brasilien und Deutschland aufgefundenen Bildbeständen vgl. Prussat, Bilder der Sklaverei, S. 29-34, 227f.
[12] Einige der Einrichtungen bieten inzwischen online Zugriff auf relevante Bildbestände an, etwa die Biblioteca Nacional (15.06.2015); das Instituto Moreira Salles (15.6.2015). Ca. 80 Fotografien von Henschel sind über Wikimedia einsehbar, sie sind meist Publikationen entnommen (15.6.2015).
Zitation
Margrit Prussat, Alberto Henschel und die frühe Porträtfotografie in Brasilien, in: Visual History, 23.06.2015, https://www.visual-history.de/2015/06/23/alberto-henschel-und-die-fruehe-portraetfotografie-in-brasilien/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.5.1268
Link zur PDF-Datei
Nutzungsbedingungen für diesen Artikel
Copyright (c) 2015 Clio-online e.V. und Autor*in, alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk entstand im Rahmen des Clio-online Projekts „Visual-History“ und darf vervielfältigt und veröffentlicht werden, sofern die Einwilligung der Rechteinhaber*in vorliegt.
Bitte kontaktieren Sie: <bartlitz@zzf-potsdam.de>