Zwischen Wirklichkeit und Traum
„Kunst aus dem Holocaust“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, 26. Januar bis 3. April 2016
Vornübergebeugt sitzt ein Mann in einem kargen Raum auf einem schmalen Hocker, den Kopf vergraben in den eigenen Händen. Neben ihm Rucksack und Wanderstab, vor ihm ein leuchtend blauer Globus, der einen grauen Schatten auf einen überdimensionalen Holztisch wirft. Vor der offenen Tür: schwarze Vögel und nackte Bäume.
Das Gemälde „Der Flüchtling“ von Felix Nussbaum ist von erschreckender Aktualität und sicher deshalb der Blickfang beim Eintritt in die Ausstellung „Kunst aus dem Holocaust“, die am letzten Montag von Bundeskanzlerin Angela Merkel eröffnet worden ist. Nussbaum malte das Bild 1939 im Brüsseler Exil. Der Osnabrücker Maler ist neben Charlotte Salomon, Ludwig Meidner und Marcel Janco sicher der bekannteste Künstler unter den über 50 Malerinnen und Malern, deren Werke im Pei-Bau gezeigt werden. Nur die Hälfte von ihnen überlebte den Holocaust. Nussbaum selbst wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Alle ausgestellten 100 Werke aus der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem eint, dass sie im Augenblick der Verfolgung entstanden und nicht retrospektiv nach dem Ende des Krieges oder im Abstand von Jahrzehnten auf die Ereignisse blicken. Jedes Bild vereint drei Ebenen in sich, die die Bildtexte zu verbinden suchen: das Dargestellte, den Darstellenden sowie die Überlieferung des Werkes. Der hervorragende Katalog analysiert zudem Text, Kontext und Subtext der Bildinhalte. Zugleich geht die Ausstellung auf einer weiteren Ebene auch der Frage nach, wie unter den Umständen von Lager und Ghetto das Material für das Anfertigen der Kunstwerke beschafft werden konnte. Gemalt wurde auch auf Kartoffelsäcken und auf Watteverpackungen; für Linolschnitte wurden alte Reifen verwandt. Doch die meisten Werke sind auf Papier meist minderer Qualität entstanden und deshalb konservatorisch heikel. Überlebt haben die verbotenen Bilder in Tongefäßen oder anderen Verstecken.
Zu einem der beeindruckendsten Ausstellungsstücke gehört eine farbige Karikatur, die Hitler als betrunkenen Harlekin zeigt. Das Werk von Pavel Fantl (1903-1945) entstand in den Jahren zwischen 1942 und 1944 in Theresienstadt. Sein Bild versah er mit dem Titel „Das Lied ist aus“. Papier und Farben hatte Fantl von tschechischen Lagerpolizisten erhalten. Ein anderer Tscheche schmuggelte die Karikaturen aus dem Lager und versteckte sie bis zum Kriegsende in den Wänden seiner Wohnung. Fantl wurde 1945 auf einem der Todesmärsche erschossen.
Die Ausstellungshalle im ersten Obergeschoß des Pei-Baus ist durch flexible Zwischenwände in die drei Abteilungen „Wirklichkeit“, „Porträts“ sowie „Traum und Hoffnung“ gegliedert, die jeweils mit einem programmatischen Gedicht eingeleitet werden, um eine Symbiose zwischen Wort und Bild zu erreichen. Die erste Abteilung zeigt die Realität der Verfolgung und der Lager (u.a. mit Nußbaums „Flüchtling“), die zweite wirft einen Blick auf die Gesichter der Verfolgten (u.a. mit einem Selbstporträt Charlotte Salomons) und die dritte führt den Versuch der Schaffung einer karikierenden (u.a. mit Fantls „Das Lied ist aus“) oder einer idyllischen Gegenrealität vor Augen. Zu sehen sind etwa zwei Bilder von Nelly Toll, die das damals achtjährige Mädchen in ihrem Versteck in einer Lemberger Wohnung zeichnete, und die ein unbeschwertes, sorgenfreies Leben außerhalb ihrer Isolation zeigen.
Doch erscheint die gewählte Gliederung nicht immer schlüssig, die Zuordnung der „repräsentativ“[1] ausgewählten Werke manchmal willkürlich. Konsequenter wäre eine nach Personen orientierte Hängung gewesen. Der Katalog etwa enthält einen fünfzigseitigen biografischen Teil, der als Broschüre auch in drei Sprachen (Englisch, Deutsch, Hebräisch) in der Ausstellungshalle ausliegt.
Leider sind zudem nahezu alle Bilder mit einheitlichem Passepartout und Rahmen versehen, was einer Homogenisierung gleichkommt, wo eine Unterstreichung der Individualität notwendig gewesen wäre. Und warum auf so kleinem Raum gleich einhundert Werke dicht gedrängt präsentieren? Wäre nicht gerade hier weniger mehr gewesen? Nämlich die Konzentration auf einige ausgewählte Werke, die Holocaust-Kunstwerke nicht zur Massenware macht, sondern unterstreicht, welche Besonderheit jedes einzelne dieser Bilder darstellt.
Hier hätten die Kuratoren der raumgreifenden Kraft der Bilder vertrauen können. Ein einzelnes Bild, etwa von der Intensität von Felix Nussbaums „Der Flüchtling“, kann einen ganzen Raum füllen und hätte dann eine völlig andere Wirkung. Dass es möglich ist, Bilder ohne Rahmen zu zeigen und nur ein Bild pro Raum auszustellen, beweist gerade eine vielgelobte Schau in Kopenhagen.[2] Warum wählten die Ausstellungsmacher durchgehend eine graue Wandfarbe, auf der die fragilen Kohle- oder Bleistiftzeichnungen oft nicht genügend Kontrast finden? Warum nicht ein gedämpftes Weinrot als Hintergrund, wie etwa im Kunstmuseum Yad Vashem?
Die Ausstellung ermahnt die Zeithistorikerinnen und Zeithistoriker, die zeitgenössische bildende Kunst der Verfolgten als Quelle für die Geschichte des Holocaust ernst zu nehmen. Interessant ist nämlich, dass auf den Bildern kaum Täter zu sehen sind. Insofern sind die Gemälde und Zeichnungen eine interessante und notwendige Ergänzung zu den zahlreichen Fotografien aus dem Holocaust, die fast ausschließlich von Tätern aufgenommen worden sind und folglich einzig deren Perspektive auf die Opfer zeigen. Von der Selbstbehauptung der Verfolgten zwischen Wirklichkeit und Traum aber erzählen die nun in Berlin versammelten Kunstwerke aus Yad Vashem – zum Teil in leuchtenden Farben von einer Zeit, die wir oft nur in Schwarz-Weiß kennen.
Die Ausstellung ist noch bis zum 3. April 2016 im Deutschen Historischen Museum Berlin zu sehen.
Informationen zum Begleitprogramm, zu Führungen und Vorträgen
Kunst aus dem Holocaust. 100 Werke aus der Gedenkstätte Yad Vashem, hg. von Eliad Moreh-Rosenberg und Walter Smerling, Köln 2016
[1] So die Kuratorin Eliad Moreh-Rosenberg im Katalog zur Ausstellung, S. 37.
[2] „Paint“, Ny Carlsberg Glyptotek Kopenhagen, bis zum 3. März. Siehe die Besprechung von Bernhard Schulz, Alleinstellung, in: Der Tagesspiegel, 28. Januar 2016, S. 22.
Zitation
René Schlott, Zwischen Wirklichkeit und Traum. „Kunst aus dem Holocaust“ im Deutschen Historischen Museum Berlin, 26. Januar bis 3. April 2016, in: Visual History, 10.02.2016, https://www.visual-history.de/2016/02/10/zwischen-wirklichkeit-und-traum/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1577
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