Neue Rezensionen: H-Soz-Kult
Erneut stellt Visual History einige neue interessante Bücher aus dem Bereich der historischen Bildforschung vor, die in den letzten Monaten auf H-Soz-Kult rezensiert worden sind.
Stephan Scholz: Vertriebenendenkmäler
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2015
rezensiert von Birgit Schwelling, redaktionell betreut durch Jan-Holger Kirsch
Das Thema Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die Frage nach dessen angemessener Repräsentation in den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Erinnerungen der deutschen Nachkriegsgesellschaften sind auch 70 Jahre nach Kriegsende in hohem Maße umstritten. Es handelt sich um einen Themenkomplex, der in den vergangenen Jahren wie kaum ein anderer Bereich der auf den Zweiten Weltkrieg und die Kriegsfolgen bezogenen Erinnerungskultur zu Auseinandersetzungen innerhalb Deutschlands, aber auch zu Konflikten auf transnationaler Ebene geführt hat. Besonders im Kontext des im Aufbau befindlichen Dokumentationszentrums der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung (besser bekannt unter dem Namen „Zentrum gegen Vertreibungen“) kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen, zuletzt im Zusammenhang mit der Neubesetzung der Direktorenstelle – einer Entscheidung, die mehrere Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats zum Rücktritt veranlasste.
David Oels/Ute Schneider: „Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere“
De Gruyter, Berlin, 2015
rezensiert von Enno Kaufhold, redaktionell betreut durch Ulrich Prehn
Das hat sich der namenlos gebliebene Verlagsvertreter des Münchner Georg Müller Verlags seinerzeit sicher nicht träumen lassen oder gar vorstellen können, dass seine mit dem Begriff der Bonbonniere metaphernhaft gefasste Umschreibung des Ullstein-Verlags einmal zum Titel einer wissenschaftlichen Betrachtung eben dieses inzwischen historisch gewordenen Verlags-Imperiums werden würde. Andererseits gehört es auch nicht zu den Gepflogenheiten, dass wissenschaftliche Publikationen mit einer poetischen Wendung wie „Der ganze Verlag ist einfach eine Bonbonniere“ tituliert werden. Das hat aber etwas für sich, sowohl als ansprechende Formulierung wie als Umschreibung dieses weltberühmten Verlags und spricht gleichzeitig für David Oels und Ute Schneider, die beiden Herausgeber des hier zu besprechenden Sammelbandes (in der Annahme, dass die beiden für die Wahl des Titels verantwortlich sind). Der Untertitel „Ullstein in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ macht dann schon deutlicher, worum es in dem Buch geht. Den Ullstein Verlag zu kennen setzt jedoch beinahe genauso viel kulturhistorisches Wissen voraus wie das Coverbild mit der Mehrfachmontage eines Mannes, der in einer Illustrierten mit dem Titel Uhu liest. Denn wer kennt heute noch dieses Monatsmagazin? (Als einem Berliner Verleger vor wenigen Jahren der Vorschlag unterbreitet wurde, er möge dieses Magazin in einem Re-Print wieder auflegen, lehnte dieser mit der Begründung ab, man würde den Namen Uhu allenfalls mit dem Alleskleber in Verbindung bringen …)
Sebastian Bode: Die Kartierung der Extreme
V&R unipress, Göttingen, 2015
rezensiert von Oliver Kann, redaktionell betreut durch Jan-Holger Kirsch
In ihrer Studie zur Kartierung der Nationalgeschichte wies Sylvia Schraut 2011 auf ein großes Defizit hin: die erstaunlich geringe fachwissenschaftliche und schulpolitische Aufmerksamkeit, die Atlanten bislang entgegengebracht wurde. Sebastian Bode setzt dort mit einer breiten Untersuchung zur „Kartierung der Extreme“ an. Dass es sich bei seiner Gießener Dissertation um eine ambitionierte, weil einerseits groß angelegte und andererseits methodisch reflektierte Studie handelt, wird schon beim Blick auf das Inhaltsverzeichnis deutlich. In elf Haupt- und zahllosen Unterkapiteln (inklusive Fazit) werden nicht weniger als 365 Geschichtsatlanten untersucht, die seit 1990 in 37 europäischen Ländern erschienen sind. Die räumliche und inhaltliche Dimensionierung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts soll dadurch umfassend beurteilt werden, etwa hinsichtlich der thematischen, chronologischen und topographischen Schwerpunkte, der Narrative sowie der epochalen Bilanzierung. Je nach Untersuchungsperspektive zeichnen sich dabei regionale Besonderheiten abseits des klassischen Ost-West-Unterschiedes ab. Eine zusätzliche didaktische Relevanz soll die Studie durch den Vergleich der friedenspädagogischen Ansätze der Atlanten erhalten.
Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hrsg.): Propagandafotograf
Christoph Links Verlag, Berlin, 2014
rezensiert von Thomas Lienkamp, redaktionell betreut durch Ulrich Prehn
Egal, ob in den Weiten der digitalen Welt, in wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen oder in den Massenmedien, die fotografischen Artefakte des Zweiten Weltkriegs und vor allem die im offiziellen Auftrag erstellten Fotografien der wehrmachtsinternen „Propagandakompanien“ (PK) beanspruchen eine ungebrochene Präsenz. Häufig ist die Verwendung und Rezeption dieser Fotografien dabei allerdings noch von einer gewissen Naivität geprägt. Allzu oft werden die PK-Fotografien als scheinbar objektive Quellen über den Krieg und nicht als Teil der modernen Kriegführung selbst betrachtet.
Diana I. Popescu/Tanja Schult: Revisiting Holocaust Representation
Palgrave Macmillan, Basingstoke, 2015
rezensiert von Gavriel D. Rosenfeld, redaktionell betreut durch Jan-Holger Kirsch
This volume features eighteen theoretically informed essays written mostly by younger European scholars who participated in the international conference, “Holocaust Memory Revisited,” in Uppsala, Sweden in March of 2013. As is true of many volumes published on the heels of academic conferences, the essays span a wide range of topics and relate to one another on an inconsistent basis. They all ostensibly address the relevance of the imagination in representing the Holocaust, exploring the relationship through different literary texts, films, comics, artworks, and memorials. The larger conclusion that they arrive at is that a larger shift is underway from first-hand memory to mediated memory. This conclusion will not come as a surprise to specialists in the field of Holocaust studies, but scholars will benefit from the individual insights that can be found in the case studies.
Frank Reuter: Der Bann des Fremden
Wallstein Verlag, Göttingen, 2014
rezensiert von Ulrich Hägele, redaktionell betreut durch Ulrich Prehn
Der Alltag, aber auch unsere Geschichte sind voller Stereotype. Sie banalisieren, generalisieren, klassifizieren und schaffen Vorurteile. Im schlimmsten Fall dienen sie als Vehikel rassistischer Motivation: zur Kriminalisierung und Ausgrenzung bis hin zur Vernichtung missliebiger Menschen. Im 20. Jahrhundert waren neben Juden und Menschen mit dunkler Hautfarbe vor allem Sinti und Roma von stigmatisierenden und herablassenden Stereotypen betroffen. Diese konzentrierten sich auf verallgemeinerte vorgebliche Wesensmerkmale oder aber auf zumeist entwürdigende äußere Zuschreibungen des ‚Zigeuners‘. Wichtigstes Medium für die Genese der Stereotype war und ist die Fotografie.
Valentin Groebner: Ich-Plakate
S. Fischer, Frankfurt am Main, 2015
rezensiert von Claudia Schmölders, redaktionell betreut durch Jan-Holger Kirsch
Schon 2003/04 hat sich Valentin Groebner mit Problemen der „Visibilität“ (Erving Goffman) eingehend beschäftigt. In seinem Buch „Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter“ (München 2003) zeichnete er unter anderem frühe Techniken zur machtfundierten Markierung von Personen, ihrer Registrierung und Identifizierung nach und entwickelte schon hier die These, dass die Idee der (körperlichen) Individualität von beglaubigter Identität zu unterscheiden sei. Nicht die Singularität der Person in Raum und Zeit, sondern ihr Name und ihre vielfache dokumentarische Bestätigung erzeuge die Gewissheit von Identität: Das immer Selbige in Bild oder Schrift affirmiert sich gegenseitig, ohne dass damit wirklich eine Person erfasst wäre.