Rezension: Ré Soupault, Das Auge der Avantgarde

Cover: Claudia Emmert (Hrsg.), Ré Soupault: Das Auge der Avantgarde, [… anlässlich der Ausstellung vom 24. Juli-4. Oktober 2015, Zeppelinmuseum Friedrichshafen] Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2015 © mit freundlicher Genehmigung

Cover: Claudia Emmert (Hrsg.), Ré Soupault: Das Auge der Avantgarde, [… anlässlich der Ausstellung vom 24. Juli-4. Oktober 2015, Zeppelinmuseum Friedrichshafen] Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2015 © mit freundlicher Genehmigung

Die Deutsche Nationalbibliothek resp. die Gemeinsame Normdatei (GND) kategorisiert Ré Soupault (1901-1996) an erster Stelle als Fotografin[1] und folgt damit den Veröffentlichungen der letzten Jahre, aber nicht der übergroßen Mehrzahl der Titelnachweise in ihrem Katalog, die Ré Soupault vor allem als Herausgeberin, Redakteurin und Übersetzerin (aus dem Französischen ins Deutsche und vice versa) z.B. der Werke von Lautréamont, Karl Jaspers, Romain Rolland, André Breton und ihres Ehemanns Philippe Soupault und in vielen Auflagen auch zweier Sammlungen französischer und bretonischer Märchen ausweisen. Ré Soupault war noch weit darüber hinaus eine der vielfältigsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts: frühe Bauhausschülerin, Experimentalfilmerin, Mode-Journalistin und Redakteurin, Modezeichnerin, -stilistin und -geschäftsfrau, danach Reportagefotografin und schließlich Redakteurin, Hörfunkautorin und Übersetzerin. In den zwanziger und dreißiger Jahren gehörte sie zum Kreis der deutschen und französischen künstlerischen Avantgarde, doch war ihr offenbar eigen, derart konsequent zwischen ihren verschiedenen Berufen und Berufungen wechseln zu können, dass die jeweils hochintensiv erlebten Lebensphasen von ihr quasi abgeschlossen und vergessen wurden.

Über Ré Soupault liegt seit 1999 eine bebilderte, auf Unterredungen und Tagebuchaufzeichnungen fundierende, einfühlsame Biographie[2] vor und auf fast aktuellem Stand informiert ein Wikipedia-Eintrag[3] kenntnisreich über ihr Leben, sodass es erlaubt sein mag, in dieser Rezension nur kurz auf ihr Leben als Fotografin einzugehen. Dies begann für sie erst als Begleiterin ihres (zweiten) Gatten Philippe Soupault, aber fußte in ihrer Biografie auf der frühen Bauhaus-Erkenntnislehre von Johannes Itten, der Praxis der abstrakten Filme Viking Eggelings, ihrem eigenen natürlichen Zeichentalent und dessen Schulung als Modezeichnerin und Modistin.

Robert Delaunay, Le Poète Philippe Soupault 1922, Musée National d'Art Moderne, Paris. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: gemeinfrei https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Robert_Delaunay_-_Le_Po%C3%A8te_Philippe_Soupault.jpg

Robert Delaunay, Le Poète Philippe Soupault 1922, Musée National d’Art Moderne, Paris. Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: gemeinfrei

Ré Soupault hatte Philippe Soupault 1933 in Paris kennengelernt und nach dem Ende ihrer zu Beginn erfolgreichen Karriere als Modistin 1937 geheiratet, er hatte sich aus dem Kreis der Surrealisten gelöst und gehörte als Schriftsteller, zeitweise auch Verleger zu den erfolgreichsten Journalisten Frankreichs und arbeitete für mehrere Zeitungen und Zeitschriften. 1934 überredete er sie, ihn an Stelle eines angestellten Fotografen als Fotografin auf seinen Reportagereisen zu begleiten, die ihn und sie in verschiedene europäische Länder, in die USA und 1938 nach Tunesien führen sollten. In Tunis hatte Philippe Soupault den Auftrag, die antifaschistische Radiostation Radio Tunis aufzubauen, Ré Soupault fotografierte dort auch unabhängig von ihm: Berühmt sind ihre Aufnahmen aus dem „quartier réservé“ alleinstehender oder verlassener muslimischer Frauen. Da Tunesien im Zweiten Weltkrieg von der Vichy-Regierung in Frankreich regiert wurde, waren beide Repressalien ausgesetzt, Philippe Soupault wurde über ein halbes Jahr inhaftiert. Unmittelbar vor der Besetzung Tunesiens durch deutsche Truppen flüchteten Philippe und Ré Soupault unter Zurücklassung ihrer gesamten Habe nach Algerien, von dort gelangten sie 1943 in die USA und bereisten Süd- und Mittelamerika, um in französischem Auftrag dort eine Nachrichtenagentur aufzubauen.

1945 trennte sich das Ehepaar. Ré Soupault versuchte vergeblich, in New York für sich eine Existenz als Journalistin aufzubauen. 1948 begann sie in der Schweiz als Übersetzerin und Journalistin für deutsche Rundfunkanstalten zu arbeiten, ihre letzte Fotoreportage datiert von 1950. Nach 1973 lebte das Ehepaar Soupault wieder gemeinsam in Paris. 1981 begann der Kontakt zu Manfred Metzner, der in den Jahren von 1982 bis 2003 eine zehnbändige Werkausgabe von Philippe Soupault in seinem Verlag Wunderhorn veröffentlichte. 1987 erwähnte Ré Soupault ihm gegenüber, dass sie noch die Negative der Fotografien besäße, die sie in Tunis vor ihrer Flucht zurückgelassen hatten, die dort geplündert worden waren, von Bekannten 1946 auf einem Markt in Tunis wiederentdeckt und an Ré Soupault zurückgegeben worden waren. Der spontanen Begeisterung und dem beruflichen Interesse und Geschick Manfred Metzners ist es zu verdanken, dass von 1988 an die Fotografien Ré Soupaults in mehr als 14 Ausstellungen und inzwischen acht Fotobänden des Verlags Wunderhorn in verschiedenen thematischen Zusammenstellungen und biografischen Übersichten bekanntgemacht worden sind.[4]

Die jüngste Ausstellung von Fotografien Ré Soupaults wurde im Zeppelin-Museum Friedrichshafen vom 24. Juli bis 4. Oktober 2015 gezeigt; die Leiterin des Museums, Claudia Emmert, bezeichnet sie im Vorwort des Begleitbandes[5] als die mit mehr als 180 Fotografien, darunter 50 erstmals ausgestellten Bildern, bislang umfassendste Ausstellung ihrer Aufnahmen, die sie aus dem Archiv des Nachlassverwalters und Verlegers Ré Soupaults, Manfred Metzner, ausgewählt hat (S. 10). In dem Begleitband finden sich allerdings nur 142 Fotografien, unter denen auch einige erstmals veröffentlicht sein mögen, die große Mehrzahl folgt den Wiedergaben im Katalogband von 2007 (s. Anm. 4). Sie werden in der aus den früheren Veröffentlichungen bekannten zeitlichen und thematischen Zuordnung qualitativ hochwertig reproduziert: 41 Bilder aus Paris, Frankreich und der Schweiz aus den Jahren 1934 bis 1938, dazu drei Porträtfotografien Ré Soupaults, 15 Bilder aus Norwegen 1935, 9 Bilder aus dem republikanischen Spanien 1936, 47 Bilder aus Tunesien 1937 bis 1942, dazu 19 Bilder aus dem „Quartier réservé“ in Tunis 1939, 11 Bilder aus Deutschland 1935 bis 1950, d.i. 3 von 1935 und 8 aus Reportagen über Flüchtlingslager in Deutschland 1950. Unter der Überschrift „Wurzellosigkeit und lose Enden“ gibt Claudia Emmert einen kurzen Überblick über die verschiedenen Lebensphasen Ré Soupaults, etwas ausführlicher führt die Kuratorin der Ausstellung, Carolin Gennermann, in die fotografische Kunst Ré Soupaults ein, danach beendet ihr Wiederentdecker, Nachlassverwalter und Verleger, Manfred Metzner, mit einem Überblick über die Publikationsgeschichte der Fotografien und mit einer abschließenden Würdigung der Künstlerin die den Abbildungen vorangestellten Beiträge. Im Anschluss an die Fotografien findet sich noch ein dreiseitiger tabellarischer Lebenslauf Répaults, weitergeführt bis ins Jahr 2015 als Überblick über Publikationen und Ausstellungen.

Die Fotografien Ré Soupaults gehören in den Kanon der großen fotografischen Kunst aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sie faszinieren durch ihre künstlerische Gestaltung, durch einfühlsame Wiedergaben des entscheidenden Augenblicks, die ganze Geschichten in einem Bild bündeln, und durch ihre großartige grafische Gestaltung, die mit starken schwarz-weiß-Kontrasten und wiederkehrenden grafischen Grundformen wie Kreis, Rechteck, Quadrat, Dreieck und Punkt den Lehren des frühen Bauhaus folgen, von der Fotografin intuitiv in der abgebildeten Szene aufgefunden und geradezu meditativ eingesetzt werden.[6] „Die Empfindung dabei ist offenbar doch eine sehr wichtige Sache beim Fotografieren. Ich habe nie eine Aufnahme gestellt. Alles, was ich fotografiert habe, kam direkt aus dem Leben.“[7]

Nach der Durchsicht der vorliegenden Veröffentlichungen von Fotografien Ré Soupaults ist noch einmal das Verdienst ihres Nachlassverwalters und Verlegers, Manfred Metzner, hervorzuheben, der in unablässigem Bemühen ihr fotografisches Werk propagiert. In dieses Bemühen fügt sich auch der vorliegende Katalogband ein, der acht Jahre nach der letzten umfangreichen Vorstellung ihrer Kunst nahezu denselben Bestand an Fotografien in der gleichen hohen Druckqualität abbildet und sie wieder auf dem Buchmarkt präsent macht, nachdem sie für einige Zeit nur noch antiquarisch zu erwerben waren. Manfred Metzner beziffert den Umfang ihres fotografischen Nachlasses mit einer Größenordnung von 1400 Negativen (S. 24) – gesehen haben wir davon bisher nicht mehr als vielleicht 200 Abzüge: Auch im Bewusstsein der hohen Kosten neuer Reproduktionen drängt sich die dringende Bitte an den Nachlassverwalter und Verleger auf, uns aus dem Fundus doch auch andere, bisher unbekannte Fotografien dieser großen Künstlerin zugänglich zu machen.

 

Claudia Emmert/Manfred Metzner/Frank-Thorsten Moll (Hrsg.), Ré Soupault: Das Auge der Avantgarde [… anlässlich der Ausstellung vom 24.7.-4.10. 2015, Zeppelinmuseum Friedrichshafen], Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2015, 192 S., ISBN 978-3-88423-511-9, 24,80 €

 

Quelle: Informationsmittel (IFB): Digitales Rezensionsorgan für Bibliothek und Wissenschaft

Diese Rezension ist eine Zweitveröffentlichung und zuerst auf dem Portal IFB erschienen. Wir danken Wilbert Ubbens und Dr. Klaus Schreiber für die freundliche Genehmigung, den Text auf Visual History zu veröffentlichen.

 

 

[1] Soupault, Ré; Fotografin, Filmerin, Modeschöpferin, Journalistin, Übersetzerin, Hörspielautorin, Schriftstellerin, 1901 – 1996.

[2] Ursula März, „Du lebst wie im Hotel“: Die Welt der Ré Soupault, Heidelberg 1999. – Enthält nur kleinformatige Abbildungen, aber einige ausführliche Bildinterpretationen.

[3] https://de.wikipedia.org/wiki/R%C3%A9_Soupault mit ausführlichen Angaben zu Ausstellungen und Literatur mit dem Stand vom 2.1.2015, d.h. ohne den hier vorgestellten Ausstellungskatalog (27.12.2015).

[4] Die vor 2015 letzte, bis dahin umfangreichste und umgreifendste Ausstellung fand 2011 in der Kunsthalle Mannheim statt: Ré Soupault – Künstlerin im Zentrum der Avantgarde. Vgl. dazu die Ausstellungskritik: Francesca Kaes, Ré Soupault reist ohne Gepäck, in: artefakt: Blog für Kunst und Kritik. – 2011-03-06, http://www.artefakt-sz.net/allerart/re-soupault-reist-ohne-gepack(27.12.2015) sowie den Katalogband: Inge Herold (Hrsg.), Ré Soupault. Künstlerin im Zentrum der Avantgarde, anlässlich der Ausstellung „Ré Soupault – Künstlerin im Zentrum der Avantgarde“ in der Kunsthalle Mannheim vom 13.2.-8.5.2011; Bauhaus, Film, Mode, Fotografie, Literatur. Mit einem Vorw. von Ulrike Lorenz und Beitr. von Peter Bär, Heidelberg 2011, Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1008813680/04. Er enthält neben 53 Fotografien Ré Soupaults aus dem Katalogband von 2007 (s.u.) überwiegend Wiedergaben von Werken anderer Künstler, aber auch von Modezeichnungen Ré Soupaults, dazu ein Verzeichnis ihrer Rundfunkbeiträge. Vier Jahre zuvor ist im Martin-Gropius-Bau in Berlin die folgende Ausstellung gezeigt worden: Ré Soupault: die Fotografin der magischen Sekunde, (aus Anlass der Ré-Soupault-Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Berlin; vom 28.4.-13.8.2007), hrsg. von Manfred Metzner, Heidelberg 2007. Der Katalog enthält mit ca. 182 Abbildungen die umfangreichste Auswahl an Fotografien Ré Soupaults.

[5] Inhaltsverzeichnis: http://d-nb.info/1071164511/04

[6] Überzeugend hat Ursula März in ihrer Biografie Ré Soupaults diese kaum bewusst zu planenden Gestaltungselemente an einigen frühen Bildern aus Paris interpretativ aufgezeigt: „Du lebst wie im Hotel“(wie Anm. 2), S. 61-76.

[7] Ré Soupault, zitiert von Manfred Metzner (S. 25).

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