Zapatistische Wandmalerei
Partizipative Kunst in basisdemokratischen Gemeinden und das Verhältnis zwischen Affekten/Emotionen und Sinnproduktion
Die Mehrzahl der administrativen und privaten Gebäude der selbstverwalteten Gemeinden der aufständischen Zapatisten im Südosten von Mexiko ist mit Wandbildern bemalt. Wenn man die zapatistischen Orte besucht, ergibt sich durch die überwältigende Farbenpracht der verschiedenen Bilder der Eindruck, ein Freilichtmuseum zu betreten. Lässt sich die mexikanische Tradition des Muralismus hier neu entdecken? Doch diese Bilder werden nicht von professionellen Künstlern im Auftrag der Regierung oder von Wirtschafts- und Kunstunternehmen gemalt, sondern von den Gemeindemitgliedern selbst oder deren Unterstützern. Auch stehen die Wandbilder nicht wie bei vielen Graffiti-Künstlern oder in der Pop-Art als Kunst des Underground dem offiziellen kapitalistischen Kunstbetrieb gegenüber oder versuchen diesen zu unterlaufen. Die Zapatistischen Wandbilder sind selbst autorisierte und kollektive Werke, die aus der Mitte der Gemeinschaft kommen und am besten mit dem Begriff der „kommunalen und partizipativen Kunst“ beschrieben werden können.
Die Zapatistas sind eine aufständische indigene Bewegung in Chiapas, die sich am 1. Januar 1994 gegen die Regierung erhob und „Demokratie, Gerechtigkeit und Freiheit“ fordert. Die Bewohner in Chiapas, überwiegend Indigenas und Bauern, leiden unter besonders schlechten Lebensbedingungen, hoher Sterblichkeit, Wassermangel und Unterernährung. Mittelalterliche Verhältnisse wie Schuldknechtschaft, Sklaverei und Kinderarbeit sind weit verbreitet. Viele Bewohner wurden durch Infrastrukturprojekte und einen ausufernden Extraktivismus von der mexikanischen Regierung und transnationalen Unternehmen von ihrem Grund und Boden vertrieben – ein Zusammenspiel von postkolonialen Verhältnissen und neoliberaler Globalisierung. Durch die neoliberale Politik der mexikanischen Regierung wurden die Indigenen, die auf dem Territorium leben, welches für die Projekte benötigt wurde und wird, zu Feinden, gegen die die Regierung Krieg führt.
Das war der Ausgangspunkt dafür, dass sich in Chiapas insbesondere unter den Vertriebenen eine neue Widerstandskultur entwickelte, die durch Selbstschutz, Basisdemokratie, kollektive Arbeit und Diversität geprägt ist. Außerdem kamen in den 1970er und 1980er Jahren linke Intellektuelle aus den Städten nach Chiapas, um dort eine Guerilla aufzubauen. Durch das Zusammenfließen dieser beiden Richtungen entstand 1983 die EZLN: die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung, in der das indigene Moment der kollektiven Selbstbestimmung und friedliche Widerstandsmethoden überwiegen. Die EZLN betrachtet sich als Teil der Zivilgesellschaft. Ihr Widerstand ist lokal und zugleich global orientiert. Durch das Zusammengehen mit dem Nationalen Indigena Kongress und dem Nationalen Indigenen Regierungsrat, der über 30 indigene Völker zusammenschließt, hat die EZLN eine nationale Dimension.
Die gemeinschaftlich gemalten zapatistischen Bilder sind Teil der symbolischen Repräsentation der aufständischen indigenen Gemeinden im Südosten Mexikos in Chiapas. Die Wandbilder sind konstitutiv sowohl für die eigene Identität, ihre Vergangenheit als eigentliche Besitzer des Bodens, ihre Unterdrückung als Indigene als auch für ihren friedlichen Widerstand gegen die mexikanische Regierung und deren neokoloniale Politik der Spaltung und Ausgrenzung. Insofern nimmt die Kunst eine konstitutive Rolle in den zapatistischen Gemeinden ein und wird von diesen als höchst politisch betrachtet.
Eines der größten und ältesten Wandbilder befindet sich am Krankenhaus „Guadalupana“ in Oventic. Es berichtet über die Herkunft, die Geschichte und das Werden der Zapatisten. Im Zentrum erscheinen die Köpfe zweier Menschengruppen: die alten und neuen Zapatistas. Die alten Zapatisten aus der Revolution von 1910 tragen Waffen. Mit ihren gleich aussehenden breitkrempigen Sombreros und Gewehren erscheinen sie als drohende Masse, in der kein Einzelner wahrgenommen werden kann. Sie wirken wie eine menschliche Kriegsmaschine, die die mexikanische Revolution anführt. Die neuen Zapatisten tragen Pasamontañas (Sturmhauben), aber keine Waffen. Ihre Gesichter wirken heiter und unterscheiden sich durch vielerlei Haut- und Augenfarben, was sie trotz der Bedeckung ihres Gesichts zu unverwechselbaren Individuen macht. Bei fast allen sind sprechende, Worte formende Münder in der schwarzen Pasamontaña zu sehen: ein Hinweis auf die Bedeutung des Dialogs in der Bewegung. Die Zapatisten bezeichnen ihren Aufstand als „Krieg der Worte.“ Die unterschiedliche Darstellung der beiden Zapatistengruppen soll symbolisieren, dass die neozapatistische Bewegung ebenso wie ihre Vorgängerin den Kampf um Boden, Freiheit und Würde weiterführt – doch auf friedliche Weise: Differenz und Individualismus spielen eine fundamentale Rolle.
Das Hauptgeschehen des Wandbilds wird an beiden Seiten durch die wichtigsten Sakralfiguren der Indigenas eingerahmt: Kukulkan (Sonnengott) und Chaac (Regengott), wobei die Implikation von Kukulkan mit Frieden und von Chaac mit Krieg die Existenz der zapatistischen Wirklichkeit symbolisieren soll. Diese Implikation taucht auch auf der rechten Seite des Bildes auf, auf der Emiliano Zapata, sozialrevolutionärer Führer der mexikanischen Revolution von 1910, zu sehen ist, und die Virgen de Guadalupe, die braune Madonna, die Nationalheilige Mexikos, die Frieden symbolisiert. Durch ihr Gesichtstuch transformiert die Guadalupe zur Zapatistin.
Der Mais nimmt durch seine Mittelstellung eine zentrale Bedeutung ein. Hinter den alten und neuen Zapatistas erscheint in einem Berg eine Frau, die zwei Maiskolben in den Händen hält. Sie symbolisiert die Mutter Erde. Diese Frau und der Mais sind der eigentliche Mittelpunkt, um den sich das ganze Geschehen rankt. Von Göttern- und Heiligenfiguren bewacht, werden harte Kämpfe von den alten und neuen Zapatisten dafür ausgetragen, denn es geht um ihre Kosmologie und ihre Existenz.
Während des Malens der kommunalen kollektiven Bilder findet ein Orientierungsprozess der Produzenten statt, bei dem es unbewusst als auch bewusst zu einem Überdenken und Neudenken von Einstellungen und Praktiken kommt. Dies überschreitet das reflexive Moment der Kunst, d.h. die Präsentation, und ruft Performativität auf den Plan, bei der durch Zeichen und Symbole neue Realitäten geschaffen werden. So kann man beobachten, dass sich die Wandbilder im Laufe der Zeit verändert haben. Mit der Festigung der zapatistischen Gemeinden um die Mitte der 2000er Jahre, die mit einer beachtlichen Qualitätssteigerung der Gesundheitsversorgung, des Bildungswesens, der Selbstversorgung und des Wohlstands der Gemeindemitglieder einherging, änderten sich auch die Bilder. Die Farben wurden kräftiger und optimistischer, und es erschienen neue Bildmotive. So traten Themen der leidvollen Vergangenheit, des Widerstands und Kampfs weiter zurück.
Die historischen Vorbilder wie Emiliano Zapata, die Guadalupe und Che Guevara transformierten zu gegenwärtigen Zapatisten, und Kopien der klassischen Wandmalerei kamen nicht mehr vor. Es fand eine Transformation der Symbole statt. Die ikonografische Symbolfigur der Guadalupe avancierte zu einer Zapatistin mit der Waffe in der Hand, die nur durch das Insignum des Strahlenkranzes auf ihr historisches Vorbild verweist. Sie ist eine durchaus gegenwärtige Zapatistin, die ihr Gewehr in einer defensiven Haltung positioniert. Ebenso verhält es sich mit dem Zapatisten in Gestalt des Emiliano Zapata neben ihr, der sein Gewehr waagerecht vor seinen Körper hält und Selbstverteidigung assoziiert. Die Kinder mit der mexikanischen Fahne in den Händen zwischen den beiden verweisen auf das zapatistische Anliegen, Teil von Mexiko zu sein, und unterstützen den zapatistischen Slogan „Nie wieder ein Mexiko ohne uns“.
In den neueren Wandbildern überwiegen Themen der Hoffnung und des Optimismus wie das Lernen, eine glückliche Kindheit, die geachtete Rolle der Frauen und ein harmonisches Zusammenleben mit der Natur. Auch tauchen nunmehr typische indigene Symbole auf, die mit dem zapatistischen Widerstand verbunden werden. Eines der wichtigsten Sinnbilder ist der Mais, der ebenso für die Identität der Maya-Indigenen als Maismenschen steht, die aus Maisbrei und Götterblut von den Göttern geschaffen wurden, wie auch ihre Ernährungsgrundlage ist. Auf den Bildern werden Pasamontañas aus Maiskörnern gewebt, und die Maiskörner erscheinen als Köpfe verschiedenfarbiger Zapatisten, die kulturelle Diversität verkörpern. Ein weiteres wichtiges Symbol ist die Schnecke, die das langsame, aber stetige Fortschreiten der Zapatisten darstellt.
Die Performativität der Bilder basiert auf dem direkten Weg von Affekten, Emotionen und der Sinnproduktion über die partizipative Malerei der zapatistischen Gemeinden. Je sicherer sich die Zapatisten innerhalb ihrer autonomen Räume fühlen und je bewusster das „Eigene“ gefunden und definiert werden kann, umso mehr transformieren Affekte der Angst in Glück und Emotionen der Wut und Abwehr in Stolz über das Erreichte.