„Eberts Blutweihnacht“
Der unheilige Abend der Novemberrevolution
Die Aufnahme hält eine dramatische Szene fest: Angehörige der Volksmarinedivision erwidern am Morgen des 24. Dezember 1918 das von Regierungstruppen auf sie gerichtete Artilleriefeuer, das eben ihre Verteidigungsstellung im Pfeilersaal des Berliner Schlosses getroffen hat; sechs Mann richten in fieberhafter Eile die durcheinandergeworfenen Maschinengewehre neu aus, ohne einen Blick für den tot vor ihnen liegenden Kameraden übrig zu haben; ein weiterer Matrose spurtet mit einer Munitionskiste über den von Glassplittern und Mobiliartrümmern übersäten Teppich, um Nachschub an die Frontlinie zu bringen.
Die fotografisch dokumentierte Szene hält das bewaffnete Vorgehen der sozialistischen Revolutionsregierung gegen ihre eigene Revolutionsgarde fest, die Anfang November 1918 von den norddeutschen Küsten aus den Aufstandsfunken in das Reich getragen und die morschen Pfeiler der Monarchie zerbrochen hatte. Der blutige Weihnachtskonflikt in der Mitte Berlins, der sich zwischen der friedlichen Proklamation der Deutschen Republik durch Philipp Scheidemann am 9. November 1918 und der Niederschlagung der sich radikalisierenden Revolutionsbewegung durch die von Gustav Noske befehligten Freikorpstruppen Anfang 1919 abspielte, stellt einen vergessenen Moment der deutschen Geschichte dar. Aber es gibt gute Gründe, den 24. Dezember 1918 für den eigentlichen Schicksalstag der deutschen Revolution zu halten.
Wie überhaupt in der wunderlichen deutschen Revolution klafften auch hier nichtige Umstände und tiefgreifende Folgen des Geschehens weit auseinander. In seinem Mittelpunkt standen abermals die meuternden Matrosen, die Ende Oktober und Anfang November 1918 in Wilhelmshaven und Kiel das Signal zur Empörung gegen den sinnlos gewordenen Krieg gegeben hatten. Einige Dutzend von ihnen waren mit der revolutionären Welle nach Berlin gelangt, und für einige Wochen schien es, als würden die meuternden Matrosen, die Deutschlands weitere Kriegsführung unterbunden hatten, nun auch zum militärischen Garanten der neuen Ordnung werden. Denn der Versuch der Regierung war gescheitert, aus den in Berlin stationierten und sich rasch auflösenden Ersatzregimentern eine Sicherheitstruppe zum Schutz des Regierungsviertels zu bilden.
Am 13. November empfing der bei Ausbruch des Marineaufstandes nach Kiel geeilte und dort zum Gouverneur ernannte Gustav Noske die dringende Bitte des Berliner Stadtkommandanten Otto Wels, „die Absendung von 2000 zuverlässigen Matrosen nach Berlin möglichst umgehend in die Wege zu leiten“. Zwar scheiterte das Unternehmen am stockenden Eisenbahnverkehr; dafür aber gelang es, in Cuxhaven unter den dort stationierten Matrosen eine schlagkräftige Revolutionsgarde zusammenzustellen. Mit knapp 1000 Mann, die während der langwierigen Eisenbahnfahrt von Abteil zu Abteil politisch instruiert wurden, traf die Truppe Mitte November nächtens auf dem Lehrter Bahnhof in Berlin ein und musste feststellen, dass weder Unterkunft noch Verpflegung bereitstand. Kurzerhand quartierte sich die als Stolz der Revolution mobilisierte und als unerwünschtes Ärgernis empfangene Truppe eigenmächtig im Marstall gegenüber dem Stadtschloss ein, der allein genügend Strohlager für die hungrigen und blaugefrorenen Revolutionsgardisten bot. Dort lagerten bereits eine Reihe Kieler Kameraden, die sich in Kompaniestärke dem Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn unterstellt hatten.
Zusammen bildeten sie fortan die selbstbewusste Volksmatrosen- oder Volksmarinedivision, die nach dem Marstall auch das Berliner Stadtschloss okkupierte und so physisch wie symbolisch den bewaffneten Arm der siegreichen Novemberrevolution repräsentierte. Doch statt das herrschende Machtvakuum zu füllen, das das zusammengebrochene Kaiserreich hinterlassen hatte, und sich zu einem republikanischen Bollwerk gegen alle gegenrevolutionären Putschpläne zu entwickeln, sank die „erste Rote Garde der deutschen Revolution“, wie sie in der kommunistischen Parteipresse später wehmütig besungen wurde, in den folgenden Wochen zu einer marodierenden Söldnertruppe ohne politische Aufgabe herab, deren einzige Leistung darin bestand, den Ruf der Revolution besonders in Kreisen des Berliner Bürgertums nachhaltig zu schädigen.
Erschüttert durchwanderte am 18. November der aus seiner Aufgabe gerissene Hofbibliothekar Bogdan Krieger durch die Gemächer des verwüsteten Schlosses, auf dem nun die rote Fahne wehte, und sah in wehmütiger Bitternis auf eine Welt, in der das Unterste zuoberst gekehrt war: „In den Räumen, die sonst mit peinlicher Sauberkeit gepflegt wurden, hielten sich jetzt die qualmenden, ihre Zigarettenenden auf den Boden werfenden, umherspuckenden, sich bewußt roh gebärdenden Matrosen auf.“[1] Die von ihnen geschützte neue Ordnung präsentierte sich Krieger als zügellose Unordnung eines in „Dieberei und Zuchtlosigkeit“ schwelgenden Soldatenmobs: „Die Schränke waren sämtlich erbrochen. In wirrem Durcheinander lagen Staatskleider, Teile von Reit- und Jagdkostümen, Unterkleider, Uniformstücke, Hüte, Schuhe und Stiefel, vielfach unpaarig, auf dem Fußboden oder hingen in den durchwühlten, offenstehenden Schränken. Vieles war gestohlen.“[2]
In den staatlichen Behörden wie in der Berliner Bevölkerung registrierte man die anarchischen Zustände mit wachsender Empörung und Feindseligkeit. „Jeden Tag ist auf den Straßen Berlins etwas Neues los; aber das Reich geht dabei zum Teufel“, notierte der Diplomat und Publizist Harry Graf Kessler am 22. Dezember 1918 in seinem Tagebuch und fand, dass dank der zwischenzeitlich von der Front zurückgekehrten Truppen die Zeit „reif für eine große Entscheidung“ wäre: „Wenn die Regierung Energie hat, wird sie sie benutzen, um die ganz radikalisierte Matrosendivision aus Berlin hinauszubringen; wenn nötig mit Gewalt.“[3]
Er ahnte nicht, wie hellsichtig seine Einschätzung war. Als Stadtkommandant Wels sich am nächsten Tag weigerte, den Matrosen ihren zum Löhnungstag fälligen Sold zu zahlen, bevor sie nicht das Schloss geräumt hätten, besetzten die aufgebrachten Männer am 23. Dezember erst die Reichskanzlei und dann die Stadtkommandantur samt ihrer Telefonzentralen, um die Herausgabe der zugesagten Gelder zu erzwingen. Die Situation eskalierte, nachdem es Wels in einem unbewachten Moment gelungen war, den gegenüber in der Universität residierenden Generalkommandeur der zurückgekehrten Fronttruppen zu alarmieren. Unter den Linden fielen Schüsse, drei Matrosen lagen tot auf der Straße; ihre erbitterten Kameraden nahmen Wels zur Geisel und schleppten ihn unter Lynchdrohungen in den Marstall, wo er in die Wachtstube gesperrt und unter der ständigen Drohung, noch vor Tagesanbruch erhängt zu werden, testamentarisch über seine Barschaft verfügte und einen Abschiedsbrief an seine Frau verfasste.
Als die in der Reichskanzlei versammelten SPD-Mitglieder im Rat der Volksbeauftragten von der verzweifelten Lage ihres Parteifreundes erfuhren, erteilte Friedrich Ebert über eine – nicht über die besetzte Telefonzentrale laufende – Direktleitung dem preußischen Kriegsminister Scheüch Weisung, „das Erforderliche zu veranlassen, um Wels mit zu befreien“. Scheüch wiederum trat noch in der Nacht den Oberbefehl an den Berliner Generalkommandeur ab. Damit gab die bedrängte Regierung sich in die Hand eben der Ordnungsmacht, die sie sieben Wochen vorher friedlich überwunden hatte. „Ebert bittet O.H.L. um Hilfe“, vermerkte deren Generalquartiermeister Wilhelm Groener befriedigt in seinem Tagebuch. Noch in der Nacht rückten 1200 Infanteristen der in Potsdam und Babelsberg liegenden Gardedivisionen mit Maschinengewehren und Feldbatterien heran, um im Dunkel der Nacht Schloss und Marstall zu umstellen und einen Angriff vorzubereiten – das Leben des Stadtkommandanten spielte bei diesem martialischen Aufmarsch, der sich als Beginn einer großangelegten Säuberungsaktion zur Schaffung von Ruhe und Ordnung verstand, die allergeringste Rolle.
Doch das Wunder geschah: Der Angriff auf die Revolution im Auftrag der Revolutionsregierung schlug fehl. Die um acht Uhr nach der Ablehnung eines auf zehn Minuten befristeten Ultimatums losbrechende Kanonade ließ Granate um Granate in das rasch verwüstete Schloss und den Marstall einschlagen. Sie zerstörte den Balkon, von dem aus Kaiser Wilhelm II. im August 1914 zum Krieg aufgerufen hatte, und sie brachte die eingeschlossenen Matrosen rasch in eine verzweifelte Lage. Durch die freigeschossenen Portale konnten ein- und zweihundert Mann starke Sturmtrupps der Garde-Ulanen mit Handgranaten ohne Verluste in die Innenhöfe vorstoßen.
Aber von der Straße nahte unvermutete Rettung. In ihren Wohnvierteln und Betrieben alarmiert, drängten seit neun Uhr mehr und mehr Zivilisten, darunter Frauen und Kinder, zum Schauplatz des Geschehens – und ihr Auftauchen wendete das Blatt. Um zehn Uhr wurde eine Kampfpause vereinbart, um Verwundete, Frauen und Kinder aus dem Schussfeld zu bringen. Bei der Wiederaufnahme der Kampfhandlungen begann die Moral der Regierungssoldaten zu sinken. Gefangene Matrosen wurden von Arbeitern befreit, abseitsstehende Soldatenabteilungen entwaffnet; erst einzelne, dann immer mehr von ihnen legten das Gewehr nieder oder gingen zu den Matrosen über. Der Ruf „Brüder, nicht schießen“ pflanzte sich fort, und als der Heilige Abend anbrach, war die Volksmarinedivision unvermutet Herrin der Lage. Die Regierungstruppen zerstreuten sich, um Weihnachten zu feiern, den Matrosen wurde die Löhnung ausbezahlt, Wels war wieder in Freiheit.
„Eberts Blutweihnacht“ titelte die „Rote Fahne“[4] am nächsten Tag in klagendem Ton, aber niemand nahm das Heft des Handelns in die Hand. Die historische Sekunde verstrich ungenutzt, in der die revolutionäre Bewegung ein letztes Mal über die militärische Gewalt triumphierte. Sie schwächte sich mit dem Austritt der Linkssozialisten von der USPD aus dem Rat der Volksbeauftragten in den nächsten Tagen selbst, während die Oberste Heeresleitung ihre eigenen Schlüsse zog und die Aufstellung von Freikorps statt der unzuverlässigen Feldsoldaten in Angriff nahm. Als Anfang Januar 1919 neuerliche Unruhen ausbrachen, standen entschlossenere Truppen bereit, um die republikanische Ordnung militärisch für den Augenblick zu stabilisieren – und mit der Hypothek einer erstickten Gründungsrevolution politisch langfristig zu belasten.
[1] „Die sonst mit schweren Teppichen belegte Treppe, deren Seitenwände mit Hohenzollernporträts und Bildern aus der preußischen Geschichte geschmückt sind, war unbeschreiblich schmutzig und von den benagelten Soldatenstiefeln arg mitgenommen; Marmorstücke waren herausgeschlagen.“ Dr. Bogdan Krieger, Das Berliner Schloß in den Revolutionstagen 1918, Leipzig 1922, S. 20f.
[2] Ebd., S. 23.
[3] Hier zitiert nach: Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, hg. v. Wolfgang Pfeiffer-Belli, Berlin 1967: in: Gutenber-DE, Kapitel 1: 1918, online unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/tagebucher-1918-1937-4378/1.
[4] Siehe die digitalisierte Ausgabe der „Roten Fahne“ vom 25.12.2018, online unter https://www.hausderpressefreiheit.de/Home/Deutsche-Geschichte-im-Spiegel-der-Presse/Zeitstrahl/1914-1918/1918/Die-Rote-Fahne-25.12-%E2%80%9EEberts-Blutweihnacht%E2%80%9C.html.
Zitation
Martin Sabrow, „Eberts Blutweihnacht“. Der unheilige Abend der Novemberrevolution, in: Visual History, 24.12.2018, https://www.visual-history.de/2018/12/24/eberts-blutweihnacht/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1322
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