Nahaufnahme Wolfsburg 1962
Die Darstellung italienischer Arbeitsmigranten in Benno Wundshammers „Quick“-Fotoreportage
Violetta Rudolf im Interview mit Alexander Kraus
Alexander Kraus: Wie kommt es, dass die Redaktion der „Quick“, damals eine der auflagenstärksten deutschsprachigen Illustrierten, ihren Fotojournalisten Benno Wundshammer im Frühjahr 1962, nur wenige Wochen nachdem die ersten italienischen Arbeitsmigranten ihre Arbeit bei der Volkswagenwerk AG aufgenommen hatten, nach Wolfsburg schickten, um eine Reportage über diese zu erarbeiten? War das Thema als solches so kurios, die Neugierde des Lesepublikums so groß?
Violetta Rudolf: Es war weniger die Kuriosität des Themas als vielmehr die Aktualität und die überregionale Bedeutung, die es interessant machten: Die italienischen Arbeitsmigranten, die seit Januar 1962 nach Wolfsburg kamen, waren Teil einer großen Migrationsbewegung, die sich seit Mitte der 1950er Jahre durch die Anwerbung sogenannter Gastarbeiter in Bewegung gesetzt hatte. Die Begründung für die Anwerbung von Arbeitskräften aus anderen Ländern lag in der florierenden deutschen Wirtschaft bei gleichzeitigem Mangel an Arbeitskräften. Das erste Anwerbeabkommen hatte die Bundesregierung unter Adenauer bereits im Dezember 1955 mit Italien geschlossen. Es folgten Verträge mit Spanien, Griechenland, der Türkei, Marokko, Portugal, Tunesien und Jugoslawien.
Der Plan, der hinter den Anwerbeabkommen steckte, zeichnet sich schon in dem zeitgenössischen Wort „Gastarbeiter“ ab: Geplant war, Arbeiter ins Land zu holen und von ihrer Arbeitskraft zu profitieren. Nach kurzer Arbeitszeit in Deutschland sollten die Menschen in ihre Heimatländer zurückkehren. Wie bekannt ist, gingen diese Überlegungen nicht auf. Viele der Gast-Arbeiter schlugen Wurzeln in Deutschland und holten ihre Familien nach.
Ein interessanter Befund meiner Untersuchungen zu fotografischen Identitätskonstruktionen ist, dass die Anzahl der Artikel in den Illustrierten über die sogenannten Gastarbeiter in den 1960er Jahren und demnach in der Zeit, in der ihr Beitrag zur deutschen Wirtschaftskraft im Vordergrund stand, nicht besonders hoch ist. Erst als die Arbeitsmigranten durch ihr Bleiben innenpolitisch zu einem „Problem“ wurden, stieg die Anzahl der Artikel deutlich. Das trifft übrigens besonders auf die türkischen Arbeitsmigranten und den Familiennachzug in den 1970er Jahren zu.
Ich möchte noch einmal auf Wolfsburg zurückkommen und auf die Frage, warum Benno Wundshammer gerade in diese Stadt fuhr, um eine Reportage über die italienischen „Gastarbeiter“ zu schreiben: Auch die Verantwortlichen bei Volkswagen gingen davon aus, dass die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte eine Übergangslösung sei. Sie ließen zweigeschossige Holzhäuser für die Arbeiter bauen, Unterkünfte, die schnell und billig gefertigt werden konnten. Im Januar 1962 kamen die ersten 100 italienischen Arbeiter. Bereits zehn Monate später lebten knapp 4000 Italiener in 48 Holzhäusern in der Unterkunft „Berliner Brücke“. Wolfsburg war auch überregional gerade wegen dieses sogenannten Italienerdorfes ein gern genommenes Beispiel. Die Interpretationen und Darstellungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der „Gastarbeiter“ in Wolfsburg oszillierten zwischen „Vorzeigeprojekt“ und „menschenunwürdigem Barackenlager“.[1]
Für die Wolfsburger Bevölkerung bedeutete es, dass binnen weniger Monate viele ihnen unbekannte Menschen im Stadtbild auftauchten. Die Arbeitsmigranten wurden zu einem Thema in Wolfsburg, was sich auch in den lokalen Nachrichten widerspiegelte. Wer waren diese Menschen? Wie verhielten sie sich? Wie lebten sie?
Alexander Kraus: Das Zusammenspiel von Bild, Bildunterschriften und Text in Benno Wundshammers Reportage „Brauchen wir denn wirklich diese Italiener?“ ist in mehrerlei Hinsicht ein besonderes. Ist schon die eigenwillige Diktion des Textes, der aus zahlreichen Aussagen Wolfsburger Bürgerinnen und Bürger collagiert ist, für eine Reportage mehr als nur ungewöhnlich, scheinen die begleitenden Fotografien ein Eigenleben zu führen. Mal sind sie sehr nah am Text, scheinen diesen zu illustrieren, mal kontrastieren sie ihn oder treten gar in Widerspruch zu ihm. Wie erklärst Du Dir das und kannst Du das anhand einzelner Beispiele einmal exemplifizieren?
Violetta Rudolf: An dem Beitrag von Benno Wundshammer kann man wunderbar aufzeigen, dass eine Reportage mit unterschiedlichen Kommunikationsebenen spielt, die mitunter miteinander agieren, im Wettstreit liegen oder bewusst unterschiedliche Informationen transportieren. Meist sind es der Titel (hier als provokative Frage formuliert), die visuelle Ebene der Fotografien, die Bildunterschriften und der Text selbst. Über diese vier Elemente lassen sich unterschiedliche Geschichten erzählen, können konträre Positionen aufgegriffen werden, die verschiedenen Ebenen zu Wort kommen; man kann darüber hinaus mit Bildunterschriften Fotografien Bedeutungen zuschreiben, Konnotationen hinzufügen und Bildinterpretationen initiieren, die sonst vielleicht nicht so naheliegend wären.
Bei diesen vier Ebenen ist ein Gefälle in der ihnen zukommenden Aufmerksamkeit zu beobachten: Der Titel und die Bilder springen die Leserschaft geradezu an, es handelt sich um sehr starke Kommunikationswege. Die Bildunterschriften können neue Informationen und Bedeutungszusammenhänge, vielleicht Interpretationen liefern. Der Text gibt die Hintergrundstory hinzu, das verbindende Szenario. Interessant ist, dass jede dieser Ebenen für sich alleine funktionieren muss und sie zugleich miteinander ein Ganzes ergeben.
Für das Initiieren einer Bildinterpretation gibt es gleich in der Vorschau auf die Reportage ein schönes Beispiel. Die Vorschau befindet sich im Inhaltsverzeichnis und besteht aus einem kleinen rechteckigen Foto und einem kurzen Text (Abb. 2). Die Fotografie zeigt vier Italiener, die sich mit lachenden, interessierten Gesichtern einer (deutschen?) Frau zuwenden. Der Text darunter lautet:
„‚Italienische Gastarbeiter belästigen unsere Frauen und können sich auch sonst nicht benehmen‘ – so heißt es oft. Warum haben wir sie überhaupt geholt? QUICK-Redakteur Benno Wundshammer ging der Frage nach: Brauchen wir denn wirklich diese Italiener?“
Allein diese Bild-Text-Kombination ist hochinteressant. Auf dem Foto ist keine Belästigungssituation zu erkennen, die Gesichtsausdrücke aller Personen sind freundlich positiv. Es fällt aber auf, dass rein numerisch ein Ungleichgewicht dargestellt wird: Vier Italiener wenden sich einer Frau zu. Schaut man sich an, wie auf der Fotografie die Körper zueinanderstehen, so lässt sich die Körpersprache der Frau als zurückhaltend interpretieren. Sie hält etwas in der Hand, schaut freundlich und wendet ihr Gesicht aber etwas von dem Mann ab, der neben ihr steht und mit ihr spricht. Die drei Männer gegenüber beobachten einerseits mit etwas Abstand die Situation, andererseits zeigen sie durch ihre lachenden Gesichter und ihre zugewandte Körperhaltung, dass sie zu dem Szenario gehören. Einer lehnt lässig an einer Wand und raucht eine Zigarette, dennoch beobachtet er die Situation aufmerksam. Trotz der freundlichen und unaufgeregten Gesichter erinnert das Szenario daran, dass ein Anführer einer Gruppe mit der Frau redet und die anderen abwarten, aber aktionsbereit im Hintergrund stehen. Die Bildunterschrift macht aus der harmlosen Situation eine potentiell „gefährliche“. Sie initiiert die Lesart des Bildes: Eine Gruppe von Italienern belästigt eine (deutsche?) Frau. Die Vorschau gibt eine Richtung vor, wohin es in der Reportage gehen soll.
Die eigentliche Reportage Wundshammers erstreckt sich über zwei ganze und eine halbe Doppelseite. Der Titel „Brauchen wir denn wirklich diese Italiener?“ steht fettgedruckt neben einer groß aufgezogenen Fotografie (Abb. 3). Diese zeigt lachende Italiener in Anzügen, die mit Banknoten in die Kamera wedeln. In einer Zeile am Kopfende der Seite wird die Relevanz der Frage betont: „QUICK-Redakteur Benno Wundshammer beantwortet eine Frage, die sich Millionen stellen“. Unter der Frage fasst ein Absatz die „gängigen Meinungen“ beziehungsweise Vorurteile zusammen.
Ich kann an dieser Stelle leider nicht die ganze Reportage analytisch in den Blick nehmen, aber auf jeden Fall ist es spannend, sich anzuschauen, welche Informationen die Reportage auf visueller Ebene vermittelt. Schauen wir uns zuerst die großformatigen Bilder an: Das Motiv mit den Banknoten ist ungewöhnlich, es erinnert eher an eine Situation in einem Casino. Es suggeriert, die Italiener würden durch ihre Arbeit in der Bundesrepublik reich. Auf der zweiten Doppelseite dominieren zwei Bilder, die Wundshammer auf der Wolfsburger Kirmes aufgenommen hat: Sie bilden ab, wie Italiener sich mit blonden (deutschen?) Frauen unterhalten (Abb. 4).
Die letzte Seite der Reportage weist noch eine Fotografie auf, die sogleich ein Eigenleben zu entwickeln scheint (Abb. 5). Ein dunkelhaariger Mann sitzt hinter einem Tisch, auf dem Klappmesser und zwei Gaspistolen ausgebreitet sind. Neben den Waffen ist das Besondere der Blick des Mannes: Er schaut in die rechte Zimmerecke, die außerhalb des Bildes liegt. Der Blick vermittelt den Eindruck, als würde er um sich schauen, vielleicht, als hätte er etwas zu verbergen. In diesem eigentlich ruhigen Foto indiziert der Blick eine Aktion. Auch dieses Motiv ist groß abgedruckt, nimmt im Hochformat die halbe Seite ein. Die groß aufgezogenen Bilder zeigen die Italiener als wohlhabend (sie wedeln mit Geldscheinen), in Gesprächen (Flirts?) mit Frauen und als Waffenbesitzer.
Alexander Kraus: Wundshammer war ja bei Weitem nicht der einzige Journalist, der sich des Themas der italienischen „Gastarbeiter“ in Wolfsburg annahm. Neben den lokalen Reportern und Fotojournalisten wie beispielsweise Eberhard Rohde und Rosemarie Rohde, die umfangreich und bildgewaltig in den „Wolfsburger Nachrichten“ über die Italiener berichteten,[2] brachte beispielsweise auch der „Stern“ im November 1962 unter dem kruden Titel „Nix Amore in Castellupo“ eine Reportage von Niklas von Fritzen.[3] Wie unterscheiden sich die Aufnahmen Wundshammers zu diesen in Zugang und Motivwahl?
Violetta Rudolf: Oh ja, nicht nur der Titel der Reportage ist krude. Der Artikel „Nix Amore in Castellupo“ gestaltet visuell und textlich die Figur des italienischen Casanovas, der den deutschen Frauen nachstellt, sie umwirbt und sie vor allen den deutschen Männern wegnimmt. Foto- und Textebene bilden hierin weitestgehend eine Einheit. Lediglich eine von den sechs Fotografien zeigt eine Arbeitssituation im Werk, an der keine Frau beteiligt ist. Dominierend ist eine großformatige Fotografie von einem Italiener, der lasziv in Hose und Unterhemd auf seinem Bett liegt. Hinter ihm an der Wand befinden sich lauter Fotos von wenig bekleideten Frauen. Ein anderes Motiv aus dem Werk zeigt drei Italiener und zwei Frauen bei der Arbeit. Sie unterhalten sich lachend miteinander. Aber die Bildunterschrift ordnet das Foto in das Narrativ ein: „Italienische Variation zu einem alten Thema: Amore am rollenden Band.“ Man mag es kaum glauben, da auch Wundshammers Artikel stereotype Darstellungen bedient und festigt, aber tatsächlich findet sich darin mehr Variation in den Motiven als in der Reportage von Niklas von Fritzen mit den Bildern von Fred Ihrt.
Ganz anders und an dieser Stelle unbedingt zu erwähnen ist übrigens die lokale Berichterstattung der Wolfsburger Tageszeitungen in dem Jahr. Gerade Rosemarie und Eberhard Rohde erarbeiteten gemeinsam eine Reportage für die „Wolfsburger Nachrichten“, die versuchte, eine Nähe zu den Italienern aufzubauen, die neuen Stadtbewohner den Wolfsburgerinnen und Wolfsburgern vorzustellen. Dafür gingen sie beispielsweise einen Tag in das Italienerdorf und fotografierten, wie die Männer darin lebten. Die Rohdes wollten authentische Bilder zeigen, die das Leben in der Unterkunft Berliner Brücke vorstellten. Gerade die Reportage „Nix amore in Castellupo“ und auch die Benno Wundshammers zeigen Bilder, die stereotypen Vorstellungen folgen und diese wiederum festigen.
Alexander Kraus: Ohne dass es ihnen vielleicht bewusst gewesen ist, schufen Wundshammer und Ihrt, aber auch die Rohdes vor Ort eine visuelle Narration zu den italienischen Arbeitsmigranten in Wolfsburg. Wie wirkmächtig war diese und wie unterschied sie sich zu denen anderer Nationalitäten – der türkischen, portugiesischen oder tunesischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten?
Violetta Rudolf: Die Wirkmächtigkeit solcher Bilder ist in der Tat schwer zu messen. Bilder bleiben im Gedächtnis hängen, prägen oft unbewusst Vorstellungen und Haltungen. Die Einzelbilder setzen sich in unseren inneren Bildern wie eine Collage zusammen, aus der manche Bilder exponiert herausstehen, vielleicht andere überschreiben, manche miteinander verschmelzen. Wenn sich die Illustrierten in regelmäßigen Abständen über die schönen und sexuell aktiven Italiener auslassen, diese eher leicht bekleidet oder in einer Situation gezeigt werden, in der sie vermeintlich deutschen Frauen nachstellen, dann nährt das eine Vorstellung, dann nährt das Vorurteile.
Also für den „Stern“ kann ich sagen, dass die Frage, was italienische Männer besser können als deutsche, deutlich wichtiger war als die Frage, welche Arbeiten diese in den Werken verrichten oder welchen Beitrag sie zur deutschen Wirtschaftskraft oder gar zur Gesellschaft leisten. Die Artikel berichten wenig von familiären Strukturen, nicht von den Männern als Familienvätern. Italienische Frauen sind in den Artikeln selten sichtbar. Das ist zum Beispiel ganz anders in der Darstellung von türkischen Arbeitsmigranten, hier steht oft die Familie im Vordergrund oder auch die Frauen, die mit ihren Kopftüchern anders aussahen.
Was die Langfristigkeit der Wirkweisen solcher Artikel angeht, hilft ein Blick ins Jahr 1971, als in Wolfsburg mehrere Wolfsburger Bürgerinnen die Eröffnung eines Bordells in Wolfsburg forderten,[4] damit die Italiener die deutschen Frauen in Ruhe lassen. Wenn man sich das oben vorgestellte Narrativ des italienischen Casanovas vor Augen führt, so kann man schon einen gewissen Zusammenhang ausmachen und sich auch eine Vorstellung von der Langfristigkeit der Wirkweisen machen. Auf der anderen Seite sind die Italiener durch die türkischen Arbeitsmigranten medial in den 1970er Jahren mehr und mehr in den Hintergrund getreten.
Zu den portugiesischen „Gastarbeitern“ fällt mir gleich Armando Rodrigues de Sá ein, der millionste „Gastarbeiter“, der 1964 auf dem Bahnhof in Köln-Deutz ein Moped geschenkt bekommen hat. Obwohl dieses Bild heute als Ikone der „Gastarbeiter“-Thematik gilt, sagt es nichts über portugiesische Arbeitsmigranten aus. Im Gegenteil, er wird darauf auf einem Moped sitzend inszeniert als der perfekte „Gastarbeiter“, der mitmacht bei dem medialen Spektakel, das er in dem Moment gar nicht durchdringt. Die Fotografie von Horst Ossinger zeigt ihn eigentlich eher als Spielball der Wirtschaft, denn als Individuum mit eigenen Zukunftsplänen.
Alexander Kraus: Wie konkret formten sich diese visuellen Stereotype? Und welche Auswirkungen hatten diese auf das Alltagsleben der italienischen Arbeiter und ihrer Familien in der Volkswagenstadt?
Violetta Rudolf: Die Antwort auf diese Frage klingt bereits in dem an, was wir zuvor besprochen haben. Es gibt bestimmte Erzählungen und Vorstellungen, die wiederum von den Fotografien mit Inhalten gefüllt und dadurch befeuert werden. Als Fotograf und auch als Fotoredakteur hat man ja die Wahl, welche Motive man aus einer Serie aussucht, welche Inhalte man in der Reportage zeigen möchte. Bei Benno Wundshammer besteht die glückliche Ausgangslage, dass etwa 140 Fotografien aus seiner Wolfsburger Bilderserie überliefert sind. Darin finden sich auch andere Motive, zum Beispiel, wie sie gemeinsam in ihrer Unterkunft kochen oder musizieren (Abb. 1).[5] Aber diese Bilder hätten das Narrativ der Reportage nicht bedient.
Zudem lösen Motive auch bestimmte Narrationen aus: wie etwa das Bild des millionsten „Gastarbeiters“, das die Anwerbeabkommen als Erfolgsgeschichte erzählt und zugleich den „Gastarbeiter“ als Spielball der Industrie auf einem Moped inszeniert. Auf das Alltagsleben wirken sich stereotype Darstellungen und Narrative dahingehend aus, dass es eine medial vermittelte Realität ist, mit der sich die Arbeitsmigranten in Form von Vorurteilen immer wieder konfrontiert sahen. Es gab zeitweilig Einlassverbote für Italiener bei einigen Bars, und allein die Forderung nach einem Bordell ist eine Auswirkung, die durchaus mit der medialen Darstellung in Wechselwirkung gestanden hat.
Alexander Kraus: Benno Wundshammer hatte bereits in der Zeit des Nationalsozialismus Karriere gemacht und zählte als Redaktionsmitglied der auflagenstarken NS-Auslandspropagandazeitschrift „Signal“ zur Elite der deutschen Propagandafotografen.[6] Inwieweit unterscheiden sich seine Fotografien der italienischen Arbeitsmigranten im Wolfsburg der 1960er Jahre von seinen Fotostrecken, die er während des Zweiten Weltkrieges von anderen Nationalitäten aufgenommen hat?
Violetta Rudolf: Das ist eine hochinteressante Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist. Ich versuche es einmal und schränke aber zugleich ein, dass Vergleiche mit anderen Nationalitäten schwer anzustellen sind. Aber vielleicht zieht sich ein anderes Element durch die Bildsprache Wundshammers. Zunächst ist es sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, dass Benno Wundshammer, bis er in die Propaganda-Kompanie der Wehrmacht kam, als Sportfotograf gearbeitet hat. Er hat folglich Menschen in Bewegung fotografiert. Seine Bilder haben Aktionen eingefangen, erzählen eine Handlung. Zudem kommt noch eine Anweisung aus der Propaganda-Kompanie hinzu, die die Fotografen bei einem Bildbericht zu berücksichtigen hatten: „Es muss dabei unbedingt beachtet werden, dass Hauptbedingung eines Bildberichts die Lebendigkeit ist. Gestellt wirkende und ‚tote‘ Aufnahmen zerstören die publizistische Wirkung des Bildberichts.“[7]
Schaut man sich Wundshammers Bilder an, so steckt eine Dynamik in ihnen. Er zeigt auch in Wolfsburg die Italiener mit Bildern, die Bewegung vermitteln, Situationen, die eine Handlung indizieren. Seine Bilder zeichnen sich durch eine Lebendigkeit aus. Man denke nur an das Bild von dem Italiener, der vor der Waffensammlung sitzt. Der Blick bringt Bewegung rein, löst Assoziationen aus, erzählt eine Geschichte. Darüber hinaus hat Wundshammer in seiner Zeit in der Propaganda-Kompanie nicht nur heroische Kriegshandlungen für die Nazis abgelichtet, sondern auch die Rote Armee und deren Politoffiziere negativ und mit antisemitischen Stereotypen dargestellt.[8] Das heißt, Wundshammer hatte durchaus Übung darin, Menschen in einer bestimmten Art und Weise fotografisch einzufangen, die stereotype Vorstellungen und Haltungen nährte. Interessant sind auch personelle Kontinuitäten aus dem Nationalsozialismus.
Für Wundshammer verlief die Nachkriegskarriere außerordentlich positiv. Er zählte zunächst als Reporter, dann in seiner Funktion als Chefredakteur der „Revue“ jahrelang zu den bekanntesten und angesehensten Pressefotografen.[9] Bei der „Quick“ arbeiteten auch Hanns Hubmann und Hilmar Pabel, ebenfalls bekannte Propaganda-Fotografen. So haben sich sicherlich auch bildsprachliche Ansprüche an Fotografien und Fotoreportagen fortgesetzt.
Alexander Kraus: Was sind die spezifischen Herausforderungen bei der Bildanalyse, wenn man sich geschichtswissenschaftlich mit der bildlichen Darstellung von Migranten beschäftigt?
Violetta Rudolf: Wenn man sich wie ich in meiner Dissertation analytisch mit der Darstellung von Minderheiten aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft beschäftigt, so hat man es leider sehr oft mit stereotypen und diskriminierenden Bildinhalten zu tun. Da stellt sich zum einen die Frage, wie gehe ich damit um, dass ich durch die Beschäftigung und vor allem das Wiederzeigen von Bildern Gefahr laufe, Stereotype zu reproduzieren. Welche Bilder kann ich zeigen, welche nicht? Ich versuche, mit dieser Problematik reflektiert umzugehen, einerseits mich selbst zu hinterfragen, andererseits durch eine sorgfältige und breit angelegte Analyse stereotype Darstellungen aufzudecken, zu dekonstruieren. Zum Beispiel dadurch, dass ich die Bilder nicht aus dem Zusammenhang reiße, sondern versuche, sie in ihren vielschichtigen Kontexten als Quellen zu begreifen und die unterschiedlichen Akteure zu beleuchten, die beispielsweise an der Entstehung, aber auch an Auswahlprozessen und der Distribution der Bilder beteiligt waren.
Andere, grundsätzliche Herausforderungen bei einer Bildanalyse, die das Bild im Sinne einer Visual History als Quelle auffasst, stellt die Recherche der Hintergrundinformationen dar: Wer hat das Bild wann aus welchen Motiven wo aufgenommen? Wer oder was ist darauf zu sehen? Wie ist der historische Hintergrund zu der Fotografie? Wurde die Fotografie veröffentlicht, wenn ja, in welchen Kontexten, wer war an den Auswahlprozessen und der Verbreitung beteiligt? Das ist nur ein kleines Bündel an Fragen, die man sich bei der historischen Arbeit mit Fotografien stellen kann.
Violetta Rudolf studierte Geschichte, Germanistik und Public History in Bremen, Berlin und Warschau. Zurzeit promoviert sie an der Humboldt-Universität zu Berlin zum Thema „Fremde Bilder. Fotografische Identitätskonstruktionen von ‚(Spät-)Aussiedler*innen‘ und ‚Gastarbeiter*innen‘ in ‚Der Spiegel‘ und ‚Stern‘ 1950-1998“ und ist assoziierte Doktorandin am Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sie ist Geschäftsführerin der Public History-Agentur „past[at]present“.
Dr. Alexander Kraus ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte und Stadtpräsentation (Wolfsburg). Er forscht zur Nachkriegsgeschichte Wolfsburgs, Zeitgeschichte der frühen Bundesrepublik, Fotografiegeschichte im 20. Jahrhundert und Praxeologie der Geschichtswissenschaft.
31. August bis 1. Dezember 2019
Städtische Galerie Wolfsburg
Schlossstraße 8, 38448 Wolfsburg
Der Eintritt ist frei.
Dieser Beitrag ist ein Nachdruck; die Originalveröffentlichung findet sich in: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Nr. 14, August 2019, S. 1-4, online unter https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs-neu/izs-aktuelles/das-archiv. Wir danken Alexander Kraus für die Genehmigung.
[1] Ausführlichere Informationen zu den Lebensbedingungen in der Unterkunft Berliner Brücke finden sich bei: Anne von Oswald/Barbara Schmidt, „Nach Schichtende sind sie immer in ihr Lager zurückgekehrt …‘ Leben in „Gastarbeiter“-Unterkünften in den sechziger und siebziger Jahren, in: Jan Motte/Rainer Ohliger/Anne von Oswald (Hg.), 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt a.M. 1999, S. 184-214.
[2] Siehe dazu Violetta Rudolf, „Wir kommen jetzt in die Zeitung!“ Auf fotografischen Spuren italienischer „Gastarbeiter“ in der Wolfsburger Tagespresse 1962, in: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Jg. 3 (November 2018), Nr. 11, S. 1-5, online abrufbar unter https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs-neu/izs-aktuelles/das-archiv.
[3] Niklas von Fritzen, Nix Amore in Castellupo? Castellupo – so übersetzen italienische Gastarbeiter Wolfsburg, in: Stern, Jg. 15 (1962), Nr. 44, 4. November 1962, S. 10-13, 162f.
[4] Hildburg Neitsch und 15 weitere Frauen, „Der Leser schreibt: Belästigungen müssen aufhören“, in: Wolfsburger Nachrichten vom 12. Mai 1971, S. 23.
[5] Siehe dazu die Abbildungen im Interview „Zwischen Dokumentation und Inszenierung. Italienische ‚Gastarbeiter‘ in Wolfsburg durch die Linse des Fotografen Benno Wundshammer. Ivano Polastri im Gespräch mit Dora Balistreri und Alexander Kraus“, in: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Jg. 4 (August 2019), Nr. 14, S. 13-18, online abrufbar unter https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs-neu/izs-aktuelles/das-archiv.
[6] Siehe zu Wundshammers Biografie den Beitrag von Sebastian Kindler, Benno Wundshammer. Eine fotografische Karriere in wechselnden politischen Systemen, in: Das Archiv. Zeitung für Wolfsburger Stadtgeschichte, Jg. 4 (August 2019), Nr. 14, S. 11-13, online abrufbar unter https://www.wolfsburg.de/kultur/geschichte/izs-neu/izs-aktuelles/das-archiv.
[7] Zitat aus Bundesarchiv-Militärarchiv, RW 4/288, zit. nach: Alexander Zöller, Die Leica als Waffe. Die Bildberichter der deutschen Propagandakompanien im Zweiten Weltkrieg, in: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst (Hg.), Propaganda-Fotograf im Zweiten Weltkrieg: Benno Wundshammer, Berlin 2014, S. 16-31, hier S. 25.
[8] Sebastian Kindler, Benno Wundshammer. Vom Sportreporter zum Propagandafotografen der Wehrmacht, in: Deutsch-Russisches Museum Berlin-Karlshorst, Propaganda-Fotograf, S. 32-49, hier S. 44.
[9] Ebd., S. 48.