Die erste antisemitische Karikatur?
Die älteste bekannte antijüdische Karikatur ist eine Zeichnung – eigentlich ein detailliertes Gekritzel – am oberen Rand eines königlichen englischen Steuerprotokolls von 1233.[1] Sie zeigt drei merkwürdig aussehende Juden, die sich in einem schematisch dargestellten Schloss befinden, das von einer Gruppe karikaturesker, gehörnter Dämonen mit schnabelartigen Nasen angegriffen wird. Ein weiterer größerer Dämon in der Mitte des Schlosses zeigt auf die sonderbar langen Nasen zweier Juden, als ob er die Ähnlichkeit zwischen ihren Profilen und seinem eigenen betonen wollte.
Diese kleine Kritzelei ist so etwas wie eine Celebrity unter Historiker*innen. Sie hat ihre eigene pädagogische Website des britischen Nationalarchivs (https://www.nationalarchives.gov.uk/education/resources/medieval-mystery/), sie erscheint auf mehreren Buchtiteln und gilt als ein Meilenstein in der Geschichte des Antisemitismus. Sie ist ein grafischer Beleg dafür, dass sich im 13. Jahrhundert das wirtschaftlich begründete Ressentiment mit dem religiösen Eifer vereinte und so eine neue, bösartige, sogar „rassische“ Form des Judenhasses entstand. In den Hinweisen für Lehrer auf der pädagogischen Website des Nationalarchivs kommt ein allgemeines Verständnis zum Ausdruck: „Diese Lektion eignet sich für die Geschichtseinheit: ‚Wie und warum geschah der Holocaust?‘“[2]
Es gibt jedoch Gründe, diese Lesart der Karikatur zu überdenken. Sie ist zu stark vom langen Nachleben der antijüdischen Bilder beeinflusst, die sich hier den Weg bahnten. Betrachtet man die Zeichnung durch die Brille der Rückschau, übersieht man ihre intensive zeitgenössische Aktualität. Ich halte es für falsch, in dieser Karikatur nur oder in erster Linie eine Anklage gegen jüdische Gier und jüdischen Unglauben zu sehen. Sie ist in erster Linie und vor allem eine politische Satire.
Um den politischen Inhalt der Karikatur zu analysieren und zu verstehen, welche Rolle Juden darin spielen, müssen wir jeden Aspekt des Bildes sorgfältig untersuchen. Wir wissen, dass die drei menschlichen Figuren Juden sind, weil sie praktischerweise schriftlich als solche gekennzeichnet sind. Der merkwürdig dreigesichtige, gekrönte Mann in der Skizze mittig, oben, über den anderen aufscheinend, ist Isaak von Norwich. Seine Figur ist historisch ziemlich gut dokumentiert: ein prominenter jüdischer Händler, Geldverleiher, Rabbiner und Arzt, der in Norwich und London lebte. Der Künstler wollte, indem er Isaak drei Gesichter gab, ihn anscheinend mit dem Antichristen gleichsetzen, dem legendären Bösen, dessen Erscheinen am Ende der Zeit die Wiederkunft Christi einläuten würde. Dieser wurde in den zeitgenössischen Manuskripten als dreigesichtige, gekrönte Figur dargestellt.
Der Mann mit dem gehörnten Hut, links von Issak, ist „Mosse Mokke“. Auch er war ein im Geldhandel von Norwich tätiger Jude. Zweimal diente er als Eintreiber der Steuern der Juden für den König, einmal wurde er von Isaak angestellt, einen säumigen Schuldner zu verprügeln.
Wir können die elegant gekleidete Frau, die als „Avegaye“ (Abigail) gekennzeichnet ist, nicht mit Sicherheit identifizieren. Vermutlich war auch sie eine reale, identifizierbare Person. Mehrere jüdische Frauen namens Avegaye sind in den zeitgenössischen Dokumenten bezeugt. Darüber hinaus gibt es eine vierte, unbenannte, menschliche Figur am linken Bildrand.
Wissenschaftler*innen sind sich einig, dass es sich bei diesem Mann um einen weiteren jüdischen Geldverleiher handelt. Seine Gegenwart erklärt angeblich die Bedeutung der Karikatur. Nach Frank Felsenstein, der in seinem Buch „Anti-Semitic Stereotypes“ die Karikatur am ausführlichsten und auch ziemlich repräsentativ analysiert hat, „hält er eine Waage mit Münzen hoch und verkörpert so die Rolle der Wucherer, mit der Juden im Mittelalter assoziiert wurden. [… Es ist] klar, dass Juden als Agenten der Hölle angesehen wurden, die sowohl gefürchtet als auch verleumdet wurden. Isaak scheint über diese dämonische Welt zu herrschen, vielleicht um sich der Rolle Heinrich III. zu bemächtigen [dessen Lilienkrone er trägt].“[3]
Tatsächlich sind diese Skalierungen der Schlüssel zum Geheimnis. Geht es wirklich um das Übel des Geldverleihs? Erinnern wir uns daran, dass die Karikatur nicht in einer religiösen Polemik oder in einem theologischen Traktat erscheint, sondern auf dem Kopf einer königlichen Steuerrolle. Das ist nicht der Ort, an dem man eine Polemik gegen Wucherzinsen erwartet. Auch wenn christliche Moralisten in der Tat gegen den verzinsten Geldverleih wetterten, scheint es unwahrscheinlich, dass ein Beamter im Schatzkammergericht für Juden – die einzige Person, die in der Position war, diese kleine Zeichnung zu fertigen – ihre Empörung teilen würde. Sein Büro, dessen Aufgabe darin bestand, die erheblichen königlichen Einnahmen aus der Besteuerung von Juden zu überwachen, existierte allein aufgrund des jüdischen Geldverleihs. Mehr noch: Viele königliche Beamte besserten selbst ihr Einkommen durch verzinsten Bargeldverleih auf.
Der Karikaturist versah seine Zeichnung mit Hinweisen auf ihren eher politischen als religiösen Ursprung; der erste ist das Setting: Obwohl verschiedene Wissenschaftler*innen nahegelegt haben, das Gebäude sei eine Kirche in Norwich, das jüdische Ghetto von Norwich (das es gar nicht gab) oder Isaacs eigenes Haus in Norwich, handelt es sich in Wirklichkeit um eine recht genaue und detaillierte Darstellung des Westminster-Palastes, in dem sich die Schatzkammer befand.
Auch andere Details legen nahe, dass wir unsere Aufmerksamkeit weg von der jüdischen Andersartigkeit hin zur alltäglichen Arbeit in Westminster lenken sollten. Ohne den geringsten Versuch, die Feindschaft gegenüber Isaak, Mosse und Avegaye zu leugnen oder die zeitgenössischen jüdisch-christlichen Spannungen zu bagatellisieren, möchte ich auf einige Bestandteile des Bildes hinweisen, die die weithin akzeptierte Interpretation der Zeichnung – sie sei eine eindeutige und rein antijüdische Skizze – übersieht.
An erster Stelle versäumt diese Interpretation, den signifikanten visuellen Unterschied zu erkennen, den es zwischen den drei zentralen jüdischen Figuren und dem sogenannten jüdischen Wucherer ganz links gibt. Deren Gesichter sind verzerrt – im Fall Isaacs monströs – im Gegensatz zum Gesicht des angeblichen Wucherers. Sie befinden sich im zentralen Hof des mit Zinnen bewehrten Gebäudes; er steht weiter unten, außerhalb, an der Seite. Die drei sind namentlich gekennzeichnet; er bleibt unbenannt. Und während Mosse und Avegaye von den Dämonen verspottet, angefasst, bedroht werden und Unbehagen zeigen, bleibt er allein. Oder besser gesagt, er schließt sich den Dämonen an, indem er sie ebenfalls verspottet: Er rümpft die Nase, und während er die Waage hochhält, legt er seinen Daumen zwischen Zeige- und Mittelfinger – eine altehrwürdige Geste der Verachtung, die als „die Feige geben“ bekannt ist (das mittelalterliche Äquivalent zum „Stinkefinger zeigen“).
Die traditionelle Wahrnehmung des bemützten Mannes als wuchernder Jude berücksichtigt darüber hinaus nicht, dass nicht jüdische Geldverleiher, sondern königliche Beamte damit betraut waren, die zur Steuerzahlung in die Schatzkammer gebrachten Münzen zu wiegen. Schließlich verkennt der ausschließliche Fokus auf den Antijudaismus, dass der Hut dieser Figur zwar, wie es so oft heißt, „die typische Kleidung des mittelalterlichen Juden“ sein kann, jedoch wurden solche Hüte auch von vielen anderen mittelständischen Stadtbewohner*innen getragen, darunter christliche Kaufleute, Universitätsgelehrte sowie Kleriker und königliche Beamte.
Zusammengefasst bin ich der Ansicht, dass dieser sogenannte wuchernde Jude überhaupt kein Jude ist. Ich würde ihn stattdessen als einen Schreiber der Schatzkammer identifizieren, vielleicht sogar als denselben Schreiber, der diesem bösen Gekritzel innewohnt. Seine unflätige „Gotcha!“-Geste ist nicht Ausdruck religiösen Zorns, sondern beruflicher Verärgerung. Die Karikatur ist tatsächlich verrätselt, doch beinhaltet sie verschiedene Hinweise auf ihren wahren Gegenstand: den Betrug, die Korruption und Heuchelei … und ein bestimmter (christlicher) Mann, der dieser Sünden beschuldigt wird.
Der erste Hinweis liegt in Mosse Mokkes Erscheinen. Weit davon entfernt, stereotype jüdische Züge zu tragen, bricht Mosses Aussehen mit künstlerischen Konventionen. Sein Haar ist blond mit einer modischen Bob-Frisur. Ein Stil, den man typischerweise bei Adligen und Höflingen sieht, selten nur bei jüdischen Männern. Im Gegensatz zum Stereotyp des bärtigen Juden ist er glatt rasiert, vielleicht hat er einen Bartschatten. Obwohl Wissenschaftler*innen seinen spitzen Helm einhellig als den „charakteristischen Judenhut“ bezeichnen, sieht er ganz anders aus als die Hüte, die in der christlichen Kunst üblicherweise Juden zugeordnet werden. Er ähnelt eher den Hüten nicht-jüdischer Arbeiter, Krieger und Gelehrter.
Und was seine sogenannte jüdische Nase angeht – 1233 wäre sie nicht als solche gesehen worden. Zu dieser Zeit bedeuteten krumme, hakenförmige oder große Nasen eher Sünde und moralische Verderbtheit als das Jüdischsein an sich. Solche Nasen konnten ebenso schlechte Christen oder Heiden haben, wie Juden. (Die Hakennase wurde erst im späteren 13. Jahrhundert zum Zeichen des „Jüdischen“[4].) Der Karikaturist sendet uns so in Bezug auf die Identität von Mosse gemischte Signale: Seine Verworfenheit zeigt sich in seiner verformten Nase, sie ist allerdings unter einem schönen und modischen, sogar höfischen Auftreten verhüllt.
Avegayes Erscheinungsbild ist ebenso untypisch. Es war nicht ungewöhnlich für Jüdinnen, so dargestellt zu werden wie sie, in modischer Kleidung und mit luxuriösem langem Haar – die Schönheit der Jüdin war in der mittelalterlichen Literatur sprichwörtlich. Aber ihre längliche und teuflisch gebogene Nase verstößt gegen jedes bestehende künstlerische Muster: Verzerrte Züge oder Unterscheidungsmerkmale wurden bis dahin in der christlichen Bildsprache niemals auf jüdische Frauen angewandt. Diese merkwürdige Kombination aus körperlicher Hässlichkeit und eleganter Kleidung betont nicht nur ihren unangemessenen (und schlecht verdienten?) Wohlstand, sondern ruft auch die Warnungen der Prediger vor der trügerischen und potenziell korrumpierenden Macht der Schönheit ins Bewusstsein. Die implizite Botschaft, die in diesen beiden Porträts liegt, lautet: Weit davon entfernt, sich von Christen völlig zu unterscheiden und von ihnen überall gehasst zu werden, sind mindestens einige Juden ihnen allzu ähnlich, vielleicht werden sie sogar von Christen bewundert.
Ein weiterer Hinweis auf eine verschleierte Bedeutung liegt in der Verschmelzung von Isaak und dem Antichristen. Der Antichrist war nicht irgendein übler Schurke im Allgemeinen. Er war vielmehr die ultimative Verkörperung von Betrug, Doppelzüngigkeit, Verkleidung und Scheinheiligkeit. Man glaubte, wenn er käme, dann als Christus selbst maskiert. Er würde nicht nur Juden, sondern auch viele christliche Gläubige, einschließlich Könige und Kaiser, täuschen und sie dazu bringen, ihm zu folgen. Seit dem 13. Jahrhundert betonten Texte den letzten Punkt der Legende und stellten den Antichrist in erster Linie als einen Betrüger der ehrgeizigen Eliten dar. Isaak als Antichrist zu verkleiden, meint eine subtile Stichelei gegen gierige und machthungrige Christen. Isaak erinnert in seinem seltsamen zotteligen Gewand an ein zeitgenössisches satirisches Gedicht, das die höfische Korruption kritisiert, indem es die qualvolle Karriere des Pelzmantels eines Höflings nachzeichnet, der „mantellus hypocrita“ genannt wird.
Eine noch witzigere Pointe gibt es im Zusammenhang mit dem Dämon in der Mitte und seiner teuflischen Kohorte. Die vorherrschende Lesart der Karikatur sieht sie als furchterregende und geschmähte Verbündete der Juden, als angebliche Agenten der Hölle. Alle Wissenschaftler*innen, die über dieses Bild geschrieben haben, folgen dem verstorbenen Sir Cecil Roth, indem sie den Namen des Teufels als „Colbif“ lesen, ein ansonsten unbestätigtes Wort, von dem man annimmt, es beschwöre einen alten heidnischen Gott oder Dämon herauf. Vermutlich weist es so auf jüdische Andersartigkeit und jüdischen Unglauben hin. Dies würde sicherlich zu einer Lesart des Bildes als eine vernichtende Anklage des jüdischen Verrats passen.
Doch eine genaue Prüfung der Steuerrolle zeigt, dass der Name tatsächlich als „Colbik“ gelesen werden sollte. Dies ändert den Ton des Bildes etwas: Colbik ist keine erfundene exotische Gottheit, sondern ein ziemlich grobes mittelhochdeutsches Wortspiel, das normalerweise als Beleidigung benutzt wurde. Es leitet sich von „kolb“ ab, dem Wort für „Keule“ und hat die dreifache Bedeutung: „gehörnt“, „geil“ und „großnasig“. Die Erscheinung des Dämons unterstreicht den Witz. Er und seine Schergen werden nicht als furchterregende Teufel dargestellt, sondern als lächerlich ausgestattete Theaterschauspieler, denen die Hörner nicht aus dem Kopf, sondern aus ihren offenkundig künstlichen Kapuzen wachsen. Ihre Kostüme ähneln am allermeisten der Kleidung des Hofnarren. Eine Figur, die oft eine Keule trug und sich dumm stellte, um hinterhältige Lügen zu entblößen; und das vor allem bei den Mächtigen.
Welche Situation könnte eine solche Satire provoziert haben? Welche Lügen werden aufgedeckt, und warum werden Juden in diesem Bild dazu benutzt, die Heuchelei des Hofes zu kritisieren?
Die Antwort findet sich durch die Betrachtung des spezifischen historischen Kontextes, in dem die Karikatur entstanden ist. Die Zeichnung wurde höchstwahrscheinlich im späten Frühjahr oder Sommer des Jahres 1233 angefertigt. Es waren turbulente Monate im Schatzamt. Während der 1230er Jahre durchlebte England einen Konflikt zwischen dem unbeliebten König Heinrich III. und seinem verhassten, sogenannten fremden (french) ersten Mann am Hof Peter des Roches auf der einen und einer Gruppe verärgerter Adliger auf der anderen Seite. Das Schatzamt war ein zentrales Schlachtfeld in diesem Konflikt.
Im Sommer 1232 hatte der König seinen langjährigen und sehr geachteten Justiciar entlassen und durch einen Verwandten des verhassten Peter des Roches ersetzt. Im Wesentlichen wurden die Beamten des Schatzamtes so einer Kontrolle von außen unterworfen. Die Partei des Begünstigten verlor keine Zeit, um die königlichen Truhen aufzufüllen und sich selbst zu bereichern, indem sie ihre neu gewonnene Macht über das englische Judentum und ihre Verbindungen zu ihm ausnutzten. Alternierend erhoben sie als Strafe von der Gemeinde hohe Steuern, trieben im Namen von Juden Darlehen christlicher Schuldner ein, zerstörten oder annullierten Schuldscheine von Juden zu ihrem eigenen Vorteil und erpressten Bestechungsgelder von reichen Juden, die dann von den Steuern befreit wurden. Einer der Juden, mit denen des Roches am häufigsten zu tun hatte, war Isaak von Norwich. Isaak versorgte wiederholt den Haushalt der des Roches (einmal lieferte er 58.000 Heringe an die Residenz des Bischofs) und erhielt von ihnen mehrere Steuerermäßigungen.
Juden waren die Hauptopfer der Habgier der Familie der des Roches. Isaaks Einbindung in ihre finanziellen Aktivitäten machte weder sie noch ihn und seinen königlichen Gönner bei anderen Engländern beliebt. Der englische Adel beschwerte sich bitterlich über die königliche Beteiligung an jüdischen Kreditvergaben. Bevor ein Jahr vergangen war, waren der König und sein Günstling gezwungen, sich von den Juden zu distanzieren, mit denen sie inzwischen in den Köpfen vieler Menschen eng verbunden waren. Beim Osterfest im April 1233 beteiligte sich des Roches (heuchlerisch) an der Verabschiedung zahlreicher antijüdischer Maßnahmen, um von den Feindseligkeiten gegen den König und ihn selbst abzulenken. Diese Maßnahmen griffen aber nicht. Als einige der Adligen im August 1233 rebellierten, war einer ihrer zentralen Anklagepunkte die Strategie des Königs, seine Untertanen indirekt auszunehmen, indem er den jüdischen Geldverleih förderte und sich dann seinen Anteil daran nahm.
Diese hoch aufgeladene Situation motivierte, so glaube ich, zu der mit Bedacht maskierten satirischen Anklage der Karikatur gegen Betrug, Täuschung und Doppelzüngigkeit. Unser Schreiber, ein relativ niederer königlicher Beamter, verurteilte den jüdischen Wucher nicht aus moralischer Empörung oder religiösem Fanatismus heraus. Vielmehr protestierte er dagegen, dass sein Büro an „Außenstehende“ übergeben und durch das unpopuläre Regime eines skrupellosen Günstlings in Verruf gebracht worden sei.
Isaak trägt nicht die Krone des Königs, weil er dessen Rolle an sich gerissen hat. Stattdessen zeigen uns die konsequente Verknüpfung höfischer Details mit Symbolen des Betrugs und die wiederholten Erinnerungen an Ähnlichkeiten zwischen Juden und Christen, die ich hier ausführlich beschrieben habe, dass hinter den jüdischen Geschäften und den antijüdischen Aktivitäten ein tieferer Verrat steht. Unter Isaaks heuchlerischer Bemäntelung schlägt das perfide Herz des „fremden“ Günstlings des Königs, vielleicht sogar das heuchlerische Herz des Königs selbst.
Am Ende ist es natürlich egal, ob sich der wahre Zorn des Schreibers stärker gegen die mächtigen Höflinge als gegen die jüdischen Geldverleiher richtete. Obwohl mehr mittelalterliche Christen vom Geldverleih profitierten als jemals Juden, und obwohl mehr Christen als Juden bei den Gewaltausbrüchen starben, die sich wenige Wochen, nachdem diese Karikatur gezeichnet wurde, ereigneten, waren es Juden, nicht Christen, die als gierige, bestialische, dämonische, blutsaugende Wucherer stereotypisiert wurden. In den folgenden Jahrzehnten wurden englische Juden immer höher besteuert. Ihre Güter wurden beschlagnahmt, sie wurden verhaftet und gegen Lösegeld festgehalten. Sie wurden aufgrund echter und erfundener Anklagen hingerichtet und schließlich 1290 aus dem Reich vertrieben. Fast vierhundert Jahre lang durften sie nicht mehr auf englischen Boden zurückkehren.
Nichtsdestotrotz liegt eine Bedeutung darin, dass unser Schreiber zwar vermutlich beabsichtigte, eine schwarz-humorige Kritik der königlichen Politik zu zeichnen, doch unter dem Deckmantel karikierter jüdischer Gesichter. Denn das unterstreicht die Rolle visueller Bilder bei der Stereotypenbildung. Niemand, ohne spezielle Ausbildung, könnte die Worte einer mittelalterlichen Steuerliste lesen. Und niemand würde die Worte eines solchen Dokuments lesen, ohne den Entstehungskontext zu berücksichtigen. Scheinbar sind Bilder jedoch so leicht zu lesen, sie scheinen unmittelbar zu sein. Man glaubt, ihre Aussagen seien universell, zeitlos und selbsterklärend. Das ist natürlich weit davon entfernt, wahr zu sein.
Zweifellos verstärkt die scheinbare Zeitlosigkeit der Kunst ihre Wirkung: Auch wenn John Constable ein Bild von einem Sonnenuntergang zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort gemalt hat, beeinflusst dieses Bild die Art und Weise, wie Menschen seither und rund um den Globus Sonnenuntergänge betrachten. Die Auswirkungen der mittelalterlichen antijüdischen Karikatur sind ebenso intensiv, doch weit weniger positiv. Die gemeine Kritzelei, die ich hier besprochen habe, ist sicher weder ein schönes noch ein wichtiges Kunstwerk. Bis zu ihrer Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert wurde sie wahrscheinlich nur von einer Handvoll Menschen gesehen und belächelt. Doch sie kann uns immer noch viel darüber lehren, wie sich willkürliche Witze in zeitlose „Wahrheiten“ verwandeln wie Menschen dazu kommen, ihre Nachbarn zu hassen – und auch über die Macht und Gefahr eines scheinbar trivialen Bildes.
(Übersetzung: Isabel Enzenbach)
[1] Dieser Text ist in englischer Sprache zuerst in „The New York Review of Books“ am 6. Juni 2016 erschienen: Sara Lipton, The First Anti-Jewish Caricature?, https://www.nybooks.com/daily/2016/06/06/the-first-anti-jewish-caricature/. Wir danken Sara Lipton für die Genehmigung, den Aufsatz ins Deutsche zu übersetzen (Isabel Enzenbach) und ihn auf Visual History zu veröffentlichen.
[2] The National Archives, London: Lesson at a glance: A medieval mystery, https://www.nationalarchives.gov.uk/education/resources/medieval-mystery/ [17.03.2020]
[3] Frank Felsenstein, Anti-Semitic Stereotypes: A Paradigm of Otherness in English Popular Culture, 1660-1830 (Johns Hopkins Jewish Studies), Baltimore 1999, S. 29.
[4] Sara Lipton, The Invention of the Jewish Nose, The New York Review of Books, 14.11.2014: https://www.nybooks.com/daily/2014/11/14/invention-jewish-nose/ [17.03.2020].
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Antisemitische Bilder – Herstellung, Gebrauch, Effekte, hg. von Isabel Enzenbach
Themendossier: Antisemitische Bilder – Herstellung, Gebrauch, Effekte
Zitation
Sara Lipton, Die erste antisemitische Karikatur?, in: Visual History, 30.03.2020, https://www.visual-history.de/2020/03/30/die-erste-antisemitische-karikatur/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1740
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