Sea-Watch: SW5Y – Fünf Jahre zivile Seenotrettung
Sea-Watch: Ausstellung im Weltkulturen Museum Frankfurt am Main vom 5. Juni bis 30. August 2020
Das Format
Die Sonderausstellung „SW5Y“ (Sea-Watch – 5 Years) präsentiert in Fotografie und Zeichnungen Eindrücke, Menschen und Momente aus fünf Jahren ziviler Seenotrettung an der tödlichsten Grenze der Welt – dem Mittelmeer. Mit dokumentarischen und künstlerischen Arbeiten gewährt die Ausstellung Einblicke in den Alltag der zivilen Seenotrettung, zeigt aktive Rettungseinsätze und präsentiert aktuelle Perspektiven auf Flucht und Migration.
Die Materialauswahl für die Ausstellung unterlag dem Anspruch, möglichst vollständig, informativ und ethisch vertretbar die perfide Situation im Mittelmeer zu skizzieren. Dabei ging es weniger um die Reproduktion und das Ausstellen geläufiger Motive und Narrative, sondern um eine exemplarische Vorstellung der verschiedenen Berührungspunkte und Akteur*innen. Die Arbeiten sollen einen möglichst vollständigen Querschnitt von fünf Jahren operationeller Aktivität der zivilen Seenotrettung zeigen.
Die Bilder stellen Motive und Themen vor, die sonst oft in der Peripherie von Ansichten seeuntauglicher, überfüllter Schlauchboote verschwinden, wie von der Luftaufklärung gefundene Bootswracks, überlaufende Gästetoiletten während Blockadesituationen vor europäischen Küsten oder Bilder von Ölplattformen, zu deren Lichtern die nachts flüchtenden Menschen geschickt werden.
Die Fotochronik orientiert sich an thematischen Schwerpunkten (dem Anfang, der Professionalisierung, der Kriminalisierung u.a.), gibt einen groben Überblick und erleichtert damit den Einstieg in das Thema. Sie wird um eine rationale, technische Chronik ergänzt: mit Fakten zu politischer Diffamierung, strategischen Kriminalisierungsversuchen und den Konsequenzen des Nicht-Rettens.
In den Fotoserien der „SW5Y“-Ausstellung finden sich Arbeiten verschiedener Fotograf*innen, jedoch keine individuellen Fotoessays, während die Exponate in den anderen Räumen einen persönlichen Blickwinkel der jeweiligen Künstler*innen transportieren und die Besucher*innen auf eine emotionale Reise mitnehmen. Bei den ausgestellten Werken handelt es sich um Arbeiten von Geflüchteten, Forscher*innen und Aktivist*innen.
Das präsentierte Material soll die Besucher*innen informieren, aber auch Fragen aufwerfen und unbequem sein – es ist ein klarer Appell gegen politisch diskriminierende und rassistische Politik. Im Fokus steht zunächst, die mittlerweile fünf Jahre des zivilen Engagements in der politischen Wirklichkeit des Sterbenlassens aufzuzeigen und klar als solche zu benennen. Wir wünschen uns, dass die europäischen Staaten Verantwortung übernehmen, sichere und legale Einreisewege für Flüchtende und Migrant*innen schaffen, sodass die zivile Seenotrettung überflüssig werden kann. Mit dem Material und dem Blick auf die improvisierten Anfänge stellen wir klar: Wir sind und waren immer eine Notlösung – wir wollen nicht die Seenotrettung professionalisieren. Im Gegenteil, wir fordern Bewegungsfreiheit, damit sich niemand in einem seeuntüchtigen Boot aufs Meer begeben muss.
Kunst & Politik
In der Ausstellung soll verständlich werden, in welchem Rahmen die zivile Seenotrettung agiert und mit welchen Themen und Aufgaben sie sich alltäglich beschäftigen muss. „SW5Y“ ist in erster Linie keine Kunstausstellung, sondern ein dokumentarisches Archiv mit Exponaten, in dem Themen und Gedanken durch verschiedene Gestaltungsmethoden diskutiert und aufbereitet und damit für Besucher*innen zugänglich gemacht werden. Wir präsentieren zwar künstlerische Arbeiten, aber es geht nicht zentral um den künstlerischen Charakter der Exponate, sondern um den politisch-dokumentarischen: Kunst und Medien haben das Potenzial, Wissen zu vermitteln, zur Aufklärung beizutragen und Impulse zu setzen.
Wir arbeiten in einem Bereich, in dem tagtäglich Menschen sterben und politisch bewusst nichts dagegen unternommen wird. Das verlangt einen hohen Grad an Ernsthaftigkeit dem sensiblen Thema gegenüber und respektvollen Umgang mit Medienmaterial. Das betrifft sowohl die direkten Anwendungsbereiche für unser Material als auch die Reflexion zu dessen Wirkungskraft. In der Ausstellung sind fotografische Motive zu sehen, die Zeit und Aufmerksamkeit beim Betrachten benötigen und daher für die Schnelllebigkeit in den Sozialen Medien ungeeignet sind – sie finden in dem kuratierten Ausstellungsraum einen geschützten Platz, um einen intimen und persönlichen Zugang zum Bildmaterial zu erlauben. Außerdem zeigt die Ausstellung eine Auswahl an Videokunst, Illustrationen, Poesie und Gesang. Jedes Werk vermittelt die individuelle Perspektive der/des Künster*in auf Erlebtes.
Gezeigt werden auch animierte Kurzfilme, die die Arbeitsprozesse von Sea-Watch abbilden. Gerade grafische und illustrative Arbeiten können hilfreich sein, um komplexe Inhalte zu erläutern. So konnte unsere Luftaufklärungsmission im letzten Jahr mehr als 20 völkerrechtswidrige Rückführungen nach Libyen dokumentieren. In einem Fall konnten wir aus der Luft filmen, wie ein Handelsschiff Zuflucht suchende Menschen an die sogenannte Libysche Küstenwache übergeben hat. Diese Dokumentationen sind ein elementarer Bestandteil, um evidenzbasierte Berichte zu veröffentlichen (siehe Forensic Architectures „Sea Watch vs. the Libyan Coastguard“ in der Ausstellung) und so europäische Autoritäten mit den harten Fakten zu konfrontieren, gegenüber denen sie sich verantworten müssen.
Der Ausstellungsraum bietet uns zusätzlich die Möglichkeit, das Thema in ein weiteres Diskursfeld einzubringen, mit Kunst über Politik zu sprechen und so auch die Kontroverse des eigentlichen Themas, das neokoloniale Machtgefälle und die freiheitlichen Privilegien, zu diskutieren. Kunst als politisches Ausdrucksmedium zu nutzen, ist ein Aspekt davon; die künstlerische Äußerung von Flüchtenden selbst stellt in diesem Kontext auch eine Ermächtigung dar.
Ethik & Humanismus
Bei unserer Arbeit geht es nicht um die Dokumentation von Leid, sondern um die Dokumentation von Rechtsbrüchen durch verantwortliche Staaten oder Staatengemeinschaften. Es ist ungemein wichtig, dies auseinanderzuhalten. Denn die Praxis, Menschen in Not zu dokumentieren sowie in Ausstellungen und Medien zu präsentieren, stellt für uns einen ethischen Konflikt dar. Die Gefahr, Stigmata zu bestätigen und Opferrollen zu bedienen, ist groß und paradox zu unserer Überzeugung, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen. Außerdem besteht die Gefahr, von dem eigentlichen Problem, der politischen Krise des Sterbenlassens, abzulenken.
Flüchtende sollten nicht in einer Opferrolle dargestellt werden, sondern als Menschen mit Namen, Geschichten, Motivationen und Würde. Flüchtende werden selbst in der wohlwollenden, „humanistischen“ Berichterstattung oft als hilflose Objekte dargestellt, mit dem primären Ziel, Mitleid zu erregen. Es ist unser Anliegen, hier besondere Sensibilität zu entwickeln. Das betrifft sowohl die visuelle wie auch die verbalisierte Arbeit, wie zum Beispiel die Vermeidung des Begriffs „Flüchtling“.
Die Vorstellung eines humanistischen Bildes ist auch deswegen problematisch, da sie schon terminologisch ein Machtgefälle impliziert. Es beschreibt einen aktiven und passiven Part, in dem der aktive Part bewusst Humanismus exekutieren kann und dafür nennenswert scheint. Es lenkt den Fokus auf den Verdienst der/s Fotografierenden, dabei sollte er auf dem respektvollen Fotografieren selbst und der Verantwortung mit dem Machtinstrument Kamera liegen. Dieses Machtgefälle erleben wir täglich auch an Bord: zwischen denen, die helfen können, und denen, die Hilfe brauchen. In diesen Momenten reproduzieren sich gesellschaftlich etablierte Ungleichheiten, und es ist wichtig, damit bewusst umzugehen. Die Such- und Rettungsarbeit erfährt eine immer wiederkehrende Heroisierung der Tätigkeit auf See. Oftmals werden Retter*innen als Held*innen bezeichnet. Im Kontrast dazu werden Menschen, die der See ausgeliefert sind, verstärkt viktimisiert. Solche Darstellungen und Wahrnehmungen sind kolonialistisch geprägt und müssen dringend vermieden werden.
Ähnlich sensibel verhält es sich mit dem Thema der Persönlichkeits- und Bildrechte. Oftmals sind Menschen auf der Flucht in einer Position, in denen ihnen schon vorher ihre Rechte abgesprochen worden sind. Daher ist es notwendig, durch Aufklärung und im respektvollen Umgang, ohne Druck, bewusst das Einverständnis für das Entwickeln von Bildmaterial einzuholen oder adäquat mit einer Ablehnung umzugehen. Wir wollen Menschen nicht weiter stigmatisieren, keine neokolonialen Strukturen reproduzieren. Das bedeutet in der Konsequenz, dass Menschen nicht in entwürdigenden und hilflosen Situationen fotografiert oder gefilmt werden, z.B. beim Erbrechen, bei Bewusstlosigkeit oder Ähnlichem.
Eine sensationsausgerichtete Bildsprache liegt nicht im Interesse von Sea-Watch, da sie die Menschen ihrer individuellen Würde beraubt und sie zu Objekten degradiert. Es ist wichtig, das eigene und gesellschaftliche Bewusstsein über diese ethischen Grenzen auch gegenüber den Gästen situativ klar zu kommunizieren, ihnen ihre nötigen Schutzräume zuzugestehen und die Produktion von Fotografien – wo es möglich ist – zu einem gemeinsamen kollaborativen Akt zu machen.
Menschen, die sich in Not befinden, brauchen in erster Linie Hilfe – ob auf einem Berg, an einer Straßenkreuzung oder auf dem Meer. Wir sind Ersthelfer*innen vor Ort, mit der Aufgabe, das Leben Einzelner zu schützen.
SW5Y – Fünf Jahre zivile Seenotrettung
Kuratiert von Jelka Kretzschmar (Sea-Watch e.V.) und Leonie Neumann (Weltkulturen Museum). Die Ausstellung wird vom 5. Juni bis zum 30. August 2020 im Weltkulturen Museum in Frankfurt am Main gezeigt.
Zitation
Jelka Kretzschmar, Sea-Watch: SW5Y – Fünf Jahre zivile Seenotrettung. Ausstellung im Weltkulturen Museum Frankfurt am Main vom 5. Juni bis 30. August 2020, in: Visual History, 24.08.2020, https://visual-history.de/2020/08/24/sea-watch-sw5y_fuenf-jahre-zivile-seenotrettung/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1819
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