„Todestango“?
Über ein Foto aus einem NS-Lager in Lemberg/Lviv
Einleitung
Der „Todestango“ gehört zu den bekanntesten und zugleich rätselhaftesten Kompositionen, die in Konzentrations- und Vernichtungslagern der SS gespielt worden sein sollen. Der Legende nach entstand er im Zwangsarbeits- und Durchgangslager Janowska in Lemberg/Lviv, der damaligen Hauptstadt Galiziens, das nach dem Überfall des Hitler-Regimes auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 unter deutsche Besatzung geriet. Der stellvertretende Lager-Kommandant, SS-Untersturmführer Richard Rokita, der Musiker war und eine Lagerkapelle gründete, soll den inhaftierten Musikern Leopold Striks und Yacub Mund den Befehl zur Komposition eines „Todestangos“ gegeben haben, der fortan bei Selektionen und Exekutionen der Inhaftierten gespielt worden sei.
Zur Beglaubigung dieser Legende spielen zwei Fotografien eines Orchesters eine entscheidende Rolle. Eine der beiden zeigt ein im Kreis aufgestelltes Orchester. Sie ist das meistzitierte Motiv. Angeblich handelt es sich um die Kapelle des Zwangsarbeits- und Durchgangslagers in der Janowska-Straße in Lemberg. Die Fotografie und die Legende vom „Todestango“ bilden eine suggestive Einheit: „Das Orchester der im Lager Janovsk gefangenen Musiker spielt den ‚Todestango‘. Im Takte dazu werden Folterungen und Hinrichtungen vollzogen.“[1] Diese Deutung wurde schon früh durch die Sowjets geprägt – ihr folgen bis heute fast alle Studien und Publikationen über Lemberg, das Janowska-Lager und den Genozid an den Juden Galiziens.
Doch ist weder die Existenz einer speziellen Komposition „Todestango“ verbürgt noch der Nachweis erbracht, dass die Fotografien das Orchester im Lager beim Spielen eines solchen Musikstücks zeigen. Bislang wurde diese Fotografie keiner quellenkritischen Untersuchung unterzogen, was angesichts des vor rund 30 Jahren ausgerufenen „pictorial turn“ ein ernüchternder Befund ist. Noch immer „werden Fotos allzu oft […] als historische Quelle missachtet“, schreiben die Autoren des Bandes „Die fotografische Inszenierung des Verbrechens“.[2]
In einer Bildanalyse werde ich im Folgenden ausführen, dass wesentliche Inhalte, die Rückschlüsse (oder Zweifel) über den Ort der Aufnahme erlauben, im bisherigen Diskurs übergangen wurden. In diesem Zusammenhang wird die Frage zu diskutieren sein, ob die Aufnahme wirklich das Orchester des Janowska-Lagers oder möglicherweise das Orchester des Lemberger Ghettos zeigt. Und schließlich möchte ich verdeutlichen, dass Foto und Text für viele immer noch eine suggestive Einheit bilden: die Idee eines „Todestangos“ und der wichtigste angebliche Beweis dafür: das Lagerorchester, das den „Todestango“ spielt.
Bildanalyse
Es ist wahrscheinlich, dass die Erzählung vom „Todestango“ ohne die anscheinend visuelle Beglaubigung durch die Fotografie in der Rezeption nicht so erfolgreich gewesen wäre. Eine genaue Bildbeschreibung schärft den Blick für Ungereimtheiten in der Überlieferung:
Das im Kreis stehende Orchester und seine etwa 28 bis 30 Musiker sind aus der Vogelperspektive aufgenommen, was einen ersten Hinweis auf eine mögliche Urheberschaft gibt. Das Foto dürfte mit einiger Sicherheit von SS-Leuten oder Personen aufgenommen worden sein, die berechtigt waren, einen Wachturm oder erhöhten Punkt zu besteigen und SS-Offiziere abzulichten. Aus dem steilen Aufnahmewinkel lässt sich schließen, dass das Orchester am Fuße oder in unmittelbarer Nähe eines höheren Gebäudes oder eines Turms stand.
Im Vordergrund sind sechs, vielleicht sieben Geiger zu sehen, danach folgen etwa zehn Bläser (vier Klarinetten, vier Saxofone, Trompete) und eine große Trommel im oberen linken Bildrand. Innerhalb des Kreises stehen drei Musiker mit Akkordeons, die offenbar ohne Noten auskommen, und der Dirigent in einem hellen Kittel oder Mantel. Vor den meisten Musikern stehen Notenständer, insgesamt sind elf ganz oder teilweise zu sehen. Die Notenbücher auf den Ständern sind meistenteils geschlossen, nur im Winkel zwischen linkem und unterem Bildrand, links neben einem Geiger, ist ein offenes Notenblatt erkennbar.
Alle Orchestermusiker tragen Uniformen oder uniformähnliche Bekleidung sowie Schaftstiefel. Meines Wissens hat bislang niemand nach einer Erklärung gefragt, warum Lagerhäftlinge Uniformen tragen.[3] Auch in den Erinnerungsberichten ehemaliger Häftlinge finden sich keine Hinweise auf uniformierte Lagermusiker. Im rechten Bildraum außerhalb des Musikerkreises sieht man eine Gruppe von sechs Uniformierten, die, anders als die Orchestermitglieder, alle militärische Kopfbedeckungen tragen. Vier Personen in schwarzen Uniformen tragen ein sogenanntes Schiffchen; ob sie der SS oder Wehrmacht angehören, ist nicht erkennbar. Die beiden am linken Rand der Gruppe stehenden Uniformierten tragen Schirmmützen. Einer der Uniformierten am rechten Rand fällt durch eine weiße oder sichtlich hellere Uniform auf. An der Musik scheinen sie nicht interessiert zu sein; fünf Personen sind offensichtlich in eine Diskussion vertieft, nur einer blickt in Richtung Orchester. Ferner tragen die Offiziere weder Waffen noch Peitschen. Hinter ihnen, am rechten Rand des Fotos, sieht man einen Dackel.
Die Qualität dieser Fotografie ist je nach Gedenkstätte sehr unterschiedlich, was bedeutet, dass mal mehr, mal weniger Details erkennbar sind. Die Fotografie, die im Ghetto Fighters’ House (Westgaliläa, Israel) archiviert ist, zeigt deutlich die Pflasterung, mithin den Boden, auf dem das Orchester steht, was Auskunft über den Ort und damit die Entstehung des Bildmotivs geben kann.[4]
Drei verschiedene Beläge sind zu erkennen: Ein Teil der Musiker (im Vordergrund) steht auf einer grob gepflasterten, etwa drei bis dreieinhalb Meter breiten Straße, die links und rechts jeweils mit sauber verlegten, gleich großen, also behauenen Grenzsteinen eingefasst ist. Eine weitere Reihe solcher Steine zieht sich in der Bildmitte quer zur Fahrtrichtung durch die Straße, die in Höhe der vier Saxofonisten nach links schwenkt und hinter ihnen aus dem Bildraum führt. Im Winkel zwischen rechtem und unterem Bildrand ist erkennbar, dass der Belag hier sorgsamer aus kleineren und gleich großen Steinen verlegt ist, auf dem einer der Uniformierten steht. Die drei Akkordeonspieler am linken Bildrand und der Dirigent vor ihnen stehen ebenfalls auf einer gepflasterten Fläche, die aber wiederum eine andere Struktur als das Pflaster der Straße hat.
Zur Bodenbeschaffenheit im Lager gibt es verschiedene Darstellungen. Der Rabbiner und ehemalige Janowska-Häftling David Kahane berichtet, seine Arbeitsbrigade habe Mitte Dezember 1942 die Grabsteine des alten jüdischen Friedhofs, „eines stillen Zeugnisses des pulsierenden jüdischen Lebens in Lemberg“, niederreißen müssen, um mit den Brocken – „kantigen, scharfen, unbehauenen Pflastersteinen“ – das Lager zu pflastern.[5] Diese „Katzenköpfe“ seien vor allem für den Weg vom Lager zur Villa des Lagerkommandanten Gustav Willhaus verlegt worden. Bei Selektionen seien die Häftlinge gezwungen worden, über sie zu laufen, was nur den Gesündesten „ohne zu fallen“ gelungen sei.
Fast gleichlautend heißt es im „Schwarzbuch“ über den Genozid an den sowjetischen Juden: „Nachdem das Gelände für das Lager vorbereitet worden war, wurde es mit Grabsteinen vom jüdischen Friedhof gepflastert. Selbst den Toten gönnten die Faschisten keine Ruhe.“[6] Auch das Protokoll der Lemberger Außerordentlichen Staatlichen Kommission berichtet unter dem Datum vom 14. September 1944 über die „Besichtigung des Arbeitslagers in der Janowska-Straße“, dass vom zweiflügeligen Tor des Lagers aus „eine Straße ins Innere des Lagers [führt], die mit marmornen Grabsteinen vom Judenfriedhof gepflastert ist“.[7] Der Historiker Thomas Sandkühler schreibt, zum Haupttor habe „eine 80 Meter lange Lagerstraße [geführt], die mit Grabsteinen vom nahen jüdischen Friedhof gepflastert war – wie später im ZAL Plaszów mit der Schrift nach oben“.[8] Schließlich sei noch der Janowska-Überlebende Leon Wells angeführt, der berichtet: „Die Brigade, welche auf dem jüdischen Friedhof arbeitet, bringt bei der Rückkehr zum Mittagessen oder am Abend von der Arbeit große, schwere Steine auf den Schultern mit – das sind die Grabdenkmäler. Diese Steine sollen zum Pflastern des Hofes im neuen Lager dienen.“[9]
Diese Schilderungen decken sich nicht mit den behauenen Grenzsteinen und den sorgsam verlegten Kleinpflastersteinen, die auf der Fotografie zu sehen sind. Die Lagerkapelle ihrerseits kam vor allem beim Ein- und Ausmarsch der Arbeitsbrigaden zum Einsatz, nahe am Lagertor, durch das die Arbeitskolonnen morgens und abends gehen mussten. Der genaue Standort ist nicht bekannt.
Für die Deutung von Fotografien, die in NS-Konzentrationslagern entstanden sind, ist auch und mitunter besonders wichtig, was auf ihnen nicht zu sehen ist oder nicht zu sehen sein sollte. Das Foto zeigt keine Häftlinge oder Exekutionen, man sieht keine von der Lager-SS gegen Häftlinge ausgeübte Gewalt, es gibt nicht einmal Hinweise auf ein Lager. Doch dieses Fehlen sichtbarer Gewalt ist gefährlich und verführerisch zugleich. Aus dem Blick gerät, dass diese „Leerstelle“ ein wesentlicher Bestandteil der fotografischen Inszenierung von SS-Verbrechen ist. Gewalt sollte nicht zu sehen sein. Zugleich erklärt diese „unsichtbare“ Gewalt, warum diese Fotografie zum meistzitierten Motiv des Janowska-Lagers werden konnte: Hinter der inszenierten Realität verschwindet die grausame Wirklichkeit des Konzentrationslagers.
Vergleicht man sie mit einer weiteren Fotografie, die ebenfalls das Orchester des Janowska-Lagers zeigen soll, dann fallen einige wichtige Unterschiede ins Auge: Fotograf und Orchester befinden sich hier auf Augenhöhe. Es sind 25 Musiker, die in zwei Reihen stehen, mit den beiden Akkordeonisten im Vordergrund (hinter dem Dirigenten). Außerdem sind hier nur drei Saxofonisten (statt vier), zwei Akkordeons (statt drei) und nunmehr ein Flötist (Querflöte) zu sehen. Es fehlt die große Trommel, es gibt keine Notenständer, das Orchester befindet sich auf einem unbefestigten Platz, und die meisten Musiker wissen um die Gegenwart des Fotografen: Sie blicken Richtung Objektiv. Ein Posaunist, den der Schriftsteller und ehemalige Häftling im Janowska-Lager, Michał M. Borwicz, gesehen haben will, ist auf dem Foto nicht erkennbar: „Der Posaunist wendet sich von Zeit zu Zeit heimlich ab und schüttelt sein Instrument aus, damit das Regenwasser abfließen kann.“[10]
Erstaunlich ist, dass trotz der ungesicherten Quellenlage nie Zweifel an der Bildlegende laut geworden sind. Eine Fotografie erzählt nichts über das Musikstück, das während des Bildakts gespielt wurde. Dennoch hält sich hartnäckig die Angabe: „Das Orchester der im Lager gefangenen Musiker spielt den ‚Todestango‘.“[11] Einmal angenommen, diese Aussage trifft zu, dann stellt sich zuallererst die Frage: Wo sind die Noten geblieben? Denn die Fotografie zeigt elf Notenständer, auf denen sich die Partitur des „Todestangos“ zu diesem Zeitpunkt befunden haben müsste. Es hätte mithin wenigstens elf Kopien geben müssen (vermutlich mehr, da nicht das gesamte Orchester zu sehen ist). Dennoch ist bis heute nicht ein einziges Notenblatt aufgetaucht.[12] Das Stück hätte für eine größere Kapelle orchestriert und für die einzelnen Instrumente (Saxofone, Geigen, Akkordeons, Klarinetten, Trompeten) transkribiert und arrangiert werden müssen, um das Orchester überhaupt in die Lage zu versetzen, das Stück zu spielen.
Dies wäre keine Sache von Stunden, sondern eher von Tagen gewesen, wie der Auschwitz-Überlebende Szymon Laks in seinem Bericht über das von ihm geleitete Orchester deutlich machte[13] – erst recht, wenn es aus „sechzig Mann“ bestanden haben soll, wie Leon Wells in seinen Erinnerungen „Ein Sohn Hiobs“ schreibt.[14] Hinzu kommt, dass die Besetzung zumeist wechselte, weil Musiker starben oder neue ins Lager kamen, die wieder andere Instrumente beherrschten.[15] Laks schreibt, dass ihm die Lagerleitung von Auschwitz-Birkenau für das Kopieren der Noten zeitweilig mehrere Personen zugestanden habe.[16] Bei den Noten auf den Ständern scheint es sich um „Bücher“ oder dickere Hefte zu handeln. Wer hat sie angefertigt? Darauf gibt es in den Erinnerungsberichten Überlebender des Lagers keine Hinweise.
Für die Einordnung der Fotografien braucht es mehr Informationen über das Ghetto-Orchester im Janowska-Lager, von dem nur wenig bekannt ist. Der polnisch-amerikanische Historiker und Holocaust-Überlebende Philip Friedman schreibt von „two orchestras from among the Jewish musicians – one in the Julag[17] and the other in the Janowski camp. The musicians were forced to perform against their will at very tragic moments, during the terrible roll-calls and the ‚selections‘ at the ghetto gate and in the camp.“[18]
Das Ghetto-Orchester soll, nach den Berichten überlebender Häftlinge, beim täglichen Ausmarsch von etwa 20.000 Arbeitern aus dem „Judenlager“ gespielt haben.[19] Wie so oft differieren auch hier die Erinnerungsberichte, vor allem, was den Gründer des Orchesters betrifft. So führt Thomas Sandkühler SS-Scharführer Wilhelm Mansfeld als jenen an, der das Orchester „aus überlebenden Musikern zusammengestellt“ habe.[20] Mansfeld, geboren 1896, war Anfang 1943 kurzzeitig Leiter des „Julag“ in Lemberg; er starb kurz nach seiner Ablösung an Fleckfieber. Demnach wäre das Ghetto-Orchester Anfang des Jahres 1943 gegründet worden. Der polnische Katholik und Augenzeuge Tadeusz Zaderecki und der Holocaust-Überlebende Uri Lichter[21] wiederum sind sich darin einig, dass SS-Hauptscharführer Josef Grzimek (1905-1949) anordnete, im Ghetto ein Orchester zu schaffen.[22]
Für die Lemberger Jüdinnen und Juden war das Schauspiel der täglich aus dem Ghetto marschierenden Arbeitsbrigaden eine Qual. So wie das Tor des Janowska-Lagers war das Ghettotor nicht nur „ein Gelenk zwischen Innen und Außen“,[23] sondern eine Stätte von Quälereien und Selektionen. Jeden Morgen habe „Obersturmbannführer Grzimek in seiner grauen und schwarzen Uniform dann und wann auf einen der vorbeimarschierenden Häftlinge gezeigt – ein Finger, der über Tod oder Leben entschied oder, sofern er milder gestimmt war, mit einer Auspeitschung“.[24] Kurzum: Es ist nicht auszuschließen, dass die Fotografie das Ghetto- und nicht das Lagerorchester zeigt. Dafür spräche der gepflasterte Untergrund, auf dem das Orchester während der Aufnahme stand. Allerdings bleibt weiterhin unklar, warum die Musiker auf dem Bild Uniformen tragen.
Die Fotografie eines Lagerorchesters bestätigt allenfalls das Bestehen eines Orchesters. Weder die Frage, wo es agierte, noch wer die dort abgelichteten Personen sind und was für ein Stück sie spielen, kann klar beantwortet werden. Das ist und bleibt so unsicher, wie die Herkunft des Fotos.
Eine herausragende Fotografie
Vor knapp 60 Jahren veröffentlichte der Historiker und Holocaust-Überlebende Joseph Wulf eine Monografie zu einem bis dahin wenig beachteten Thema: „Musik im Dritten Reich“, so der Titel seiner Studie.[25] Bemerkenswert ist nicht nur die umfangreiche Pionierarbeit Wulfs, sondern auch zwei Fotos im Bildteil, die eigentlich in seiner vornehmlich „personenbezogene[n] Dokumentation“[26] aus dem Rahmen fallen. Es handelt sich um zwei Abbildungen, die das Orchester in dem „kombinierte[n] Arbeits- und Tötungszentrum“[27] Janowska in Lemberg zeigen sollen; und er nennt ihr wohl bekanntestes Stück: den „Todestango“.
Den „herausragenden Status dieser beiden Fotografien unterstreichen auch die amerikanische und deutsche Ausgabe der „Enzyklopädie des Holocaust“, die im Jahr 1990 bzw. 1995 erschienen sind. In dem Beitrag von Aharon Weiss zum Stichwort „Janówska“ gibt es nur eine Fotografie: Sie zeigt das im Kreis stehende Orchester, über das es in der Bildunterzeile heißt: „The Janówska camp orchestra played while the inmates set out to work and when they returned. lt was established by the Germans, who amused themselves by mocking and humiliating the inmates.“[28] Der gleiche Text findet sich in der deutschen Ausgabe, die hier der amerikanischen folgt.[29] Betont wird, dass sich einige Lieder und Musikstücke aus Konzentrationslagern erhalten hätten, darunter der sogenannte Todestango aus dem Janowska-Lager. Ein Nachweis dafür wird nicht angeführt.
Die Fotografie, die das Orchester im Janowska-Lager zeigen und zwischen 1941 und 1943 entstanden sein soll,[30] ist ein zentrales Bilddokument für Publikationen und Studien über die Zeit des Nationalsozialismus in Lemberg/Lviv, das Janowska-Lager und den Genozid an den Juden Galiziens. Das Arbeits- und Durchgangs- und am Ende auch Vernichtungslager[31] Janowska war eines der grausamsten Lager der SS. In der kurzen Zeit seiner Existenz von Juni/Juli 1942 bis November 1943 wurden von dort aus Abertausende von Juden in das Vernichtungslager Bełżec deportiert oder in dem unweit gelegenen Erschießungsgelände Piaski (Sand) exekutiert. Von diesem Grauen berichten die wenigen Schilderungen Überlebender wie David Kahane, Leon Wells, Samuel Drix, Michał M. Borwicz oder Joachim Schoenfeld.[32] Einige von ihnen haben in späteren Ausgaben ihrer Zeugnisberichte auf die Fotografien des Orchesters zurückgegriffen.[33] Es gibt keine Fotos aus dem Lager, die den Schrecken in irgendeiner Weise verdeutlichen könnten.[34]
Die beiden hier besprochenen Fotografien erfüllen damit eine Doppelfunktion: die Schrecken des Lagers zu symbolisieren und die Erzählung des „Todestangos“ zu beglaubigen. Vor allem die Aufnahme, die das im Kreis stehende Orchester zeigt, ist so oft wie wenige andere zitiert und zur Illustration herangezogen worden.[35] Daher bezeichne ich sie als die Ikone des „Todestangos“.[36]
Überlieferung
Die Angaben zur Herkunft der hier diskutierten Fotos sind oft ungenau oder sie begnügen sich mit Verweisen auf Sekundärquellen. Joseph Wulf gibt als Quelle beider Fotos an, dass sie „von Deutschen aufgenommen“ worden seien, ansonsten verweist er im Bildnachweis auf „Ullstein, Berlin“.[37] Bei dem Literaturwissenschaftler und Celan-Biografen John Felstiner findet sich keinerlei Hinweis zur Provenienz des Fotos, das die kreisförmig aufgestellten Musiker zeigt. Im Mai 2022 war diese Fotografie auch in der Dokumentation „NS-Geheimkommando 1005 – Wie die Nazis ihre Gräuel vertuschten“ auf Arte zu sehen.[38]
Seriöser sind die Angaben in der „Enzyklopädie des Holocaust“, die auf die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem verweist.[39] Die großen Museen und Gedenkstätten des Holocaust werden vielfach als Quelle genannt, was den Anschein erweckt, als seien damit alle Fragen nach der Herkunft des Bildmaterials beantwortet. Doch finden sich auch dort keine oder nur spärliche Herkunftsangaben, zumindest was die Fotografie des „Todestangos“ betrifft. Außerdem gibt es Unklarheit darüber, was diese und eine weitere Fotografie tatsächlich zeigen, was ich anhand der Beschreibung meiner Recherche in den Foto-Archiven von Yad Vashem, des United States Holocaust Memorial Museum und des Ghetto Fighters’ House verdeutlichen möchte.
Für meine Studie über den „Todestango“ hatte ich eine Kopie der Fotografie im Foto-Archiv des Ghetto Fighters’ House Museum (GFH) in Westgaliläa/Israel angefordert, weil dort die beste, d.h. detailreichste Aufnahme archiviert war. Allerdings irritierte mich die Bildlegende des GFH, die sich von allen mir bis dahin bekannten unterschied: „The orchestra of inmates in the Janowska camp playing during the execution of Soviet POWs“.[40] Auf meine Nachfrage hin wurde mir erklärt, dass auf der Rückseite der Fotografie ein „Copyright“ zu finden sei, das auf das „Imperial War Museum in London“ (IWM) verweise. Über den Fotografen habe das GFH keine Informationen.[41] Als „Donor“ wird das Imperial War Museum bezeichnet, wo das gleiche Foto unter der Katalog-Nummer „NYP 49947“ zu finden ist. Die Bildlegende des IWM deckt sich weitgehend mit der des GFH: „An orchestra formed from camp inmates are forced to play at the execution of a group of Russian prisoners at the KZ Janowska concentration camp at Lwów.“[42] Als Urheber der Fotografie gibt das IWM einen „German official photographer“ ohne Namen an.
Andere Angaben zur Fotografie macht das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM): „Members of the orchestra at the Janowska concentration camp perform while standing in a circle around the conductor in the Appellplatz [roll call area]. […] The SS forced the orchestra to perform during selections and actions and even ‚commissioned‘ a special composition to be played on these occasions. Entitled ‚Todestango‘ [Tango of Death], the piece was composed by Yakub Mund […], former director of the Lvov opera. The music was based on an earlier work by Eduardo Bianco.“[43]
Als einzige Gedenkstätte verbindet das USHMM die Fotografie direkt mit einem „Todestango“, sie meint sogar zu wissen, auf welcher Melodie dieser basierte.[44] Zurückhaltender äußert sich die Gedenkstätte Yad Vashem, wo es heißt: „The orchestra played when the inmates departed for work and on their return. The orchestra was established by the Germans who amused themselves by mocking and humiliating the inmates.“[45] Über die Bild-Herkunft findet sich im Foto-Archiv von Yad Vashem keine Angabe.
Ähnlich vage Angaben hatte auch der Hilfsankläger der Sowjetunion, Lev N. Smirnov, beim Internationalen Militärtribunal in Nürnberg gemacht, wo er zur Herkunft von Fotos als Quellen Akten der „Yanov Gestapo“, „Archive der Lemberger Gestapo“ oder einen „toten Gestapo-Soldaten“ anführte.[46] Diese im Ungefähren verbleibenden „Fundorte“ offenbaren das große Dilemma der Außerordentlichen Staatlichen Kommission (ASK) und ihrer Sammeltätigkeit. Diese Kommission[47] war durch einen Erlass des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR kurz vor dem Beginn der sowjetischen Großoffensive im Norden und Süden Stalingrads am 2. November 1942 geschaffen und mit weitreichenden Vollmachten ausgestattet worden. Das Ziel der ASK und ihrer vielen vor Ort tätigen Beistandskommissionen war, die Kriegsverbrechen des NS-Regimes auf dem Gebiet der Sowjetunion zu untersuchen, dafür Beweise zusammenzutragen, Namen von Kriegsverbrechern zu ermitteln, Berichte über die Ergebnisse ihrer Untersuchungen zu veröffentlichen und alle dafür erforderlichen Aktivitäten zu koordinieren.
Etwa sechs bis acht Wochen nach der Befreiung Lembergs durch die Rote Armee am 24. Juli 1944 nahm die ASK ihre Arbeit in der einstigen Hauptstadt Galiziens auf. Doch so beeindruckend, wie sie Beweise zusammentrug, gelang es ihr nie, „haltbare, juristisch verwertbare Beweise zu sichern“, schreibt der Historiker Stefan Karner. Fast durchgehend fehlten „Angaben zu Tatzeit, Identifizierung der Täter und ihrer Opfer, zu Zweck und Entstehung der Fotos“.[48] Das gilt auch für die hier untersuchten Fotografien. Wann sie entstanden, ist unklar. Das USHMM gibt für das Bild des „Todestangos“ „before 1943“, für das zweite Foto des Lagerorchesters „1941-1943“ an, was bedeutet, dass die Aufnahme vor der Einrichtung des Janowska-Lagers (Juni 1942) entstanden sein könnte. Das GFH und Yad Vashem machen keine Zeitangaben.
In erstaunlich kurzer Zeit, nämlich bereits Anfang November 1944, legte die Lemberger ASK ihren Bericht vor – einen Monat vor Ablauf der vorgeschriebenen Zeit von drei Monaten.[49] Bemerkenswert ist folgendes Ergebnis: Obwohl keiner der von den Staatsanwälten oder ihren Vertretern befragten ehemaligen Häftlinge des Janowska-Lagers von einem „Todestango“ gesprochen hatte,[50] war sich die Kommission sicher:
„Die Deutschen stellten ein Lagerorchester auf, dem die besten und talentiertesten Musiker der Stadt angehörten. Das Orchester leitete der Musikprofessor Striks und der bekannte Dirigent Mund. Den Komponisten des Orchesters befahlen die Deutschen, eine besondere ‚Exekutionsmelodie‘ zu schreiben. Sie wurde auch geschrieben, und auf Befehl der Hitlersadisten wurde sie ‚Tango des Todes‘ genannt. Die deutsch-faschistischen Barbaren haben diese Orchestertruppe zum Spielen gezwungen und zu den Klängen der Musik haben sie die Exekution und die Verbrennung unschuldiger Menschen vorgenommen.“[51]
Dieser Bericht ist das älteste und damit gleichsam das Ursprungsdokument der „Todestango“-Legende. Nur anderthalb Monate später, am 23. Dezember 1944, erschien der Bericht der Lemberger Kommission gleichzeitig in der Parteizeitung „Prawda“ und der Regierungszeitung „Izvestija“, vier Tage später in der englischsprachigen „Moscow News“,[52] jeweils mit Fotos am Seitenfuß.
In allen drei Zeitungen ist ein Orchester abgebildet und mit der Bildunterzeile versehen: „Das Häftlingsorchester spielt den ‚Todestango‘ während der Erschießung sowjetischer Bürger durch die deutschen Besatzer (deutsche Aufnahme).“ Von ermordeten Juden war nun nicht mehr die Rede.[53]
Rund 14 Monate später wurden die Fotografien des Orchesters vor dem Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher des NS-Regimes der Weltöffentlichkeit präsentiert. Am 14. Februar 1946 trug der russische Hilfsankläger Lev N. Smirnov dem Gerichtshof die sowjetische Anklage vor und erwähnte dabei auch den „Todestango“:
„Die Deutschen führten ihre Folterungen, Misshandlungen und Erschießungen bei Musikbegleitung aus. Zu diesem Zweck errichteten sie ein besonderes Orchester, das aus Gefangenen bestand. Sie zwangen Professor Striks und den bekannten Dirigenten Mund, dieses Orchester zu leiten. Sie forderten Komponisten auf, eine besondere Melodie zu komponieren, die sie den ‚Todestango‘ nannten. Kurz vor der Auflösung des Lagers erschossen die Deutschen sämtliche Mitglieder des Orchesters.“[54] Wie die Fotografie der im Kreis stehenden Musiker zu deuten sei, machte die sowjetische Seite ebenfalls klar: „Das Orchester der im Lager Janovsk gefangenen Musiker spielt den ‚Todestango‘. Im Takte dazu werden Folterungen und Hinrichtungen vollzogen.“[55]
Damit wurde der Grundstein für die Erzählung vom „Todestango“ und der eigens dafür entstandenen Komposition gelegt, einschließlich der Fotografie, die als Beglaubigung diente. Mehr noch gaben die sowjetischen Ankläger so in Nürnberg das Muster vor, dem seitdem nahezu alle Studien und Publikationen über Lemberg und das Lagerorchester Janowska sowie seines angeblich prominentesten Stücks gefolgt sind, einschließlich der großen Gedenkstätten.[56]
[1] The International Military Tribunal, Trial of the Major War Criminals. Documents and other Material in Evidence. Numbers 2239-PS to 2582-PS. Vol. 30, Nürnberg 1947, S. 395.
[2] Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Bonn 2020, S. 15.
[3] Meines Wissens gab es nur noch im KL-Buchenwald ein Lagerorchester mit Musikern in Uniformen. Dazu schreibt Eugen Kogon: „Bei Besichtigung des Lagers durch auswärtige Besuche mußte die Lagerkapelle regelmäßig fröhliche Weisen spielen. Um einen noch großartigeren Eindruck hervorzurufen, wurde sie 1941 mit Uniformen der königlich-jugoslawischen Garde durch die SS, die das farbenreiche Zeug als ,Beutegut‘ anschleppte, eingekleidet. Mit ihren Maskierungen und dem ganzen übrigen Lagertamtam sahen die Mitglieder der Musikkapelle von da an wie Zirkusdirektoren aus.“ Kogon, Eugen, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, 47. Aufl., München 2015 (zuerst 1946), S. 153.
[4] Über die Bedeutung solcher Bildelemente siehe Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“, Göttingen 2020, S. 291ff.
[5] David Kahane, Lvov Ghetto Diary, Amherst 1990, S. 89.
[6] Wassili Grossman/Ilja Ehrenburg u.a. (Hg.), Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 178.
[7] Bundesarchiv Ludwigsburg (BAL) 162/29309, Bl. 3.
[8] Thomas Sandkühler, „Endlösung“ in Galizien. Der Judenmord in Ostpolen und die Rettungsinitiativen von Berthold Beitz 1941-1944, Bonn 1996, S. 187.
[9] Zit. nach: Leon W. Wells nach der teilweisen Übersetzung seines Tagebuchs „Die Todesbrigade“ aus dem Polnischen ins Deutsche, Ludwigsburg 1967 (StAL E 317 III_Bü 1722).
[10] Michał Maksymilian Borwicz, Die Universität der Mörder, in: Frank Beer/Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hg.), Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947. Berichte der Zentralen Jüdischen Historischen Kommission, Berlin 2014, S. 65-130, hier S. 121.
[11] The International Military Tribunal, Documents, Vol. 30, S. 395.
[12] Auch von anderen Stücken, seien es Märsche oder Opern, sind keine Noten gefunden worden. Auch wenn sich anführen ließe, dass die Deutschen vor ihrer Flucht vor der Roten Armee viele Dokumente vernichtet haben, die als Beweise ihrer Verbrechen hätten dienen können, stellt sich die Frage, ob Notenblätter zu jener Kategorie Dokumente gehört haben, die es vordringlich zu beseitigen galt.
[13] Szymon Laks, Music of Another World, Evanston, Ill. 2000 (zuerst Paris 1948), S. 44.
[14] Leon W. Wells, Ein Sohn Hiobs, München 1963, S. 151.
[15] Siehe die grundlegende Studie von Guido Fackler, „Des Lagers Stimme“ – Musik im KZ. Alltag und Häftlingskultur in den Konzentrationslagern 1933-1936, Bremen 2000, sowie Gabriele Knapp, Das Frauenorchester in Auschwitz: musikalische Zwangsarbeit und Bewältigung, Hamburg 1996.
[16] Vgl. Laks, Music, S. 53.
[17] Als Julag („Judenlager“) bezeichneten die deutschen Besatzer das Anfang Januar 1943 verkleinerte Ghetto in Lemberg.
[18] Philip Friedman, The Destruction of the Jews of Lwów. Essays on the Holocaust, in: ders., Roads to Extinction, New York 1980, S. 244-321, hier S. 289.
[19] Sandkühler, „Endlösung“, S. 226.
[20] Sandkühler, „Endlösung“, S. 226.
[21] Uri Lichter, In the Eye of the Storm, New York 1987, S. 51.
[22] Tadeusz Zaderecki, Lwów under the Swastika. The Destruction of the Jewish Community through the Eyes of a Polish Writer, Jerusalem 2018, S. 390.
[23] Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, 6., Aufl., Frankfurt a.M. 2008, S. 79.
[24] Lichter, In the Eye of the Storm., S. 52.
[25] Joseph Wulf, Musik im Dritten Reich. Eine Dokumentation, Gütersloh 1963.
[26] Hans-Jörg Koch, Das Wunschkonzert im NS-Rundfunk, Köln 2003, S. 6.
[27] Thomas Sandkühler, Das Fußvolk der „Endlösung“, Darmstadt 2020, S. 184.
[28] Aharon Weiss, Janowska, Vol. 2 E-K, in: Encyclopedia of the Holocaust, hg. v. Israel Gutman u.a., New York 1990, S. 733-735, hier S. 735.
[29] Eberhard Jäckel/Peter Longerich/Julius H. Schoeps (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust. Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden, Bd. II: H-P, 2. Aufl., München 1998 (zuerst Berlin 1993), S. 658.
[30] Das USHMM gibt als Datum „before 1943“ an, https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa10008 [20.10.2022].
[31] Vgl. Sandkühler, „Endlösung“, S. 190. Sandkühler schreibt, dass das Zwangsarbeitslager Janowska am ehesten mit dem KL Lublin vergleichbar gewesen sei. Bei der „Endlösung“ hätten „beide Lager eine multifunktionale Rolle (Arbeitslager, Vernichtungs- bzw. Tötungslager, ‚Durchgangslager‘)“ gespielt. Ebd., S. 191. Die genaue Zahl der Opfer ist nicht bekannt. Laut Dieter Pohl dürften dort 35.000 bis 40. 000 Juden ermordet worden sein. Die von den sowjetischen Behörden lancierte Zahl von 200.000 Opfern halte einer genauen Prüfung nicht stand. Dieter Pohl, Nationalsozialistische Judenverfolgung in Ostgalizien, München 1994, S. 338.
[32] David Kahane, Lvov Ghetto Diary, Amherst 1990; Leon W. Wells, Ein Sohn Hiobs, München 1963; Joachim Schoenfeld, Holocaust Memoirs, Hoboken (New Jersey) 1985; Michał Maksymilian Borwicz, Universität der Mörder, in: Beer/Benz/Distel (Hg.), Nach dem Untergang, Berlin 2014, S. 65-130; Samuel Drix, Witness to Annihilation. Surviving the Holocaust, a Memoir, Washington 1994.
[33] Siehe Leon Weliczker Wells, The Janowska Road. Survival in a Nazi Death Camp, New York 2014, S. 238 (zuerst 1963); Joachim Schoenfeld, Holocaust Memoirs. Jews in the Lwów Ghetto, the Janowski Concentration Camp, and as Deportees in Siberia, Hoboken, New Jersey 1985. Die Fotos befinden sich im Bildteil zwischen den Seiten 145 und 146.
[34] Soweit es Fotografien von Mitgliedern der Lager-SS gibt, entstanden sie im Zuge der juristischen Aufarbeitung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen im sogenannten Tarnopol- und Lemberg-Komplex in den 1960er-Jahren.
[35] Außer den bereits genannten Werken: Ernst Klee/Willi Dreßen (Hg.), „Gott mit uns“. Der deutsche Vernichtungskrieg im Osten 1939-1945, Frankfurt a.M. 1989, S. 145; Robert Marshall, In the Sewers of Lvov. The Last Sanctuary from the Holocaust, London 1990 (Fototeil zwischen den Seiten 46 und 47); John Felstiner, Paul Celan. Eine Biographie, 3. Aufl., München 2014, S. 57; Ola Hnatiuk, Courage and Fear, Boston 2019 (Titelseite); Yuri Wynnytschuk, Tango śmierci, Lviv 2014 (Titelseite), dt. Jurij Wynnytschuk, Im Schatten der Mohnblüte, Innsbruck 2014; Michał Maksymilian Borwicz, The University of Criminals. The Janowska Camp in Lviv 1941-1944, Krakau 2014 (Titelseite); Lutz C. Kleveman, Lemberg. Die vergessene Mitte Europas, Berlin 2017, S. 284.
[36] Wie diese Legende entstand und die Erinnerung der Überlebenden beeinflusste, habe ich in einer Studie nachgezeichnet: Dirk E. Dietz, „Der Todestango“. Ursprung und Entstehung einer Legende, Bielefeld 2022.
[37] Wulf, Musik, S. 447.
[38] Sie ist noch bis zum 30. Mai 2023 in der ARD-Mediathek verfügbar, https://bit.ly/Geheimkommando1005 [20.10.2022]. Die Dokumentation (Buch und Regie: Ingolf Gritschneder) kommt nicht ohne Übertreibungen aus. So heißt es ab Minute 12:30: „Ein Lagerorchester musste sogar zur Unterhaltung seiner Peiniger spielen, stundenlang, bis die Finger bluteten.“ Dafür gibt es keine Belege. Weiter heißt es (ab 12:59): „Der Holocaust durch Kugeln – dessen ganze Grausamkeit wird erst heute sichtbar. Massenmord zu klassischer Musik.“ Im Hintergrund wird „Palladio“ von Karl Jenkins (1996 veröffentlicht) eingeblendet. Wie Gritschneder darauf kommt, von „klassischer Musik“ zu sprechen, ist rätselhaft, zumal im Zusammenhang mit einem „Todestango“.
[39] Jäckel/Longerich/Schoeps (Hg.), Enzyklopädie des Holocaust, Bd. IV: Anhänge und Register. 2. Aufl., München/Zürich 1998, S. 1758.
[40] Inzwischen hat das GHF die Bildlegende geändert: „The orchestra of inmates in the Janowska camp playing during an execution of prisoners“, https://bit.ly/gfh-Orchester [20.10.2022].
[41] „At the back of the photograph it was written that the copyrights belong to the Imperial War Museum in London. The photographer at the both of them is Herman Lewinter from New York. It is completely clear that he did not photograph in Janowska.“ (Email vom GFH vom 29. September 2021 an den Verfasser).
[42] IWM Collections: Photographs: The German Occupation of Poland, 1941-1945, © IWM NYP 49947, https://www.iwm.org.uk/collections/item/object/205194341 [20.10.2022].
[43] https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa10008 [20.10.2022]. Eduardo Bianco (1892-1959) war ein argentinischer Orchesterleiter, der im Jahr 1927 das Stück „Plegaria“ (Gebet) komponiert hatte, das als sein größter Erfolg gilt. Er gastierte in vielen europäischen Hauptstädten, darunter Warschau (1936), Moskau (1936) und Berlin (März 1939, Oktober/November 1940 und März 1942).
[44] Erstaunlich ist, dass Yakub Mund den Todestango „komponiert“ und zugleich eine bereits vorhandene Melodie, nämlich den Tango „Plegaria“ des Tangokomponisten und Orchesterleiters Eduardo Bianco, in Anspruch genommen haben soll. Gebräuchlich war in Konzentrationslagern, bekannte Melodien mit neuen Texten zu versehen. Wie das USHMM auf die Verbindung von Todestango und „Plegaria“ von Eduardo Bianco stieß und wie triftig sie ist, untersuche ich in meiner Studie: Dietz, „Todestango“, S. 160ff.
[45] https://photos.yadvashem.org/photo-details.html?language=en&item_id=100050&ind=0 [20.10.2022].
[46] International Military Tribunal, Trial of the Major War Criminals, Vol. 7, S. 549.
[47] Mit vollem Namen hieß sie „Außerordentliche Staatliche Kommission zur Feststellung und Untersuchung von Verbrechen und Schäden, die vom deutsch-faschistischen Okkupator und seinen Mittätern den Bürgern, Kolchosen, öffentlichen Organisationen, Staatsunternehmen und Einrichtungen der UdSSR zugefügt wurden.“ Vgl. Stefan Karner, Material für „Vergeltung“ und Kampagnen: Zur Arbeit und Instrumentalisierung der „Außerordentlichen Staatlichen Kommission“ der Sowjetunion, in: Forschungen zum Nationalsozialismus und dessen Nachwirkungen in Österreich Festschrift für Brigitte Bailer, hg. v. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Wien 2012, S. 385-397, hier S. 386. Zur Arbeitsweise der ASK siehe besonders: Marina Sorokina, People and Procedures, Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 6 (2005), H. 4, S. 798-831.
[48] Karner, Material, S. 385.
[49] Eine deutsche Übersetzung dieses Berichts ist im Bundesarchiv, Außenstelle Ludwigburg, BAL B 162/29309, archiviert.
[50] Protokoll der Lemberger ASK vom 1.-6. November 1944, Bundesarchiv Ludwigsburg BAL B 162/29309 Bl. 18-51. In den 1960er Jahren mussten sich 16 Mitglieder der ehemaligen Lager-SS des Janowska-Lagers vor dem Stuttgarter Landgericht wegen ihrer Teilnahme am Völkermord an den Juden verantworten. Das Verfahren im sogenannten Lemberg-Tatkomplex fand an 142 Verhandlungstagen von Oktober 1966 bis April 1968 statt. Dafür hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart im Zuge eines Rechtshilfeersuchens Berichte von Zeugen und Überlebenden des Janowska-Lagers angefordert, welche die ASK kurz nach der Befreiung Lembergs im Juli 1944 vernommen hatte. Es handelt sich um rund 400 Seiten Vernehmungsprotokolle, die Grundlage des abschließenden ASK-Protokolls vom November 1944 waren. Keiner der dort angehörten Janowska-Überlebenden erinnerte sich an einen Todestango, viele aber an ein Orchester.
[51] Bundesarchiv Ludwigsburg BAL B 162/29309, Bl. 29.
[52] Die 1930 gegründete Zeitung „Moscow News“ richtete sich vor allem an englischsprachige Fachkräfte in der Sowjetunion, an Reisende und Englisch-Studierende. Sie stellte ihr Erscheinen im Jahr 2014 ein.
[53] Siehe zu Stalins neuer Diktion: Leonid Luks, Zum Stalinschen Antisemitismus – Brüche und Widersprüche, in: Jahrbuch für historische Kommunismusforschung (1997), S. 9-50, hier S. 9.
[54] International Military Tribunal, Trial of the Major War Criminals, Vol. 7, Numbers 2239-PS to 2582-PS, S. 451.
[55] International Military Tribunal, Trial of the Major War Criminals, Vol. 30, S. 395.
[56] Auch die Personenangaben gehen vielfach ohne Prüfung darauf zurück. So heißt es in der Bildlegende des „Izvestija“-Berichts über die Fotografie des Orchesters: „Deutsche Aufnahme. Der Lagerkommandant Hauptsturmführer Warzok ist mit dem Kreuz markiert.“ Gemeint ist SS-Hauptsturmführer Friedrich Warzok, der das Janowska-Lager von Juli 1943 bis zur Liquidierung des Lagers am 19. November 1943 kommandierte. Unklar ist, wie die russischen Verantwortlichen ihn identifiziert haben wollen: Die Person, die auf der Fotografie zu sehen ist, steht mit dem Rücken zum Betrachter/zur Betrachterin und trägt eine große Schirmmütze, die den Kopf vollständig bedeckt – sie verwehrt damit jede Möglichkeit, sie zu erkennen. Gleichwohl folgen das Imperial War Museum und das Ghetto Fighters’ House diesen Angaben, während das United States Holocaust Memorial Museum „den Lagerkommandanten SS-Hauptsturmführer Fritz Gebauer erkannt“ haben will, https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa10008 [20.10.2022]. Richard Rokita, der von Juni bis ca. November/Dezember 1942 stellvertretender Kommandant des Janowska-Lagers war und angeblich das Orchester gründete sowie die Komposition des „Todestangos“ befahl, war laut Yad Vashem „SS-Sturmbannfuehrer“, https://bit.ly/Yad-Vashem_Rokita [20.10.2022]. Tatsächlich war er SS-Untersturmführer, also drei militärische Ränge darunter. Erst am 1. April 1944 wurde er zum SS-Obersturmführer befördert. Vgl. Sandkühler, „Endlösung“, S. 435. Ähnliches gilt für eine weitere Fotografie, die einen SS-Offizier zu Pferd vor dem Haupttor des Janowska-Lagers zeigt. Laut USHMM soll es sich hierbei um den Kommandanten Gustav Willhaus handeln, https://collections.ushmm.org/search/catalog/pa1041908 [20.09.2022], während das GFH die Person als Friedrich Warzok kennzeichnet: „Franz Warzog (richtig Warzok, d. Vf.) commandant of the Janowska camp, posing beside the entrance gate to the camp.“ Ghetto Fighters House Archives [20.10.2022].
Zitation
Dirk Dietz, „Todestango“?Über ein Foto aus einem NS-Lager in Lemberg/Lviv, in: Visual History, 24.10.2022, https://visual-history.de/2022/10/24/dietz-todestango/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2426
Link zur PDF-Datei
Dieser Text wird veröffentlicht unter der Lizenz CC BY-NC-ND 4.0. Eine Nutzung ist für nicht-kommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle zulässig. Im Artikel enthaltene Abbildungen und andere Materialien werden von dieser Lizenz nicht erfasst. Detaillierte Angaben zu dieser Lizenz finden Sie unter: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de