„Ich will keine Cowboys, die auf Dinosauriern reiten“
Der Geschäftsführer des avant-verlags Johann Ulrich im Interview
Seit mehr als 20 Jahren publiziert der avant-verlag mit Sitz am Weichselplatz in Berlin-Neukölln für Liebhaber:innen – von Grafik und Kunst, von Literatur und Wort, von Comics und Graphic Novels. Mit Neugier und viel Herz werden aktuelle Bücher internationaler Größen und einzigartige Neuheiten sorgfältig ausgewählt, um zu zeigen, „was der Comic heute ist: ein sich stetig entwickelndes Medium mit literarischer Qualität“.[1] Ausgezeichnet wurde der avant-verlag dafür sowohl 2020 als auch 2021 mit dem Deutschen Verlagspreis.[2] Vor wenigen Wochen kam außerdem die Auszeichnung „Großer Berliner Verlagspreis“ für aus dem Mainstream der Verlagslandschaft herausragende Publikationen dazu.[3] Im Gespräch mit Public Historian und Visual History-Redakteurin Josephine Kuban gibt der Verlagsgründer Johann Ulrich Einblicke in das unverwechselbare Profil des avant-verlags, aber auch den deutschen Comic- und Graphic Novel-Markt sowie die Welt der Geschichtscomics.
Josephine Kuban: Herr Ulrich, wie sind Sie vom begeisterten Comic-Leser zum Graphic Novel-Verleger geworden?
Johann Ulrich: Meine Faszination für Comics bestand schon, bevor ich zur Schule ging: Ich bin mit Comics groß geworden. In den späten 1970er und 1980er Jahren kam dann immer mehr dazu, zum Beispiel franko-belgische Alben oder Underground-Comics aus den USA. Die waren für heranwachsende und erwachsene Leser wie mich interessant, sodass mich diese Leidenschaft nie verlassen hat. Denn auch das Medium selbst wurde in dieser Zeit erwachsen.
Im Jahr 2001 war ich das erste Mal auf der Frankfurter Buchmesse und besuchte eine Veranstaltung zu „Neuen Tendenzen im französischen Autorencomic“. Die vorgestellten Bücher waren großartig, aber es gab nicht eines davon in deutscher Sprache! Als Leser und Fan dachte ich mir: „Meine Güte, wir hier in Deutschland kriegen nur das Zeug zu lesen, was seit langem abgehangen und vor zehn+ Jahren erschienen ist. Dieses frische, aufregende Material gibt es gar nicht für deutsche Leser:innen.“ Und mir kam der Gedanke: „Wenn das keiner macht, dann mache ich das selbst.“ Die Geburtsstunde, wenn man so will, war also einfach aus der Enttäuschung heraus entstanden.
Noch im gleichen Jahr kamen die ersten beiden Bücher heraus, und damit fing das peu à peu an. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt selbst einen Comicladen in Berlin mit zwei Kollegen. Den Verlag habe ich anfangs also nur nebenbei betrieben.
Comics und Graphic Novels in der Verlagswelt
Sie haben 2008 gemeinsam mit anderen Verlagen einen Flyer für den Buchhandel veröffentlicht: „Was ist eine Graphic Novel?“ Warum war das nötig?
Das war damals eine Marketingidee, federführend umgesetzt von den beiden Verlagen Reprodukt und Edition Moderne, aber eben auch von avant. Die Buchhändler:innen waren zu diesem Zeitpunkt damit beschäftigt, die Comics aus ihrem Sortiment herauszuwerfen. Und nun kamen wir und sagten: „Es gibt jetzt Graphic Novels, eine andere Form von Comics, die auch euer literarisches Publikum erreicht.“ Soweit ich das beurteilen kann, hat es ganz gut funktioniert. Es gibt nach wie vor Buchhandlungen, wo die Graphic Novels aus dem Eingangsbereich verschwinden und irgendwo hinten im Nebenzimmer wieder auftauchen. Aber es gibt auch solche, die das ausprobieren. Es ist ein Auf und Ab, aber im Großen und Ganzen bin ich schon zufrieden, weil wir diesen Platz seit einigen Jahren haben und den natürlich auch verteidigen wollen.
Aber diesen Kampf um einen Platz im Bücherregal müssen nicht nur Comics und Graphic Novels ausfechten, oder?
Nein, ich denke, es gibt generell einen großen Kampf um die Sichtbarkeit im Buchhandel. Letztendlich geht es auch immer um die Frage: Kann der Buchhändler oder die Buchhändlerin etwas mit Comics und Graphic Novels anfangen, liest sie die vielleicht selbst oder kann sie eloquent die Kundschaft beraten? Wenn ja, dann machen sie damit ganz erstaunliche und gute Umsätze.
Müssen wir eigentlich immer noch über das verfälschende Image von Comics als populäres Medium für Kinder, das keine ernsten Themen aufgreift, diskutieren?
Ich habe im Literaturhaus in München eine Dame kennengelernt, die war 87 Jahre alt und kauft sich jeden Monat eine Graphic Novel. Ich dachte, sie sei unsere älteste Leserin, aber ihr Mann teilt das Hobby, und er ist noch zwei Jahre älter. Wir erreichen inzwischen also auch eine ganz andere Leser:innenschaft.
Ich habe stattdessen eher das Gefühl, dass wir die Altersgruppe zwischen 15 und 25 Jahren kaum erreichen. Die meisten denken, dass hauptsächlich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Graphic Novels kaufen, aber das stimmt nicht. Ich glaube, in diesem Alterssegment wird allgemein wenig Geld für Bücher ausgegeben, und das betrifft Graphic Novels genauso wie andere Literatur. Comics sind auch ein Luxusprodukt.
Auf Ihrer Verlagsseite ordnen Sie Graphic Novels und Comics zwischen moderner Grafik, Kunst und Literatur ein – warum?
Es gibt ja nicht „den“ Comic. Es gibt die Superhelden-Comics, die in den USA in Heften erscheinen und später gesammelt aufgebunden werden. Auch die bezeichnen die Verlage als Graphic Novels. Wir in Deutschland sind sehr von den franko-belgischen Comics geprägt, ob das jetzt „Tim & Struppi“ oder „Asterix“ sind. Das sind im Grunde die klassischen europäischen Serien.
Aber Graphic Novels sind Bücher zu einem Thema, und das soll möglichst umfassend behandelt werden. Ob es dann 120 Seiten sind, wie „drüben!“ von Simon Schwartz, oder 480 Seiten, wie „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ von Ulli Lust, das ist letztendlich dem Autor überlassen. Denn das Thema soll natürlich optimal umgesetzt sein. Erst einmal muss also die Vision oder die Idee der Autor:innen überzeugen, sodass wir als Verlag mit ihnen und dem Buch etwas machen wollen. Wir als kleiner Verlag können eigentlich nur über das Thema arbeiten. Unsere ganze Pressearbeit, das Marketing funktionieren meistens darüber.
Das bedeutet aber auch, dass die Ästhetik, die Grafik und das Künstlerische erst einmal hintenanstehen, oder?
Ja, leider ist das so. Also die Bücher, die ich aufgrund ihrer Ästhetik sehr schätze, sind oftmals die, die wir am allerwenigsten verkaufen. Denn da fehlt uns der Kniff, das an den Mann und an die Frau zu bringen. Und um nur über die Ästhetik zu gehen, dafür ist der Comic- oder Graphic Novel-Markt in Deutschland noch zu klein, noch zu sehr in den Anfängen. In anderen Regionen wie Italien oder Frankreich hat die Ästhetik einen höheren Stellenwert.
Dort gibt es natürlich auch Autor:innen, zum Beispiel in Frankreich, wie Mathieu Sapin, die gefeiert und gekauft werden. Da werden in der ersten Woche 100.000 Exemplare verkauft. Da steht eine Industrie dahinter im Gegensatz zu Deutschland, wo wir dann doch eher Auflagen zwischen 1000 und 2000 Stück fahren. Wenn du 100.000 Bücher verkaufst, kannst du natürlich ein anderes Marketing und mehr Werbung machen.
Einen Comic zu machen, bedeutet nicht immer, die Geschichte selbst zu schreiben und auch zu zeichnen. Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit von Schriftsteller:innen und Zeichner:innen als Alleinstellungsmerkmal des Genres?
Muss nicht, aber oftmals ist es ja so – gerade bei deutschen Graphic Novels in ihrem individuellen Ausdruck sind Text und Bild meistens aus einer Hand. In anderen Ländern ist es häufiger so, dass es einen oder eine Autor:in gibt und einen oder eine Zeichner:in. An sich ergibt das auch Sinn: Jemand, der gut erzählen kann, muss ja nicht unbedingt gleichzeitig gut zeichnen können und umgekehrt. Diese Arbeitsteilung ist an sich schon ein Zeichen für mehr Professionalität. Ich glaube, dass es manchmal ganz fruchtbar sein kann, wenn es ein Ringen zwischen den Autor*innen (Text & Zeichnung) gibt.
Der Dialog zwischen Kunst und Literatur ist definitiv eine Stärke des Genres. Was zeichnet es noch aus?
Der Comic hat gewisse Stärken auch gegenüber dem geschriebenen Roman zum Beispiel: Man muss nicht wie bei Manns „Buddenbrooks“ auf fünf bis sechs Seiten das Innere eines Wohnzimmers beschreiben. Du kannst das im Prinzip mit einem schönen großen Eröffnungspanel machen und durch die Zeichnungen auch das Tageslicht und damit die Stimmung festlegen. So kannst du dich mehr auf die Dialoge konzentrieren. Wenn das alles gut funktioniert, kann das eine Stärke dieses Mediums sein.
Eine Literaturadaption als Graphic Novel, die dem Leser das, was im Roman steht, erzählt und dabei eventuell auf 80 Prozent der Textmenge verzichtet – quasi eine Digest-Version von dem Roman –, braucht kein Mensch. Ich würde so etwas nicht verlegen. Wenn ich eine Literaturadaption verlege, dann muss sie zumindest in der grafischen Umsetzung dem Original etwas Neues beifügen oder einen Aspekt betonen, sodass sie einen Mehrwert schafft. Und wenn sie das nicht tut, können das gerne andere Verlage machen. Also eigentlich ist unser Programm ein bisschen für fortgeschrittene Comic- und Graphic Novel-Leser:innen!
Das Profil des avant-verlags
Kommen wir konkret zum avant-verlag. Was waren die größten Herausforderungen der letzten 20 Jahre?
Das waren vor allem die ersten beiden Bücher: „anita“ von Stefano Ricci und Gabriella Giandelli aus Italien sowie ein Buch aus Spanien „Berlin 1931“ von Felipe Hernandez Cava geschrieben und von Raúl gezeichnet. Dieses Buch wurde 2001 nach Erscheinen groß besprochen, zwei Seiten in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, und war innerhalb eines Jahres ausverkauft. Das „anita“-Buch wurde kaum besprochen und hat sich dementsprechend schleppend verkauft. Das war die Resonanz auf die erste Produktion und damit auch die erste Lernerfahrung: „Es kann klappen, es muss aber nicht klappen. Du musst genau aufpassen, was du verlegst und auf was du dich einlässt.“
Und was waren die bisher größten Erfolge?
Ein paar Jahre später hatten wir dann einen großen, ersten Erfolg mit „Die Katze des Rabbiners“ von Joann Sfar – ein Buch (oder eine Serie in dem Fall), die Humor hat und den Leser:innen witzige Einblicke in das Judentum bietet. Die Serie wird nach wie vor fortgesetzt.
Ein richtiger Game-Changer war das Jahr, in dem wir die beiden Debüts von deutschen Autoren gemacht haben: von Ulli Lust „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ und „drüben!“ von Simon Schwartz. Beide behandeln autobiografische Themen und sind Titel, die wir in sehr viele Länder weiterverkaufen konnten. Von da an waren wir nicht mehr nur ein Verlag, der Lizenzen kauft, um eine deutsche Ausgabe zu veröffentlichen, sondern wir haben unsere eigenen Inhalte geschaffen und diese in andere Länder exportiert.
Und das ist jetzt nach 20 Jahren das, was uns auszeichnet: Wir importieren nach wie vor Bücher aus Frankreich, Belgien, den Niederlanden und natürlich außereuropäischen Ländern wie Nigeria, Brasilien und Argentinien, um nur einige zu nennen. Wir haben einen geweiteten Blick auf das, was international passiert, und konzentrieren uns folglich nicht nur auf franko-belgische Stoffe. Außerdem veröffentlichen wir mehr und mehr deutsche Zeichner:innen, oftmals als Debüt wie Julia Zejn, Hannah Brinkmann, Lara Swiontek oder die kürzlich preisgekrönte Daniela Heller. So wurde „Der Duft der Kiefern“, die erste Graphic Novel von Bianca Schaalburg, zum Beispiel gerade mit dem „Jugendliteraturpreis – Sachbuch“ 2022 ausgezeichnet.
Geschichte(n) erzählen in Comic und Graphic Novel
Bleiben wir einmal bei der Vergangenheit, denn „Geschichte“ ist auch eine von zwölf Rubriken, in die der avant-verlag seine Graphic Novels sortiert. Welche Geschichtsthemen landen denn so zwischen den Buchdeckeln?
Wenn wir von Geschichtsthemen sprechen, denken wir oft an große Konflikte. Aber das muss nicht der Fall sein. Wir haben zum Beispiel auch Bücher über die Geschichte des Kreuzworträtsels. Darin verbirgt sich ganz viel Zeitgeschichte, was man auf den ersten Blick nicht vermutet. Aber wenn man das Buch liest, stellt man fest, dass Kreuzworträtsel in jedem Land und zu jeder Zeit andere Eigenheiten bieten und auch anderen Regeln folgen. Das Buch heißt „Fun“ und ist von Paolo Bacilieri. Er bringt all diese Zeitdokumente – Frisuren, Mode, Architektur, Technik, Autos – so mühelos mit ein. Das fließt ihm einfach aus dem Stift – sein Artwork ist zum Niederknien.
Dann haben wir auch Bücher, die sich eher klassisch mit einem bestimmten zeitgeschichtlichen Ereignis beschäftigen, zum Beispiel „Auf dunklen Wegen“ von David B. Dieses Buch spielt kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Triest/Rijeka und ist im Grunde auch eine Liebesgeschichte, in der die Leser:innen drei bis vier Charaktere in dieser tumultartigen, verworrenen Epoche begleiten und etwas über die Region in jener Zeit erfahren.
Demgegenüber stehen Arbeiten mit einer journalistischen Ausprägung, beispielsweise „Der Riss“ von den beiden Spaniern Guillermo Abril, der für große spanische Zeitungen schreibt, und Carlos Spottorno, ein preisgekrönter Fotograf. Die beiden haben eine Graphic Novel aus zehntausenden Fotos entwickelt, die sie auf ihren Reisen gemacht haben und die zusammen quasi eine Reportage zu den Außengrenzen der Europäischen Union ergeben. Sie bebildern die Fliehkräfte an den Grenzen und die Probleme der EU. Das ist ganz aktuell, aber auch Zeitgeschichte. Die Ästhetik ist großartig: Wie die Fotos koloriert sind und sich ergänzen, das hatte ich vorher noch nie gesehen. Das ist meiner Meinung nach ein dritter und ganz anderer Weg von Geschichtscomic. Diese journalistischen Arbeiten würde ich nicht außen vor lassen wollen, wenn wir über Geschichte im Comic reden. Das ist fast ein eigenes Subgenre.
Ein anderes Thema sind Autobiografien:
In dem Buch „Von unten“ von Daria Bogdanska, einer polnischstämmigen Autorin, die in Schweden lebt, geht es letztendlich darum, wie sie in prekären Arbeitsverhältnissen als Immigrantin in Schweden zurechtkommen muss. Da finde ich das Thema interessant, aber es ist Geschichte, auch wenn es nur Geschichte von vor fünf Jahren ist. Inzwischen hat Frau Bogdanska sogar eine eigene Gewerkschaft gegründet. Wenn Bücher etwas bewegen können, finde ich das besonders beeindruckend.
Ein anderes Beispiel, obwohl das eher soziologische Betrachtungen sind, sind die Bücher von Liv Strömquist. Letztendlich ist „Der Ursprung der Welt“, also ihr erstes Buch, das bei uns erschienen ist, aber doch Geschichte, die Geschichte des weiblichen Genitals nämlich beziehungsweise wie es ignoriert und wie darüber gesprochen wird. Strömquist blickt zurück auf die Antike oder sogar Präantike, auf das Mittelalter und so weiter und zieht daraus wieder Schlüsse zu unserem heutigen Leben. Das sind Themen, aus denen ich einen Mehrwert ziehe.
Schwingt dabei Ihrer Meinung nach auch ein historischer Bildungsauftrag mit?
Also für mich persönlich in einem Graphic Novel-Verlag ist die Bildungsarbeit, wenn wir einen historischen Comic machen, ganz weit weg. Das ist nicht mein Job und interessiert mich daher erst an zweiter oder sogar dritter Stelle. Für mich ist viel vordergründiger, wie das Zusammenspiel zwischen Grafik und Textinhalt ist und ob das gut passt.
Damit bearbeiten Sie die Geschichtsthemen als Verleger nicht anders als beispielsweise politische und kulturelle Themen oder auch Musikthemen. Verstehe ich das richtig?
Ja, in der Tat, und für mich persönlich fällt die Trennung schwer. Was ist ein Geschichtsthema? Was heute sozial relevant ist, ist nächstes Jahr eventuell Geschichte. Wir stecken doch mittendrin.
Grundsätzlich kann ich aber sagen, mich interessieren Geschichtscomics eher aus der Sicht von ganz normalen Menschen, also sozusagen „von unten“. Wenn ich ein Buch über den Zweiten Weltkrieg veröffentliche, dann sicherlich aus der Perspektive von einer ganz normalen Person und nicht irgendwelchen Politikern oder Militärs. Wir haben ein solches Buch im Programm, das heißt „Auf den Spuren Rogers“. Der Autor Florent Silloray findet die Tagebücher seines Opas, der als Kriegsgefangener im Zweiten Weltkrieg in Deutschland als Zwangsarbeiter schuften musste. Er macht sich auf Recherchereise, fährt nach Deutschland und besucht die Orte, wo sein Großvater eingesperrt war oder Frondienst leisten musste. In Frankreich fand die Aufarbeitung dieser Zwangsarbeit jahrzehntelang gar nicht statt. Insofern ist es interessant, dass das jetzt einsetzt und auch Graphic Novels ihren Beitrag dazu leisten.
Trotzdem greifen Graphic Novels in der aktuellen Geschichtsvermittlung meiner Meinung nach häufig nur historische Inhalte auf, um damit vermeintlich ein jüngeres Publikum zu erreichen – ähnlich wie Sie es vorher über die Buchadaptionen beschrieben haben. Im avant-verlag scheinen Geschichtsthemen aber einen sehr viel organischeren und integrierten Platz zu haben.
Das freut mich, aber hat natürlich auch mit meinen persönlichen Vorlieben zu tun, weil ich mich selbst für Geschichte interessiere und insofern auch affin gegenüber solchen Stoffen bin. „Die Geschichte von Francine R.“ von Boris Golzio ist ein gutes Beispiel: Das Buch gab es schon vor zwei oder drei Jahren. Ich habe es damals gesehen, aber nicht wirklich gelesen. Ich fand es zu simplifiziert, was die Figuren angeht, gerade bei einem Thema aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Bei „Maus“ funktioniert das natürlich, indem der Autor Art Spiegelman schwarz-weiße Tierfiguren genutzt hat. Als mich dann Mitarbeiter:innen aus der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück anriefen, das Lager spielt eine Rolle in der Graphic Novel, und eine deutsche Veröffentlichung unterstützen wollten, befasste ich mich noch einmal länger mit dem Buch.
Manchmal braucht es einen Anstoß von außen, und dann passt auf einmal alles. Die Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte hat sogar dazu geführt, dass ein paar Details noch einmal umgezeichnet wurden, weil der Wissens- und Forschungsstand ein anderer ist als vor fünf oder sechs Jahren, als Golzio daran gearbeitet hatte. Ein Beispiel ist die Existenz eines Stacheldrahtzauns mit Holzpfosten, der in der deutschen Version hineingezeichnet wurde und so die Ausgabe aktualisiert. Das ist auch eine Verpflichtung für uns als Verlag. Und Boris Golzio hat das gern gemacht. Wir haben dann eben etliche Seiten ausgewechselt. Das war kein Problem.
Der Nationalsozialismus ist natürlich wirklich ein schweres Thema. Würden Sie sagen, es gibt Themen, die einfach nicht gut umgesetzt werden können, weil sie zum Beispiel visuell zu sehr emotionalisieren oder sogar überfordern?
Nein, also emotionalisierende Inhalte in Graphic Novels finde ich gerade gut und überhaupt nicht hinderlich. Ich persönlich, und das ist letztendlich vermutlich einfach mein Geschmack, lese ungern Science Fiction – Social Fiction dagegen mag ich sehr. Ich mache auch kein Fantasy – es gibt also einfach auch Genres, die ich nicht im Verlag haben möchte. Ich will keine Cowboys, die auf Dinosauriern reiten.
Eignen sich „reale“ Geschichten aus der Geschichte daher insbesondere für Comics und Graphic Novels?
Mir fällt eigentlich kein Vorteil ein, denn man hat zum Teil einen höheren Rercherche-Aufwand als bei einer rein fiktiven Geschichte. Aber schlussendlich finde ich das weder leichter noch schwerer. Vor allem im Lektorat ist es im Grunde fast der gleiche Aufwand wie bei einer fiktiven Geschichte.
Wie stehen Sie in diesem Zusammenhang zu Fußnoten in Comics?
Ich denke, es ist manchmal unumgänglich, weil viele Bereiche den deutschen Leser:innen nicht so geläufig sind, wenn es zum Beispiel explizit um ein Geschichtsdetail aus Frankreich oder Italien geht. Dort kennt es jeder, aber hier müsste man vielleicht eine Fußnote einfügen. Es stört mich aber auch nicht. Ich finde es als Leser überhaupt nicht störend, eine Fußnote zu haben. Ich weiß das eher zu schätzen und empfinde es als hilfreich. Teilweise arbeiten wir auch mit Historiker:innen zusammen, die beispielsweise ein Nachwort für die deutsche Ausgabe verfassen, um für die deutschen Leser:innen den Kontext herzustellen.
Das ist interessant, die Autor:innen ihre Graphic Novel machen zu lassen und dann eben ein solches Nachwort zu schreiben und damit eine Einordnung für das deutsche Publikum vorzunehmen.
Ich glaube, das wertet Bücher durchaus auf, und das ist ja unser Antrieb. Wir freuen uns, wenn unsere Autor:innen sagen, die deutsche Ausgabe ist jetzt aber wirklich die schönste. Darum geht es auch ein bisschen. Da steckt Ehrgeiz dahinter, der uns wirklich umtreibt.
Danke, Herr Ulrich, für das Gespräch!
[1] avant-verlag, https://www.avant-verlag.de/verlag/ [24.11.2022].
[2] Der Deutsche Verlagspreis wird seit 2019 jährlich als Kulturwirtschaftsförderungspreis an unabhängige Verlage in Deutschland zur Unterstützung für deren hervorragende Arbeit verliehen. Vgl. https://www.deutscher-verlagspreis.de/ [24.11.2022].
[3] Mit dem Berliner Verlagspreis werden seit 2018 Verlage ausgezeichnet, die mit ihren Publikationen im besten Sinne aus dem Mainstream der Verlagslandschaft herausragen. Vgl. https://berlinerverlagspreis.de/ [24.11.2022].
Zitation
Josephine Kuban, „Ich will keine Cowboys, die auf Dinosauriern reiten.“ Der Geschäftsführer des avant-verlags Johann Ulrich im Interview
, in: Visual History, 06.12.2022,https://visual-history.de/2022/12/06/kuban-ich-will-keine-cowboys-die-auf-dinosauriern-reiten-avant-verlag/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2457
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