Workshop: Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics

Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) Potsdam, 1.-2. Februar 2024

 

Organisation: Christine Bartlitz/Sarah Schöttler/Irmgard Zündorf (ZZF); in Kooperation mit Visual History – Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung

Bettina Köhler, „immertreu“, Ausschnitt, Comic-Plakat (2019) ©

Geschichte ist oft bilderlos. Daher werden Comics und Graphic Novels zunehmend zur visuellen Aufbereitung und Vermittlung historischer Ereignisse eingesetzt. Sie können neue Perspektiven aufzeigen, Bilder kreieren, wo es bisher keine gab, oder vorhandene Abbildungen in ihrer diskriminierenden Narration brechen. Viele historische Darstellungen sind aus ethischen Gründen belastet, und ein sensibler, kritischer Umgang mit ihnen setzt sich langsam durch. Daher wird von Museen, Gedächtnisinstitutionen und Medien zunehmend auf künstlerische Alternativen zurückgegriffen.

Das gilt für die Darstellung von NS- und anderen Verbrechen, von Diskriminierung und Rassismus z.B. in der Kolonialgeschichte, von sexualisierter und weiteren Formen von Gewalt sowie insgesamt für bilderlose Geschehnisse der Vergangenheit. Die künstlerischen Zeichnungen schaffen einen eigenen Zugang und verweisen damit sogleich noch einmal deutlicher als das historische Material auf die subjektive Konstruktion von (visuellen) Geschichtserzählungen.

In dem Workshop „Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics“ wollen wir in drei Panels sowie einem World-Café mit Comic-Künstler:innen den Einsatz von Comics und Graphic Novels in Publikationen, Ausstellungen, Filmen und Games sowie in VR-Anwendungen genauer in den Blick nehmen. Für welche Ereignisse und Themen werden sie in der Geschichts- und Erinnerungskultur genutzt? Wie und warum werden sie jeweils eingesetzt? Wie wird versucht, bislang marginalisierte Akteur:innen, aber auch Ereignisse sichtbarer zu machen? Wie wird Gewalt thematisiert? Schaffen Comics und Graphic Novels eher Distanz zur Vergangenheit oder besteht durch ihren Einsatz auch die Gefahr „emotionaler Authentizitätsfiktion“ (Christine Gundermann)? Verändern die künstlerischen Darstellungen tradierte Bilder und Narrationen in Hinblick auf Konstruktion, Quellenkritik und Leerstellen von Geschichtserzählungen? Ermöglichen die subjektiven Erzählungen eine stärkere Partizipation der Rezipient:innen?

In dem zweitägigen Workshop am ZZF in Potsdam wollen wir diesen Fragen in thematisch variierenden Kurzvorträgen anhand konkreter Praxisbeispiele aus Museen und Gedenkstätten sowie der Film- und Games-Branche nachgehen und die Chancen sowie Grenzen der Comics in der Geschichtsvermittlung diskutieren.

 

Programm

Donnerstag, 1. Februar 2024

14.00 Einführung Christine Bartlitz & Irmgard Zündorf (beide Potsdam)

14.15-15.00 Keynote: Christine Gundermann (Köln): Über den Drang des Verbildlichens. Einführende Gedanken zur Verarbeitung von Erinnerungen und Geschichte im Comic

Pause

15.15-17.00 Panel 1 „gedruckt“

Moderation: Sandra Starke (Potsdam)

Jörn Ahrens (Gießen): Die Gewalt der Geschichte und die Gewalt der anderen. Darstellungen im Comic

Ulrike Koppermann (Berlin): Was uns die Kamera nicht zeigt. Auswege aus einer restriktiven Perspektive

Patricia Vester (Potsdam): Decolonize Ansätze in Comics & Graphic Novels – Beispiele zum Einstieg in ein breites Thema

Pause

17.30-18.30 World Café mit Zeichnerinnen

Evgenia Gostrer (Berlin), Lisa Hölscher (Berlin), Sonja Hugi (Berlin), Bettina Köhler (Berlin)

ab 18.30 Uhr Kurzpräsentation Comic-Filme“ (+ Buffet vor Ort)

 

Freitag, 2. Februar 2024

9.00-10.45 Panel 2 „ausgestellt“

Moderation: Isabel Enzenbach (Berlin/Potsdam)

Lukkas Busche (Gardelegen): Das Massaker gezeichnet – Chance oder Tabubruch?

Maren Jung-Diestelmeier (Berlin): Doing Images – Doing Displays. Bilder in Ausstellungen als mehrzeitige Praktiken sichtbar machen

Anujah Fernando (Berlin): Ambivalenzen im kuratorischen Umgang mit Bildern in Ausstellungen im Themenbereich Kolonialismus und Migration

Pause

11.15-13.00 Panel 3 „gefilmt und gespielt“

Moderation: Jakob Saß (Potsdam)

Thomas Schuhbauer (Hamburg): Gegen den Strich – Graphic Novel in historischen Dokumentationen

Malte Grünkorn (Flensburg): Games, Comics, Nazis. Zur Funktion von gezeichneten Bildern in digitalen Spielen

Bettina Loppe (Potsdam): SPUR.lab – Co-Kreation an den Grenzen des Darstellbaren

Ende des Workshops

 

Kontakt: Christine Bartlitz / Irmgard Zündorf

Tel.: +49 331 28 991 14 / 13

E-Mail: bartlitz@zzf-potsdam.de, zuendorf@zzf-potsdam.de

Ort: Am Neuen Markt 9d, 14467 Potsdam

Der Workshop findet im Nebengebäude am
Neuen Markt 9d im großen Seminarraum
statt.

 

 

Um Anmeldung bis zum 26. Januar 2024 wird gebeten unter: bartlitz@zzf-potsdam.de

 

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Abstracts

 

Christine Gundermann

Über den Drang des Verbildlichens. Einführende Gedanken zur Verarbeitung von Erinnerungen und Geschichte im Comic

Geschichte, aber nicht langweilig und trocken, sondern ansprechend erzählt! So ähnlich warb man seit den späten 1990er Jahren für den Einsatz von Comics zur Geschichtsvermittlung. Was anfangs vor allem als lockendes Angebot für sogenannte bildungsferne Jugendliche galt, ist heute eine anerkannte Ausdrucksform der Präsentation von Geschichte, der Aufarbeitung von (eigenen) Erinnerungen und sogar eine herausfordernde Form von politisch-historischem Aktivismus. Dabei bewegen sich die heute auf dem Markt erhältlichen historisierenden Comics zwischen Kunst und Kitsch, zwischen Historiographie und Fiktion. Sie alle als Teil unserer Geschichtskultur und damit als wertvolle und reichhaltige Quelle ihrer Entstehungszeit wahrzunehmen, ist eine große Herausforderung. Im Vortrag soll daher neben einer kurzen historischen Einordnung des Geschichtscomics als Quelle das Augenmerk vor allem auf seinen Potenzialen für die historisch-politische Bildung liegen. Anhand von aktuellen Beispielen der Arbeit mit Comics in Gedenkstätten beleuchte ich sowohl konkrete Arbeitsformen als auch grundsätzliche Herausforderungen.

 

Jörn Ahrens

Die Gewalt der Geschichte und die Gewalt der anderen. Darstellungen im Comic

Geschichte ist niemals bilderlos. Selbst wenn sie über keine Bilddokumente verfügt, kann Geschichte überhaupt erst Geschichte werden, wenn sie auch erfolgreich in ikonografische Performanz übersetzt wird. Beim Comic wiederum hat sich in etwa seit den 1970er Jahren die Einsicht durchgesetzt, dass das Medium so stark differenziert ist, dass eine Perspektive auf den Comic, die Wirkungsästhetiken nur im Singular abfragt, nicht ausreichend sein kann. Der Vortrag fragt nach einer möglichen Respondenz zwischen Comics und Geschichte sowie danach, welche spezifische Rolle darin die Darstellung von Gewalt einnehmen kann.

 

Ulrike Koppermann

Was uns die Kamera nicht zeigt. Auswege aus einer restriktiven Perspektive

Fotoalben und Comics ähneln sich als Sequenzen fotografischer und gezeichneter Bilder – von Text begleitet und auf einander folgenden Seiten arrangiert. Vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeiten fragt der Beitrag, inwiefern die genuinen Stilmittel des Comics eine kritische Untersuchung von Fotoalben bereichern können. Das kreative Potenzial multimodaler Erzählweisen in Comics wird als Ausweg aus der restriktiven Perspektive eines Fotoalbums erprobt, dessen Bilder die SS 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau aufnahm.

 

Patricia Vester

Decolonize-Ansätze in Comics & Graphic Novels – Beispiele zum Einstieg in ein breites Thema

Ich möchte meinen illustrativen Ansatz in der Kulturvermittlung von Museen im Zusammenhang mit der Aufklärung über koloniale Kontexte teilen. Dazu stelle ich meine Arbeit für die Universitäten Jena und Erfurt als Artist in Residence zur Schulprojektentwicklung vor, teile von mir konzipierte Ausstellungsinterventionen, deren Herausforderungen und Resonanz, und lade zu einem Blick in mich inspirierende Graphic Novels und Comics ein, die koloniale Kontexte thematisieren. „To Go“ gibt es einen Minicomic zum Mitmachen.

 

Lukkas Busche

Das Massaker gezeichnet – Chance oder Tabubruch?

Informationen über ein schier unvorstellbares Massaker zu vermitteln, wenn Details nicht bebildert werden können oder sollen, ist schwierig. Es besteht die Gefahr, das Verbrechen zu reproduzieren und das Publikum emotional zu überfordern. Trotzdem wird in der Gedenkstätte Gardelegen ausgestellt, was man nicht sieht, nicht sehen möchte. Ist das vor diesem Hintergrund ein sinnvoller Ansatz?

 

Maren Jung-Diestelmeier

Doing Images – Doing Displays. Bilder in Ausstellungen als mehrzeitige Praktiken sichtbar machen

Anhand von Beispielen aus der Praxis sollen Strategien aufgezeigt werden, wie künstlerische und comicartige Gestaltungsmittel helfen können, das „Gemachtsein“ von historischen (Gewalt-)Bildern und die vielfältigen mit den Bildern verbundenen Handlungen (bis hin zur aktuellen Museumspraxis) sichtbar zu machen. Wie können mit den Spezifika des Mediums Ausstellung neue Formen des Umgangs mit Visualität gelingen, die eine kritische Auseinandersetzung mit „Bildlichkeit“ im Allgemeinen anregen? Wo liegen Fallstricke?

 

Anujah Fernando

Ambivalenzen im kuratorischen Umgang mit Abbildungen in Ausstellungen im Themenbereich Kolonialismus und Migration

Ausstellungen zu Migration und Kolonialgeschichte stehen vor der Herausforderung, dass ihre Quellengrundlagen häufig auf Herrschaftsarchiven basieren. Vor allem bei visuellem Material kommt erschwerend hinzu, dass den Abbildungen rassistische und exotisierende Stereotype eingeschrieben sind. Eine dekoloniale kuratorische Praxis zielt darauf ab, einen Umgang mit den strukturell produzierten Lücken im Archiv zu versuchen und zugleich bei Ausstellungsbesucher:innen einen dekolonisierenden Blick zu aktivieren, ohne das „Spektakel des Anderen“ (Stuart Hall) zu wiederholen. Der Kurzimpuls stellt anhand von aktuellen Ausstellungsbeispielen kuratorische Strategien in dem Feld vor.

 

Thomas Schuhbauer

Gegen den Strich – Graphic Novel in historischen Dokumentationen

Graphic Novel ist weit mehr als nur ein Mittel, um Geschehnisse zu bebildern, bei denen keine Kamera dabei war. Ihr Einsatz bestimmt die Tonalität des Films. Umgekehrt muss sie die angestrebte Tonalität des Films unterstützen. Kann Hitler lustig sein? Ist Rassismus ein Thema, das sich für die Umsetzung mit Graphic Novels eignet? Graphic Novels bieten Chancen, aber auch Risiken, wenn man sie in historischen Dokumentationen einsetzt. Vier unterschiedliche Beispiele aus eigenen Produktionen beleuchten das weite Feld.

 

Malte Grünkorn

Games, Comics, Nazis. Zur Funktion von gezeichneten Bildern in digitalen Spielen

Um die Massenverbrechen der Nationalsozialisten zu inszenieren und mit didaktischem Interesse erfahrbar zu machen, werden vermehrt digitale Spiele eingesetzt. Auch unter Nutzung gezeichneter Bilder, allerdings – im Vergleich zum Comic – in einem notwendigerweise interaktiven, medialen Zusammenhang. Im Vortrag soll zunächst ein Überblick über aktuelle Entwicklungen gegeben und anschließend ein Fokus darauf gelegt werden, wie gezeichnete Bilder in aktuellen Geschichtsspielen funktionieren.

 

Bettina Loppe

SPUR.lab – Co-Kreation an den Grenzen des Darstellbaren

„Wie erzählen und vermitteln wir NS-Geschichte im digitalen und virtuellen Raum? Wie gestalten wir hierbei die digitalen Narrative?“ Mit diesen Ausgangsfragen ist das SPUR.lab als Forschungslabor 2020 gestartet. Es ging um interdisziplinäres künstlerisches Forschen – um experimentelles Erproben und Analysieren dessen, wie sich die NS-Geschichte im virtuellen Raum darstellen lässt, ohne die kritische Distanz zu verlieren oder ethische und ästhetische Grenzen zu überschreiten. Anhand von praktischen Beispielen aus der Entwicklungsarbeit des Forschungslabs werde ich aufzeigen, wie wir uns der Darstellung des Undarstellbaren genähert haben, wo für uns die Grenzen des Darstellbaren lagen und wo wir vielleicht auch zu unterschiedlichen Sichtweisen dieser Grenzen gekommen sind.

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