Alles und Nichts
Die Bildstrategien Russlands und der Ukraine im Krieg
Mit einem Silberschälchen voll frischer Beeren und einem Tablett mit Petit Four zu jedem Teeservice begrüßte Wladimir Putin im Vorfeld des Muttertages am 25. November 2022 17 russische Soldatenmütter in seiner Residenz in Nowo-Ogarjowo. Dass die eingeladenen Frauen dieser inszenierten Lobpreisung von Kriegshelden und ihren Müttern kremltreue Bürgerinnen waren, überrascht wohl kaum. Der Umstand, dass Putin hieraus keinen Hehl machte, vielleicht schon. Es ist eine radikale Bildstrategie, die Russland nach über einem Jahr Krieg in der Ukraine verfolgt. Denn das russische Volk soll nicht nur die Medienberichterstattung des Kriegsfeindes und seiner Verbündeten infrage stellen. Das Bild per se wird seiner Legitimation beraubt.
Eines der eindrücklichsten Beispiele hierfür ist das Massaker von Butscha, das gleichzeitig die Unterschiede zwischen den ukrainischen und russischen Bildstrategien verdeutlicht. Das erste Bildmaterial, das nach dem Abzug der russischen Truppen das Ausmaß des Grauens zeigte, wurde nicht durch offizielle Berichterstatter:innen, sondern durch ukrainische Zivilist:innen in sozialen Netzwerken veröffentlicht. So teilte eine Frau am 1. April 2022 auf Twitter ein Video, das ihr Bruder ihr laut Beschreibung zugeschickt hatte. Aus einem Fahrzeug gefilmt, zieht die mit Leichen bedeckte Straße Butschas vorüber. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich das Video in den sozialen Netzwerken. Die Deutungshoheit über das Gesehene lag in diesem Moment bei den User:innen, die im partizipatorischen Akt des Teilens lokale Bildgenerierung mit globaler Bildrezeption vereinten.Ab dem 2. April berichtete auch die internationale Presse von Butscha. Doch erst einen Tag später begann in Reaktion auf den Aufschrei des Entsetzens eine russische Medienoffensive, in der Widersprüche der gezeigten Tatbestände vermeintlich aufgedeckt wurden. Hierzu analysierten russische Medien ukrainisches und internationales Bildmaterial aus Butscha und argumentierten beispielsweise, dass die Bilder eine wenig fortgeschrittene Leichenstarre zeigten. Dies weise darauf hin, dass die toten Zivilisten nachträglich vom ukrainischen Militär auf den Straßen Butschas drapiert worden seien. Auch wurde behauptet, dass auf dem Videomaterial zuckende Körperteile zu erkennen seien – ein Hinweis, dass es sich um Statisten handele. Teilweise wechselten sich Erklärungen ungeachtet ihrer gegenseitigen Inkonsistenz im selben Bericht ab. Diese Strategie des taktischen Irritierens widersetzt sich einer klassischen Bildstrategie im Krieg, in der bislang die Souveränität über das Bild eine Deutungshoheit über das Geschehen implizierte. Vielleicht erklärt diese „Unbild“-Strategie auch, warum große Teile der russischen Bevölkerung wenig Interesse am Krieg zeigen: Denn wenn das Bild nichts mehr wert ist, welchen Sinn hat dann noch eine Meinungsbildung auf Grundlage dessen?
Putin ist sich der politischen Macht des Bildes bewusst. Die sukzessive Repression unabhängiger Berichterstattung kulminierte im neuen Mediengesetz, das Putin am 8. März 2022 unterzeichnete und das seitdem oppositionelle Pressestimmen kriminalisiert. Daneben verfolgt der Kreml aber auch eine eigene Bildstrategie: Verwirrung stiften, Fakten anzweifeln und Misstrauen gegenüber Informationsquellen säen – seien sie ukrainischen, internationalen oder russischen Ursprungs.
In den russischen Staatsmedien wurde zu Beginn des Krieges das Bild zwar weniger als Beleg, aber dennoch als Legitimation für den Krieg genutzt. Der russische Fernsehsender Rossiya 24 zeigte am Vortag der Invasion am 23. Februar 2022 eine Landkarte der Ukraine mit Zeitachse, die Putins Worte aus seiner zwei Tage zuvor gehaltenen Rede visualisierte, die Ukraine sei aus „veräußerten Gebieten Russlands“ entstanden. Neben dem ersten Achsenpunkt, dem Vertrag von Perejaslaw im Jahr 1654, durch den die Ukraine mit Russland wiedervereint worden sei, teilte sich die Karte des Landes in Territorien auf, die Lenin und Stalin im Laufe der Geschichte an die Ukraine als „Geschenke“ übergeben haben sollen. Die Botschaft: Das Bild der Vergangenheit rechtfertigt das Geschehen der Gegenwart.
In der Ukraine waren es am Tag der Invasion vor allem die User:innen sozialer Netzwerke, die nahezu in Echtzeit Bild- und Videomaterial der russischen Angriffe verbreiteten. So zeigt ein auf Telegram veröffentlichtes Amateur-Video aus Dnipro vom 24. Februar 2022 um 4:53 Uhr morgens rot-erleuchtete Rauchsäulen über der Stadt. Nicht nur die User:innen in den sozialen Netzwerken, auch die ukrainischen Medien verfolgten den russischen Angriff durch das Material der lokalen Bildmacher und reproduzierten, wie die ukrainische Onlinezeitung „Dzerkalo Tyzhnia“, ihre Bilder. Aufgrund dieser Verschränkung von Bild und Ereignis transformiert die „Weltbeobachtung“, wie es der Kunst- und Medientheoretiker Peter Weibel formuliert hat, zur „Bildbeobachtung“. Jean Baudrillard ging noch einen Schritt weiter und erklärte, dass in diesen zeitgleichen Prozessen der Bildproduktion und -betrachtung Bild und Ereignis „ein und dieselbe Sache“ werden, wie er es in den Anschlägen des 11. Septembers 2001 erkannte.
Russische Presseorgane wählten eine andere Bildstrategie. So titelte die russische Zeitung „Kommersant“ am 25. Februar 2022 „Angriff und Bestrafung“. Man beachte: Es geht hier um den westlichen Angriff – illustriert mit einer Fotografie eines Konvois aus russischen Panzern und Geländewagen, die an sechs wartenden Soldaten vorbeifahren. Einer der Soldaten hält die Faust als solidarischen Gruß in die Luft. Titel und Bild zeigen keine Aktion eines Aggressors, sondern eine Reaktion, durch Notwendigkeit legitimiert. Die oppositionelle russische Zeitung „Novaya Gazeta“ berichtete über den russischen Angriffskrieg ohne Bild. Lediglich die Worte „Russland. Bombardiert. Ukraine.“ sind auf schwarzem Grund zu lesen. Die Wahl des Nicht-Bildes zeigt das Ausmaß des Schreckens, das die Bildredaktion zu ihrer Wahl führte: Kein Bild ist fähig, das Ereignis des Einmarsches zu repräsentieren.Im Verlauf des Krieges haben sich die Bildeinsätze beider Kriegsparteien verstetigt. Russland nutzt insbesondere das Staatsfernsehen, um mit Bildmaterial von Regierungsreden und Zeremonien das Nationalbewusstsein zu stärken. So fand am 7. März 2023 im Vorfeld des Weltfrauentages ein feierlicher Akt zu Ehren russischer Soldatinnen statt. Es sangen Kinderchöre, Blumensträuße wurden verschenkt und Medaillen – stellvertretend für die Heldentaten der kämpfenden Soldatinnen an einzelne Frauen verteilt. Aufschluss über den Krieg in der Ukraine gaben diese Bilder nicht. Dafür aber, gleich den Müttern an Putins Tee-Tafel, über das gewünschte Selbstverständnis als Nation: Nicht das Eigenwohl, sondern das Staatswohl stehe an erster Stelle. Es verwundert daher nicht, dass Individuen stets als Repräsentanten von Gruppen auftreten: Mütter, Soldaten, Ärzte.
In der Ukraine fiel am 7. März der bekannte Soldat Dmytro „Da Vinci“ Kotsyubaylo in der Schlacht um Bakhmut. Präsident Wolodymyr Selenskyj postete auf seinem Instagram-Profil noch am selben Tag ein Video, in dem er Kotsyubaylos für seinen Einsatz für das Land ehrte. Und obwohl in Russland und der Ukraine ebensolche Ehrungen kontinuierlich stattfinden, unterscheiden sich die Bildstrategien stark: Während die russischen Soldatinnen zu ihrer aufwendig inszenierten Ehrung anreisen mussten, um vom Verteidigungsminister Schoigu, und nicht Putin, ihre Abzeichen zu erhalten, trat Selenskyj für die Ehrung Kotsyubaylos persönlich an den Sarg des gefallenen Soldaten. Das Video wurde nur eine Stunde nach der Beerdigung auf Selenskyjs Instagram-Kanal hochgeladen.
Dieser Bildgebrauch kreiert gleichzeitig Nähe und Nahbarkeit: zwischen Ereignis und Bild, Staatspräsident und Individuum, Staat und Volk. Neben dem offiziellen Video wurde eine Vielzahl an Bildern von Kotsyubaylo in den sozialen Netzwerken verbreitet. Solch eine stetige Zirkulation von thematisch verwandten Bildern führt zu einer Wirkmacht, die sich nicht ausschließlich aus ikonischen Qualitäten speist und auf eine Verstetigung in Bildgedächtnissen abzielt. Sie formt zeitgleich ein plurales Bild, bestehend aus vielen Bildern, Produzenten und Distribuierenden.Die kontrastierenden Ikonologien finden ihren Höhepunkt in der medialen Inszenierung der Staatsoberhäupter Russlands und der Ukraine. Während sich Putin hinter großen Marmor-Tischen und stets im Anzug ablichten lässt, nimmt Selenskyj immer wieder selbst die Kamera in die Hand, um in Sweatshirt und Cargohosen zum ukrainischen Volk zu sprechen. Beide Inszenierungen zielen darauf ab, Entschlossenheit zu zeigen. Und doch treffen in Putins und Selenskyjs Darstellungsweisen Distanz auf Nahbarkeit, Tradition auf Fortschritt, Geschichte auf Zukunft.
Auch die Richtung, in die das Bild weisen soll, unterscheidet sich: Selenskyj adressiert neben dem ukrainischen Volk auch internationale Unterstützer und nutzt das Bild folglich, um sich nach außen zu öffnen. Putin musste im Verlauf des ersten Kriegsjahres seine Strategie als resoluter Führer zwar abschwächen, da die Kremltreue des russischen Volkes durch die Mobilmachung und internationale Sanktionen ins Wanken kam. Die nun verfolgte Bildstrategie sollte dennoch keine authentische Nahbarkeit vermitteln. So zementierte das Medienereignis von Putins Besuch in Mariupol die Bildstrategie des Kremls: Bis ins kleinste Detail inszeniert, folgt man Putin – mal am Steuer eines Autos sitzend, mal mit vermeintlichen „Passanten“ in ein Gespräch verwickelt – auf seiner orchestrierten Reise durch die annektierte Stadt. Die offensichtliche Kontrolle über derartige Inszenierungen verbildlicht, dass der Kreml selbst in Momenten der vermeintlichen Verbundenheit die Souveränität über das Bild, und somit die Situation, behält.
Der von dem Philosophen Günther Anders im Jahr 1980 getätigte Ausspruch „Jedes ist nur, weil es Bild ist“ trifft auf die Ikonologien beider Kriegsparteien zu. Die hieraus resultierenden Bildstrategien weisen aber in zwei diametrale Richtungen. In der Ukraine gehört das Bild den Vielen. Neben der klassischen Berichterstattung kann jede Person in den sozialen Netzwerken Bilder produzieren, verteilen und interpretieren und so zum Image des Krieges als unmittelbare Erfahrung eines massenkulturellen Phänomens beitragen. In Russland wird die von Anders beschriebene Macht des Bildes invertiert. Ganz gleich, ob aufgrund von Überinszenierungen oder unvereinbaren Widersprüchen: Dem Bild, und folglich dem Ereignis, kann nicht mehr getraut werden. So wird das Bild in diesem Krieg zum Ausgangs- und Endpunkt einer mediatisierten Realität, in der es nicht mehr Mittel, sondern Ausdruck der Kriegsführung ist.
Dieser Beitrag ist ein leicht veränderter Nachdruck; die Originalveröffentlichung findet sich in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 21.03.2023 unter dem Titel „Das Bild ist alles. Das Bild ist nichts. Über die ukrainische und russische Ikonologie des Krieges“. Wir danken Sophie-Charlotte Opitz für die Genehmigung.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bilder des Krieges in der Ukraine,
hg. v. d. Visual History-Redaktion
Zitation
Sophie-Charlotte Opitz, Alles und Nichts. Die Bildstrategien Russlands und der Ukraine im Krieg, in: Visual History, 24.06.2024, https://visual-history.de/2024/06/24/opitz-alles-und-nichts/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2804
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