Von der Graphic Novel in den digitalen Raum
Comics oder Graphic Novels wurden in den letzten Jahren verstärkt in Erinnerungskultur und Geschichtsvermittlung zur NS-Zeit eingesetzt. Sie können das Unfassbare darstellen wie kaum ein anderes Medium. Vor allem, weil dieses Medium mit Abstraktionen auf der einen und Leerstellen auf der anderen Seite arbeitet, eignet es sich sehr gut dafür, sich traumatischen Erfahrungen nicht nur über die Textebene, sondern auch auf der visuellen Ebene anzunähern. Comics eignen sich zudem zur Darstellung in digitalen Medien – sie lassen sich statisch, aber auch animiert in 2- oder 3-D-Formaten umsetzen und mit anderen Medien wie Ton kombinieren.
Aber was bedeutet das für die Erzählung von traumatischen Erfahrungen aus der NS-Zeit? Technische Möglichkeiten wie Augmented oder Virtual Reality können virtuelle Welten entstehen lassen oder die reale Welt durch virtuelle Elemente erweitern. Ein nicht mehr existierendes Gebäude kann virtuell sichtbar gemacht werden, eine vergangene Epoche als virtuelle Umgebung entstehen. Auf den ersten Blick haben digitale Technologien also ein besonderes Potenzial, wenn es um die Vergegenwärtigung von Vergangenem geht. Aber kann und darf man traumatische Erfahrungen mit diesen Möglichkeiten im digitalen Raum erzählen, wie es das interdisziplinäre Forschungslabor SPUR.lab[1] erprobt hat?
Eine virtuelle Realität ist deutlich immersiver als eine Graphic Novel. Mit einer VR-Brille taucht man ein in den digitalen Raum, von der Erzählung umgeben verringert sich die Distanz zwischen dem Erzählten und der zuhörenden Person. Der heutige Stand der Technik bietet weitreichende Möglichkeiten, doch darf man bei z.B. NS-Themen alles umsetzen, was technisch möglich wäre?
Unabdingbar für diese Entscheidung ist, sich im Vorfeld mit den folgenden Fragen intensiv auseinanderzusetzen:
- Wie gelingt ein Gleichgewicht zwischen immersivem Erlebnis und kritischer Distanz?
- Ob und wenn ja, wie sollten Täter und Opfer dargestellt werden? Wie kann erlittene Gewalt vermittelt werden? Gibt es hier rote Linien, und wo liegen diese?
- Soll bei der virtuellen Anwendung mit Sound gearbeitet werden?
- Wie geht man mit Propagandabildern um, oftmals die einzigen Bildquellen?
Neben diesen zentralen inhaltlichen Fragen ist gleichfalls zu bedenken, dass es bei Nutzenden dieser Technologie bislang eher wenig Erfahrung mit virtuellen Anwendungen gibt. Das Augenmerk sollte daher auf eine gute, selbsterklärende Einführung gelegt werden. Genauso wichtig, gerade bei sensiblen Themen, ist eine Exit-Option, um die Anwendung jederzeit verlassen zu können. Ein weiterer Aspekt ist bei Virtual Reality die „motion sickness“, die durch Drehungen oder schnelle Bewegungen z.B. zu Schwindel bei den Benutzer:innen führen kann. Eine gute Beratung von erfahrenen Programmierer:innen ist hilfreich.
Im interdisziplinären Forschungslabor SPUR.lab wurden zum Thema Nationalsozialismus vier prototypische Anwendungen entwickelt, eine davon als Virtual Reality Experience. Wie hat das SPUR.lab die oben angeführten Fragen beantwortet und die Herausforderungen gelöst?
BLACK BOX – eine Virtual Reality-Anwendung zum ersten KZ Oranienburg
Heute existieren viele Orte des NS-Terrors nicht mehr. Das KZ Oranienburg, ein frühes Lager, wurde auf dem Gelände einer ehemaligen Brauerei von den Nationalsozialisten bereits im März 1933 errichtet. In der VR-Anwendung „BLACK BOX“[2] wird dieser nicht mehr vorhandene Ort anhand des Zeitzeugenberichts von Gerhard Seger[3] Stück für Stück digital erschlossen. Auch wenn in der digitalen Anwendung mit historischen Fotos und Bauplänen gearbeitet wurde, bleibt die grafische Gestaltung dabei bewusst abstrakt und schemenhaft. Jeder Raum oder Bereich, über den Seger spricht, wird durch eine skizzenhafte Darstellung konkretisiert. Auf die Darstellung der Opfer wird – bis auf ein Porträt Gerhard Segers zu Beginn – bewusst verzichtet. Eine Erzählstimme führt durch die einzelnen Stationen. Fragmente aus den Kapiteln des Buchs werden, unterstützt durch Sound-Elemente, vorgelesen, während das Erzählte fragmentarisch und schemenhaft als Grafik entsteht. Die einzelnen Buchkapitel kann man selbst auswählen, was der Form des nicht-linearen Erzählens entspricht. Ein Raum, der als BLACK BOX grafisch zu sehen ist, kann nicht betreten werden. Es ist der Verhörraum, in dem die Häftlinge Folter und Gewalt ausgesetzt waren. Dieser Raum wird nicht weiter visualisiert – er bleibt bewusst eine Black Box. Das federführende Künstler-Duo[4] hat hier eine Grenze gezogen und den Raum bzw. die in ihm stattgefundene Gewalt als etwas nicht Darstellbares thematisiert.

Screenshot aus der Anwendung BLACK BOX © Katja Pratschke, Gusztáv Hámos, Beate Hetényi, Pong.li Studios Karlsruhe
Für mich ist die BLACK BOX ein gelungenes Beispiel dafür, dass Geschichtsvermittlung auch von NS-Geschichte im virtuellen Raum möglich ist. Im beschriebenen Beispiel funktioniert dies vor allem, weil bei der digitalen Rekonstruktion explizit von einer abbildgetreuen Darstellung abgesehen wurde. Die Rekonstruktionen bleiben skizzenhaft und angedeutet, um den Eindruck einer falschen Historizität zu vermeiden. Dadurch werden die Nutzenden nicht zu Zuschauenden, sondern die Anwendung lässt Raum für das eigene Erschließen und Verstehen der Vergangenheit. Der eigene Zugang zur Geschichte wird gestärkt. Der Zugang bleibt dabei erkundend und nicht nacherlebend, was auch den didaktischen Grundsätzen in der Geschichtsvermittlung gerecht wird.
Ausgezahlt hat sich, dass sich das Team im Vorfeld viel Zeit genommen hat, um zentrale Fragen zu besprechen. Für die Entwicklung der Anwendung wurde erst relativ spät eine programmierende Agentur beauftragt. Das interdisziplinäre Team unter der Federführung von Künstler:innen hat vorab erste Prototypen skizziert und entworfen. Die inhaltliche Verantwortung für Anwendungen im Bereich Augmented und Virtual Reality zu behalten, im (interdisziplinären) Team zu entwickeln und mit Hilfe von Prototypen etwas auszuprobieren, sind aus meiner Sicht wichtige Faktoren für eine sensible Umsetzung von digitalen Graphic Novels zur Geschichte des Nationalsozialismus im digitalen Raum.
[1] Das SPUR.lab (2020-2023) war ein Forschungslabor der Partner Brandenburg-Museum Potsdam, der beiden Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen und der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Für weitere Informationen: www.spurlab.de [20.03.2025].
[2] Die Anwendung BLACK BOX kann im Brandenburg-Museum in Potsdam getestet werden, https://gesellschaft-kultur-geschichte.de/brandenburg-museum/ [20.03.2025].
[3] Der sozialdemokratische Politiker Gerhard Seger wurde im Juni 1933 im KZ Oranienburg inhaftiert; im Dezember 1933 gelang ihm die Flucht. Seine Erfahrungen dort veröffentlichte er 1934 unter dem Titel: Oranienburg: Erster authentischer Bericht eines aus dem Konzentrationslager Geflüchteten. Mit einem Geleitwort von Heinrich Mann, Karlsbad 1934. Die VR-Anwendung BLACK BOX wurde auf der Grundlage dieser Schilderungen konzipiert.
[4] Die Medienkünstler Katja Pratschke und Gusztáv Hámos haben die Anwendung BLACK BOX federführend im SPUR.lab entwickelt.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics“,
hg v. Christine Bartlitz und Irmgard Zündorf
Themendossier: Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics
Zitation
Bettina Loppe, Von der Graphic Novel in den digitalen Raum, in: Visual History, 19.05.2025, https://visual-history.de/2025/05/19/loppe-von-der-graphic-novel-in-den-digitalen-raum/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2883
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