Privatfotografien der „Dritten Generation Ostdeutschland“ in der historisch-politischen Bildungsarbeit
Fotografien faszinieren, irritieren oder werfen Fragen auf. Sie transportieren Informationen und erzeugen Erinnerungen. In pädagogischen Kontexten sind sie daher seit Langem ein beliebtes Medium der Annäherung an Geschichte. Auch im Rahmen des Pilotprojekts „Ich sehe was, das du nicht siehst – Bilder vom Erwachsenwerden in zwei politischen Systemen“ wurde das Potenzial des Mediums Fotografie für die Bildungsarbeit aktiviert, insbesondere für eine Auseinandersetzung mit der deutschen Teilungs- und Vereinigungsgeschichte.
Das Projekt, gefördert durch das Bundesprogramm „Jugend erinnert“, ermöglichte in den Jahren 2021 bis 2023 die Sammlung, Analyse und methodische Aufbereitung privater Fotografien aus den späten Jahren der DDR und der Transformationszeit nach 1989/90. Im Fokus stand dabei vor allem die Alltagswelt der sogenannten Dritten Generation Ostdeutschland – jener Generation, die um 1980 in der DDR geboren wurde und den Systemumbruch im Kindes- und Jugendalter erlebte.
Hervorgegangen aus dem Projekt ist ein umfangreiches Material- und Methodenset, das seither über die Onlineplattform „Zeitenwende. Lernportal zur Zeitzeugenarbeit. Die Dritte Generation Ostdeutschland“ kostenfrei zugänglich ist. Es wurde entwickelt von einem interdisziplinären Team: Sven Gatter (Projektleitung), Dörte Grimm (Recherche und Analyse der Fotografien), Michael Hacker (Budgetkoordination), Kerstin Lorenz (pädagogische Konzeption und Ausführung sowie Webseiten-Redaktion), Benjamin Mache (Webseiten-Administration), Natascha Pohlmann (Hintergrundtexte zur Fotografie), Nadja Schütt (Gestaltung und Social Media) sowie Katharina Warda (Recherche und Analyse der Fotoquellen). Fachlich begleitet wurde dieses Team durch Christine Bartlitz, Sandra Starke und Annette Vowinckel vom Leibnitz-Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam.
Exkurs: Das Zeitenwende-Lernportal
Mit dem Zeitenwende-Lernportal steht pädagogischen Fachkräften in schulischen und außerschulischen Kontexten ein vielseitiges digitales Angebot für die Vermittlung ost- und gesamtdeutscher Zeitgeschichte zur Verfügung. Es bietet kostenfrei zugängliche Lernmodule sowie Arbeits- und Hintergrundmaterialien, die eine kompetenzorientierte Wissensvermittlung unterstützen und eine Brücke zwischen individueller Erinnerung und kollektiver Geschichte schlagen.
Ein besonderes Merkmal des Portals ist der Zeitzeug:innenpool: Kontaktmöglichkeiten zu über zwanzig Vertreter:innen der „Dritten Generation Ostdeutschland“, die als Zeitzeug:innen vor allem für Gespräche im Rahmen von Bildungsformaten, aber auch für journalistische Hintergrundrecherchen zur Verfügung stehen. Ergänzt werden die Kontakte jeweils durch kompakte Biografien, die einen schnellen Überblick über das Erfahrungsspektrum der Zeitzeug:innen liefern.

Screenshot der Startseite des Zeitenwende-Lernportals [23.06.2025] © Perspektive hoch 3 e.V.
Exkurs: Die „Dritte Generation Ostdeutschland“
Dem Begriff „Dritte Generation Ostdeutschland“ liegt eine vereinfachte Generationendefinition zugrunde: Gemeint sind die etwa 2,4 Millionen Menschen, die um 1980 in der DDR geboren und dort als Kinder sozialisiert wurden. Sie wuchsen in einem autoritär sozialistischen System auf, durchlebten als Kinder oder Jugendliche den politischen Umbruch 1989/90 und die darauffolgende gesellschaftliche Transformation in Ostdeutschland. Ihre Sozialisationsbedingungen waren dabei eng mit den Erfahrungen der Elterngeneration verknüpft, die noch tief in der DDR wurzelten. Im Vergleich zu älteren ostdeutschen Generationen starteten viele Angehörige der „Dritten Generation Ostdeutschland“ unter formal günstigeren Bedingungen in das vereinte Deutschland. Und doch war der Vereinigungsprozess für viele von ihnen ein Bruch – ein biografisches Schlüsselerlebnis, das nicht selten als fremdbestimmt, widersprüchlich oder krisenhaft empfunden wurde.
Für die Geschichtsdidaktik bietet diese Generation einen besonderen Erkenntniswert: Ihre Perspektiven ermöglichen einen Blick „zwischen den Systemen“ – jenseits klassischer Zäsuren und politischer Zuschreibungen. In der Auseinandersetzung mit ihren Alltagswelten und biografischen Erzählungen kann DDR- und Transformationsgeschichte multiperspektivisch erschlossen und zugleich kritisch in gegenwärtige Diskurse eingebettet werden.

Screenshot des Zeitzeug:innenpools auf dem Zeitenwende-Lernportal [23.06.2025] © Perspektive hoch 3 e.V.
Private Fotografien gelten auf den ersten Blick als unmittelbare Abbilder gelebter Wirklichkeit. Insbesondere Alltagsfotografien, die spontane Szenen des Familienlebens, Freizeitmomente oder Kindheitserlebnisse zeigen, vermitteln Authentizität und Nähe. Doch Fotografien sind nie bloß Abbilder – sie sind stets auch Konstruktionen. Sie sind von den technischen Bedingungen der fotografischen Apparatur abhängig und das Ergebnis von Entscheidungen der Menschen, die sie anfertigen und zeigen. Sie geben Hinweise auf deren gesellschaftliche Positionierungen, politische Ansichten und Absichten sowie deren ökonomische Möglichkeiten und mediale Zugänge. Sie sind daher niemals objektiv, sondern werfen immer die Frage auf: Was wird wann und wie (nicht) fotografiert oder gezeigt? Diese Fragen eröffnen den Zugang zur Fotografie als historische Quelle.
Wie andere historische Quellen bedürfen auch Fotografien einer kontextualisierenden und kritischen Analyse. Gerade in der historisch-politischen Bildung ist es entscheidend, die narrative Funktion von Bildern zu thematisieren: Fotografien schaffen Erzählungen. Menschen vergewissern sich mit Fotos ihrer selbst, konstruieren Identitäten und Zugehörigkeiten, Rollen- und Familienbilder, folgen kollektiven Vorstellungen und gesellschaftlichen Konventionen. Um einschätzen zu können, welche historische Bedeutung und welchen Stellenwert eine Fotografie hat, ist es daher wichtig, Kontextwissen zu der Zeit, der Kultur und dem Ort, in denen das Foto entstand, in die Bildanalyse einzubringen. Für die Analyse und Interpretation von Fotografien als historische Quellen eignet sich die AQUA-Methode. Sie sensibilisiert für zentrale Analysefragen:
– Autor:in: Wer hat das Bild aufgenommen, in welchem sozialen und historischen Kontext?
– Quelle: Um welchen Fototyp handelt es sich? Was zeigt das Bild? Wann entstand es?
– Adressat:in: Wer war das intendierte Publikum? Welche Absicht stand hinter der Aufnahme?
Alltagsfotografien betrachten
Das neue, aus dem Projekt „Ich sehe was, das du nicht siehst – Bilder vom Erwachsenwerden in zwei politischen Systemen“ hervorgegangene Material- und Methodenset wird auf dem Zeitenwende-Lernportal in der Rubrik „Alltagsfotografien betrachten“ unter einer Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0) bereitgestellt. Didaktisch vielseitig einsetzbar, eignet es sich für kurze thematische Impulse ebenso wie für mehrstündige Seminareinheiten oder komplette Projekttage.
Es versammelt rund 260 private Fotografien aus den Jahren 1980 bis 1995, die durch methodisch-didaktische Materialien und kontextualisierende Texte ergänzt werden und so individuelle Zugänge zur DDR-Geschichte sowie zur ostdeutschen Umbruchs- und Transformationszeit ermöglichen.
Ein weiterer Schwerpunkt des Angebots liegt auf der Reflexion der medialen Eigenheiten von Fotografien. Thematisiert werden unter anderem das Spannungsverhältnis von Bild und „Wirklichkeit“, die Rolle von Kontextwissen bei der Interpretation sowie der Wandel fotografischer Gebrauchs- und Verbreitungspraktiken in der Alltagskommunikation. So werden historische Lernprozesse mit medienkritischer Kompetenzbildung verbunden.
Die verwendeten Fotografien wurden von neun ehrenamtlich engagierten Zeitzeug:innen des Lernportals zur Verfügung gestellt. Die aus ganz individuellen Gründen entstandenen Amateuraufnahmen unterscheiden sich in der Wahl der Sujets sowie in der Art der Bilddarstellung und -komposition deutlich von professionellen Fotografien: Sie sind nicht zur Veröffentlichung entstanden, sondern dokumentieren persönliche Momente – Geburtstagsfeiern, Ferienaufenthalte, Alltagsszenen. Ihr Wert liegt gerade in der subjektiven Perspektive: Sie eröffnen Einblicke in vergangene Lebenswelten und Sinnhorizonte, wie sie von innen heraus erlebt wurden. Und zugleich ermöglichen sie medienreflexive Lernprozesse.
In Interviews geben die beteiligten Zeitzeug:innen Auskunft zum Entstehungszusammenhang ihrer Fotos, zu den biografischen Stationen der Abgebildeten sowie zu ihren unmittelbar mit den Fotos verknüpften und darüber hinaus assoziierten Alltagserinnerungen. Auf diese Weise verbinden sich visuelle Eindrücke mit narrativen Elementen – und eröffnen ein komplexes Verständnis individueller Erfahrungsgeschichte im historischen Wandel.

Sandro 007, Aufnahmedatum: 1980/81, Aufnahmeort: Berlin, Urheber:in: R.E. / Perspektive hoch 3 e.V.,
Nutzungslizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Nadja 032, Aufnahmedatum: 1983, Aufnahmeort: Františkovy Lázně (Tschechien),
Urheber:in: U.S. / Perspektive hoch 3 e.V., Nutzungslizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Nadja 028, Aufnahmedatum: 1985, Aufnahmeort: Gera, Urheber:in: U.S. / Perspektive hoch 3 e.V.,
Nutzungslizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Judith 007, Aufnahmedatum: 1994, Aufnahmeort: Berlin, Urheber:in: J.E. / Perspektive hoch 3 e.V.,
Nutzungslizenz: CC BY-NC-ND 4.0

Robert 010, Aufnahmedatum: 1993 oder 1994, Aufnahmeort: Oranienburg, Urheber:in: R.M. / Perspektive hoch 3 e.V.,
Nutzungslizenz: CC BY-NC-ND 4.0
Die Rubrik „Alltagsfotografien betrachten“ ist so konzipiert, dass sie auch von pädagogischen Fachkräften genutzt werden kann, die bisher keine oder nur wenige Erfahrungen mit historisch-politischer Bildungsarbeit haben. Ihr zentraler Bestandteil ist die Bildsammlung mit rund 260 Privatfotografien aus der Zeit zwischen 1980 und 1995. Sie ist nach den beteiligten Zeitzeug:innen in neun Fotogalerien gegliedert. Neben einer überblickshaften Vorschau kann in den Galerien jede Fotografie auch einzeln betrachtet, digital vergrößert oder heruntergeladen und ausgedruckt werden. Zu jedem Foto werden Informationen zum Entstehungszeitraum, Entstehungsort, zum:zur Besitzer:in sowie zum:zur Urheber:in gegeben. Über die Bereitstellung in den Bildergalerien hinaus sind ausgewählte Fotografien in Methodenvorschläge eingebunden und mit Arbeitsaufträgen unterschiedlicher Zielsetzungen versehen.

Screenshot der Bildsammlung [23.06.2025] © Perspektive hoch 3 e.V.
Die Methodenvorschläge enthalten auch Verweise zu geeigneten Fotografien aus der Bildsammlung sowie Arbeitsblätter und weiterführende Links. Die Arbeitsblätter sind auf die direkte Nutzung durch die Teilnehmer:innen der Bildungsseminare zugeschnitten. Sie werden von den Referent:innen passend zu den jeweiligen Methodeneinheiten in digitaler oder ausgedruckter Form in ihren Lerngruppen bereitgestellt. Ergänzend erhalten die pädagogischen Fachkräfte in der jeweiligen Methodenbeschreibung konkrete Hinweise zur Auswertung der Arbeitsergebnisse sowie zur Moderation von Ergebnispräsentationen.
Darüber hinaus werden in der Rubrik „Alltagsfotografien betrachten“ eine Chronik des Umbruchs, eine kurze Fotografiegeschichte und verschiedene Einführungstexte bereitgestellt, die pädagogischen Fachkräften wie Teilnehmenden eine Orientierungshilfe sowie Grundlagenwissen zu den Themen „(Alltags-)Fotografie“, „Erinnerung und Wahrnehmung“, „Die „Dritte Generation Ostdeutschland“ und „Der Umbruch in der DDR und die Transformation in Ostdeutschland“ liefern. Ein Glossar, in dem zentrale Begriffe des Material- und Methodensets erläutert werden, runden das neue Bildungsangebot auf dem Zeitenwende-Lernportal ab.
Neben der Bereitstellung auf dem Webportal wird das im Projekt „Ich sehe was, das du nicht siehst – Bilder vom Erwachsenwerden in zwei politischen Systemen“ entwickelte Material- und Methodenset auszugsweise über einen eigenen Instagram-Kanal präsentiert. Er richtet sich direkt an junge Menschen und will diese zur Auseinandersetzung mit historischen Themen anregen. Er bietet eine besonders niedrigschwellige Möglichkeit, die Privatfotografien und kompakte Hintergrundinformationen zu entdecken.
Als soziale Plattform ermöglicht Instagram nicht nur das Sichtbarmachen und Teilen von Inhalten, sondern lädt auch zum Kommentieren und zur aktiven Auseinandersetzung ein. So werden Räume eröffnet, in denen historische Fotografien nicht nur betrachtet, sondern in Beziehung zur eigenen Gegenwart gesetzt und in dialogische Prozesse eingebunden werden können. Die Nutzung von Social Media knüpft damit an aktuelle digitale Praktiken des alltäglichen Umgangs mit Bildern an – insbesondere mit privaten Fotografien – und überträgt diese vertrauten Formen der Bildkommunikation auf den Kontext der historisch-politischen Bildung.

Bild-Text-Tafeln eines veröffentlichten Instagram-Posts vom 15.11.2023, Foto: Christiane 020, Urheber:in: C.L. / Perspektive hoch 3 e.V.
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