Das Geschlecht der Öffentlichkeit
Deutsche und russische Frauenzeitschriften und ihr Publikum im frühen 20. Jahrhundert
Frauenillustrierte werden häufig als seichte Unterhaltungsblätter wahrgenommen, die ihr weibliches Publikum auf konservative Rollenmodelle und Konsum festlegen. Analyse und Vergleich der deutschen und russischen Frauenpresse am Beispiel von „Die Welt der Frau“ (1904-1920) und „Ženskoe Delo“ (Die Sache der Frau, 1910-1918) revidieren diese tradierte Auffassung über kommerzielle Frauenzeitschriften. Denn diese feministisch-populären Frauenblätter gehörten zu den ersten Fotoillustrierten, die eine emanzipatorische Programmatik mit den damals modernsten Visualisierungsstrategien propagierten: Mit jeder Ausgabe wechselnde Titelblätter, Fotoreportagen und ein modernes Layout unterstrichen Ansprüche nach Gleichberechtigung, Bildung und Berufstätigkeit und griffen damit Forderungen der in beiden Gesellschaften aktiven Frauenbewegungen auf. Ebenso modern präsentierten sich die Beiträge über Haushalt, Reisen, Mode und Sport und trugen damit zur Popularisierung von individualisierten Lebenswegen für die „moderne Frau“ bei.
Die feministisch-populären Frauenillustrierten „Die Welt der Frau“ und „Ženskoe Delo“ konstituierten als neuer Zeitschriftentyp gemeinsam mit den zahlreichen Blättern der Frauenbewegung, den ersten Berufszeitschriften und den unterhaltend-informativen Mode- und Hausfrauenzeitschriften das Geschlecht der Öffentlichkeit. Die inhaltlich wie formal heterogene Frauenpresse beider Länder war Teil der Frauenkultur um 1900 und trug wie Literatur und Kunst zum selbstbewussten Ausdruck von Frauenleben im Deutschen Kaiserreich und Russischen Zarenreich bei.
In Massenauflagen von mehreren zehntausend Exemplaren gedruckt, fanden „Die Welt der Frau“ und „Ženskoe Delo“ großen Anklang beim weiblichen Publikum und richteten sich in beiden Gesellschaften an Frauen der gebildeten und urban geprägten Mittelschichten. Insbesondere für das zeitgenössische Russland bedeutet das, dass die Mehrheit seiner weiblichen Bevölkerung sie nicht erwerben konnte. Als Angehörige der städtischen und ländlich-bäuerlichen Unterschichten waren diese Frauen weder ausreichend gebildet, noch verfügten sie über ein entsprechendes Einkommen.
Mit der Einbettung von „Die Welt der Frau“ und „Ženskoe Delo“ in die Entwicklung von Frauenbewegung, Massenpresse und Fotojournalismus leistet die vorliegende Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Geschlechter-, Medien- und Kulturgeschichte des Deutschen Kaiserreichs und des Russischen Zarenreichs nach 1900. So zeigt sich, dass die inhaltlich-formale Modernität dieser kommerziellen Zeitschriften einen autonomen Beitrag zur Gestaltung von Frauenpolitik, Frauenleben und Publizistik darstellte. Das moderne Redaktionskonzept vermittelte Botschaften mit Emanzipationspotenzialen: Eine Bandbreite von Leitbildern, wie die feministische Aktivistin, die berufstätige Akademikerin, die modisch-mobile Reisende oder die Mutter und Erzieherin, stellte dem weiblichen Publikum neue Identifikationsangebote vor und ermunterte es, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Bemerkenswert ist, dass die Redaktionen dieser kommerziellen Zeitschriften professionelle Emanzipationsräume für deutsche und russische Frauen darstellten. Wie in der Frauenpresse üblich, hatten Frauen als Journalistinnen leitende Stellungen inne und praktizierten einen Journalismus, der dem von Männern praktizierten Journalismus hinsichtlich Qualität und Innovationskraft in nichts nachstand. Neben Herausgeberinnen und Redakteurinnen waren dort häufig auch Korrespondentinnen tätig. Zudem fanden sich in beiden Zeitschriften die ersten Spartenjournalistinnen für Mode oder Reise sowie die ersten Fotojournalistinnen. Mit diesen neuen Berufsbildern wurde der Grundstein für den Gesellschafts- und Fotojournalismus von Frauen in den 1920er-Jahren gelegt.
Neben der Untersuchung der propagierten Leitbilder und des praktizierten Frauenjournalismus bestimmt diese Arbeit über die Analyse der textlichen und visuellen Gebrauchsweisen die inhaltlich-formale Modernität dieser feministisch-populären Illustrierten als neuer Typ von Frauenzeitschrift. Neben Materialität, Bildanteil, Illustrationsgrad und Heftdramaturgie werden Layout, Seitengestaltung, die unterschiedlichen Seitentypen (z.B. Titelblätter, Standard-, Mode- und Rubrikenseiten) sowie die fotobasierten Präsentationsmuster vorgestellt. Über die Kontextualisierung in die damaligen Presselandschaften Deutschlands und Russlands zeigt sich, dass sich die textlichen und visuellen Gebrauchsweisen beider Illustrierten aus dem traditionellen und innovativen medialen Formenkanon entwickelten. Trotz sehr mangelhafter Redaktionsquellen kann die Verfasserin daher zeigen, dass ein Bildbewusstsein in den damaligen Redaktionen vorhanden war, dass also Texte und Bilder wohlüberlegt miteinander zu einer homogenen Botschaft kombiniert wurden und ein mediales Kommunikationsensemble bildeten.
Der Vergleich von zwei Frauenillustrierten in ihrem medialen Kontext der jeweiligen Frauenpresse verdeutlicht zweierlei: Ihre formale Entwicklung hat von der allgemeinen Presseentwicklung in der jeweiligen Gesellschaft profitiert. Bereits im frühen 20. Jahrhundert ist es in der Medienbranche auf internationaler Ebene zu materiellen, inhaltlichen und personellen Austauschprozessen gekommen. Diese trugen in dieser ersten Modernisierungsphase der Zeitschriftengeschichte zu einer qualitativ neuartigen, visualisierten Kommunikationsweise bei und boten den Leserinnen ein erweitertes Informations- und Meinungsrepertoire über verschiedene Themen an.
Zum ersten Mal wird in dieser Arbeit einem deutschen Publikum die thematische und typologische Vielfalt der Frauenpresse des ausgehenden Zarenreichs vorgestellt und damit indirekt auf die heterogene und moderne Pressestruktur der russischen Medienlandschaft verwiesen. Dabei zeigt sich, dass es verfehlt wäre, das ausgehende Zarenreich unisono mit dem Etikett „rückständig“ zu belegen, denn im Mediensektor beschritt es moderne Wege. An den Gründungsgeschichten der Zeitschriften, dem praktizierten Journalismus und den textlichen und visuellen Gebrauchsweisen lassen sich neben inhaltlichen und formalen Ähnlichkeiten auch Unterschiede zwischen beiden Frauenzeitschriften ausmachen. Sie haben ihre Ursachen in den gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen: Während für die Herausgabe von „Die Welt der Frau“ vornehmlich kommerzielle Überlegungen eine Rolle spielten, wurde das Erscheinen von „Ženskoe Delo“ auch von politischem Kalkül bestimmt. So wählten die russischen Herausgeber bewusst das Format einer vermeintlich unverdächtigen Frauenillustrierten, um in der Reaktionsphase nach der Ersten Russischen Revolution von 1905 an der Zensur vorbei weiterhin feministische Forderungen zu verbreiten. Auch die für die westliche Frauen- und Geschlechterforschung ungewöhnliche Erkenntnis, dass eine feministisch ambitionierte Zeitschrift wie „Ženskoe Delo“ von Männern geleitet wurde, ist auf die enge Anbindung der russischen Frauenbewegung an die Kreise der gesellschaftskritischen Intelligencija und deren geschlechterübergreifende Kultur zurückzuführen.
Im Unterschied zur russischen Lage hatte sich im Deutschen Kaiserreich bereits seit den 1890er-Jahren eine machtvoll auftretende feministische Frauenpublizistik mit etlichen Zeitschriften etablieren können, die weitgehend ungehindert in der Öffentlichkeit wirken konnte.
Barbara Duttenhöfer, Das Geschlecht der Öffentlichkeit. Deutsche und russische Frauenzeitschriften und ihr Publikum im frühen 20. Jahrhundert, Saarbrücken 2013 (Volltext), Taschenbuchausgabe 2014