Zeichnen als Instrument
„Ich kann nicht zeichnen“, habe ich oft gehört, wenn ich mit Menschen über meine historischen Illustrationen oder über den Comic gesprochen habe, der im Rahmen eines Seminars im Master-Studiengang Public History 2020 an der Freien Universität Berlin entstanden ist. In dem Seminar, in dem wir uns zum einen theoretisch, zum anderen aber auch praktisch mit der Gestaltung einer historischen Episode in Form eines Comics beschäftigt haben, kamen Vorbehalte gegenüber den eigenen zeichnerischen Fähigkeiten immer wieder zur Sprache. Aber was bedeutet das eigentlich, „nicht zeichnen zu können“? Schließlich zeichnen Kinder intuitiv, ohne sich Gedanken über „richtig“ oder „falsch“ zu machen – bis sie eines Tages damit aufhören. Ist es der Unterschied zwischen dem, was man darstellen will, und dem, was tatsächlich entsteht? Oder sind es frustrierende Erfahrungen im Kunstunterricht in der Schule? Irgendwann jedenfalls legen fast alle ihre Stifte weg und fassen sie nie wieder an.
Die meisten historischen Comics entstehen arbeitsteilig, haben also einen Autor oder eine Autorin sowie eine zweite Person, die die Gestaltung und künstlerische Umsetzung der Geschichte übernimmt. Die Kombination aus Historiker:in und Künstler:in in Personalunion ist dagegen eher selten. Auf den ersten Blick scheint das verständlich, handelt es sich doch um sehr gegensätzliche Tätigkeiten. Zugespitzt formuliert: Das eine ist eben eine Wissenschaft, das andere irgendwie Kunst im weitesten Sinne. Die (Ausbildungs-)Wege dieser beiden Professionen kreuzen sich eher selten, dabei können sie in vielen Fällen voneinander profitieren. Natürlich arbeiten beide für einen historischen Comic eng zusammen, dennoch ergibt sich aus dieser Aufgabenteilung schnell die Frage: Was war zuerst da? Text oder Bilder? In welcher Hierarchie und Beziehung stehen beide zueinander bzw. inwieweit werden die Illustrationen nachrangig zur Geschichte entwickelt?
Aus der Position der Visual History muss ein Comic daher der Frage standhalten: Wie vermittelt man den theoretischen Anspruch an eine Zeichnung, mehr zu sein, als eine bloße Bebilderung des geschriebenen Wortes oder die Reproduktion einer historischen Referenz? Geht das überhaupt, wenn Autor:in und Illustrator:in aus so gegensätzlichen Arbeitsfeldern kommen, die wiederum zum Gegenstand des Bildes so konträre Positionen vertreten? Denn, dass die Geschichtswissenschaft trotz vielfältiger Bemühungen noch immer ihre Schwierigkeiten damit hat, Bilder in die wissenschaftliche Forschung miteinzubeziehen, ist kein Geheimnis. Illustrator:innen hingegen verdienen ihren Lebensunterhalt mit der Erschaffung von Bildern. Doch statt hier ein weiteres Mal über das Bild und die Rolle des Bildes für die Geschichtswissenschaft nachzudenken, soll es stattdessen darum gehen, welchen Mehrwert man aus der zeichnerischen Praxis für die historische Arbeit ziehen kann, kurz: Sollten Historiker:innen nicht mal ab und an ein bisschen zeichnen?
„Zeichnen ist wie ein Instrument spielen“, sagte meine Zeichenlehrerin immer. Natürlich spielt Talent eine Rolle, aber viel entscheidender ist: Übung, Übung, Übung. Wie andere Kinder zur Musikschule, ging ich stattdessen am Nachmittag in eine Malschule, trainierte meine Hände und vor allem meine Augen, Woche für Woche, damit dort auf dem Blatt etwas entstehen konnte: Figurinen, Entwürfe, Stillleben. Zeichnen ist Arbeit. In meinem ersten Studium – ich habe vor vielen Jahren mal Modedesign studiert – war das Naturstudium fester Bestandteil des Curriculums, manchmal bin ich dreimal in der Woche zum Aktzeichnen gegangen. Für manche konnten die Modelle nicht lange genug still stehen, für mich konnten sie sich nicht schnell genug bewegen. Eine Pose in 30 Sekunden? Kein Problem! Mein Stift flog über das Blatt, für wenig mehr als eine angedeutete Proportionsstudie war kaum Zeit. „Doch das Auge erkennt, wenn es stimmt“ – noch so eine Weisheit aus dem Zeichenkurs.
Diese Art des Zeichnens half mir zu erkennen, was in einer künstlerischen Darstellung wichtig ist, aber auch, welche Informationen eine Zeichnung eigentlich vermitteln will. Sie half mir dabei, die richtige Linie zu setzen und der Linie zu vertrauen, dass sie das erzählt, was ich erzählen möchte. Zeichnen hat mir auch dabei geholfen, die Bilder anderer besser zu verstehen. Doch irgendwann fehlte die Zeit, die Interessen verschoben sich, und plötzlich hatte ich über Jahre keinen Stift in der Hand gehabt. Es hat mir gefehlt – wie eine Geige, die eingestaubt in der Ecke steht. Es wäre ein Leichtes, sie zur Hand zu nehmen. Aber was, wenn man den Ton nicht mehr trifft? Im Rahmen des Comic-Seminars trafen plötzlich zwei Welten aufeinander, die ich zuvor in keinen Zusammenhang hatte bringen können, schlicht, weil sie sich in einem geisteswissenschaftlichen Kontext eigentlich nicht begegneten. Jetzt war plötzlich nicht nur die theoretische Auseinandersetzung mit einem historischen Thema gefragt, sondern auch die künstlerische.
Lange gehörte ein gewisses Maß an zeichnerischen Fähigkeiten zur Allgemeinbildung für Männer und Frauen aus Adel und Bürgertum. Doch Zeichnen war mehr als nur eine Fertigkeit zum Zeitvertreib in den gehobenen Gesellschaftsschichten. Zeichnen war das visuelle Kommunikationsmittel, bevor die Fotografie erfunden wurde. Und es war mehr als eine reine Vorstudie für die Malerei. Zeichnungen waren in den Naturwissenschaften für die Forschung absolut notwendig und sind es teilweise bis heute. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts begleiteten Zeichner Kriegszüge und Expeditionen, um Ereignisse und Entdeckungen festzuhalten – man denke etwa an die Zeichnungen von Benjamin Zix, der Napoleon auf seinen Feldzügen durch ganz Europa folgte, oder an die Aquarelle Giuseppe Passalacquas von seinen ägyptischen Grabungen in den 1820er Jahren. Die Skizzen und Studien von Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland bringen uns bis heute ihre Forschungsreisen nahe. Diese Bilder sind von enormer Kunstfertigkeit und beeindruckend in ihrer Detailtreue. Und sie sind einzigartige historische Quellen.
Im 20. Jahrhundert hat das Zeichnen an Bedeutung verloren, auch weil Fotografie und später Film zunehmend die Rolle der visuellen Dokumentation übernahmen. Die Fähigkeit von Menschen, Momente zeichnerisch exakt festzuhalten, wurde durch technische Innovationen ersetzt, und Zeichnen wurde mehr zu einer künstlerischen Ausdrucksform als zu einem alltäglichen Werkzeug der Kommunikation. In den seltenen Fällen, in denen beispielsweise Gerichtszeichner:innen bis heute Prozesse festhalten, weil das Fotografieren verboten ist, wirken ihre Bilder wie aus der Zeit gefallen. Doch Zeichnen bleibt ein Werkzeug, um die Welt zu verstehen, und es ist eine Chance, das Unsichtbare sichtbar zu machen – womit ich beim Thema Comic wäre.
Denn Comics bieten eine einzigartige Möglichkeit, Geschichte (visuell) zu erzählen. Durch sie kann eine fiktionale Geschichte ebenso grafisch aufbereitet wie ein Zugang zu realen historischen Ereignissen vermittelt werden. Durch den Einsatz von Comics können Zusammenhänge geschaffen werden, die mit Worten allein nicht vermittelbar sind; sie bieten die Chance, historische Narrative neu zu inszenieren, Perspektiven zu wechseln und Leerstellen zu füllen, für die keine visuellen Quellen existieren. Comics können auch Anlass geben, darüber nachzudenken, welche Rolle Bilder in der Geschichtsschreibung spielen. Visualisierungen machen die Vergangenheit greifbar, aber sie sind Konstruktionen – genauso wie Texte. Und genau wie Texte muss man Bilder lesen können. Aber wie vermittelt man die Fähigkeit, ein Bild zu verstehen? Anhand von zwei spezifischen Projekten möchte ich im Folgenden kurz dieser Frage nachgehen: Zum einen geht es um ein Comic-Poster mit dem Titel „immertreu“, das im Rahmen des Comic-Seminars an der FU entstanden ist, zum anderen um eine Reihe von Illustrationen, die für das Magazin „Klartext“ des Jahrgangs 59K der Deutschen Journalistenschule (DJS) zur Illustration eines Textes mit historischem Thema entwickelt wurde.
Die Autor:innen des zu illustrierenden Textes in der Deutschen Journalistenschule hatten sich im Vorfeld mit einer Reihe historischer Fotografien zum Thema Flucht und Vertreibung während der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt und die Frage aufgeworfen, inwieweit diese, teilweise im historischen Diskurs ikonischen Bilder, nutzbar sind, ohne ihren propagandistischen Entstehungskontext zu reproduzieren. Mich hat zudem die Frage beschäftigt, was die Bilder dem Text nachträglich hinzufügen können, um mehr zu sein, als bloße Illustration der historischen Ereignisse. Folglich ging es darum, ein Maß in der zeichnerischen Auseinandersetzung zu finden, bei dem die Assoziation zu den historischen Fotos sehr wohl gegeben bleibt, aber auch ein Grad der Abstraktion eingebaut wird und die Zeichnungen sich so explizit als gegenwärtige Interpretation von der historischen Vorlage lösen.
Dafür verlangte die zeichnerische Auseinandersetzung mit den Bildern nach einer sehr spezifischen Form der Bildanalyse: Was sehe ich? Welche Vorlagen gibt es für die Zeichnung? Bezieht sich eine Zeichnung auf eine historische Fotografie? Wenn ja, welches Narrativ und welchen Blickwinkel vermittelt das Bild und in welchem historischen Kontext ist es entstanden? Hinzu kam in diesem Fall, dass die Illustrationen im Anschluss durch einen Grafiker bearbeitet und so für die Veröffentlichung im Heft nochmal in einen völlig anderen Bezugsrahmen gestellt wurden. Zeichnungen, die zuvor in keinem Zusammenhang standen, überlagerten sich plötzlich, Linien, die einzeln angelegt waren, kreuzten sich nun. Die zeichnerische Auseinandersetzung mit den historischen Vorlagen hat mir die Möglichkeit gegeben, das Abgebildete besser zu verstehen. Die Art, wie die Zeichnungen in der Zeitschrift dann gesetzt wurden, hat ihnen zusätzlich einen neuen narrativen Rahmen gegeben.

Zeichnungen von Bettina Köhler © für „Klartext“ – Das Magazin der Deutschen Journalistenschule (DJS), Lehrredaktion 59K, 2021: „Die Vergessenen“, Text: Rebecca Ricker, Artur Weigandt, Grafik: Florin Preußler
Bei dem Comic-Poster nutzte ich andere gestalterische Strategien. Es thematisiert die sogenannte Verbrecherschlacht am Schlesischen Bahnhof in Berlin im Jahr 1929. Damals gerieten Zimmerleute in eine Prügelei mit Mitgliedern eines Berliner Ringvereins, einer Gruppe des organisierten Verbrechens. Es gab Tote und Verletzte. Doch vor Gericht wurden alle Beteiligten frei gesprochen, auch, weil die Ringvereine gute Verbindungen zur Polizei pflegten und die Zeugen plötzlich alles vergessen hatten. Die Schlägerei und auch der anschließende Prozess wurden damals in der Berliner Presse umfangreich dokumentiert. Allerdings gab es bis auf eine Fotografie einer zerstörten Kneipe keine Bilder des Ereignisses.
Daraus entstand die Grundidee, den Comic wie eine Reihe von historischen Skizzen um einen Text herum aufzubauen. Der Text ahmt die Sprache eines historischen Zeitungsartikels nach, die Zeichnungen dienen der Illustration, aber vermitteln auch zusätzliche Informationen, die der Text nicht enthält. Auch der zeichnerische Stil – handgezeichnet, mit Kaffee lasiert – ergab sich aus dieser Idee. Außerdem hatte diese Entscheidung zur Folge, dass es keine festgelegte Leserichtung gibt. Stattdessen überlagern sich verschiedene Ebenen und Vignetten, die verschiedene Aspekte der Geschichte bebildern: die kriminellen Tätigkeiten der Ringvereine, die Polizei als übergeordnete Autorität, die beobachtet, aber nicht eingreift, historische Szenen und Elemente in Sütterlinschrift, um den authentischen Charakter der Zeit einzufangen. Nicht jede:r konnte diese Schrift lesen, aber das war der Punkt: Die visuelle Sprache sollte unabhängig von den Worten für sich sprechen. Man sollte die Bilder unabhängig von der Schrift lesen.

Bettina Köhler, „immertreu“, Comic-Plakat (2019) ©
Wir danken Bettina Köhler, dass wir einen Ausschnitt aus ihrem Werk als visuellen Teaser für den Workshop und das Themendossier „Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics“ nutzen dürfen.

Bettina Köhler, „immertreu“, Ausschnitt, Comic-Plakat (2019) ©

Bettina Köhler, „immertreu“, Ausschnitt, Comic-Plakat (2019) ©

Bettina Köhler, „immertreu“, Ausschnitt, Comic-Plakat (2019) ©
Durch Geschichts-Comics können Bilder zu einer Erzählung verbunden werden, ohne dass alles explizit beschrieben werden muss. Sie laden uns ein, tiefer in die visuelle Welt der Vergangenheit einzutauchen und über das nachzudenken, was wir sehen – und was wir nicht sehen. Der Comic erlaubt es mir, das historische Ereignis nicht nur abzubilden, sondern auch zu interpretieren und mit Leben zu füllen. Gleichzeitig geben Comics uns die Freiheit, Geschichte visuell neu zu denken: Wie stellen wir uns eine Epoche vor? Wie sehen Frisuren, Häuser, Kleidung aus? Aber auch: Auf welchen Bildern basiert unser visuelles Verständnis der Vergangenheit, unsere Vorstellung von einem Ereignis? Comics können nicht nur Geschichte erzählen, sie hinterfragen auch, wie wir diese Geschichten erzählen. Und das Zeichnen zwingt uns dazu, genauer hinzusehen und uns bewusst zu machen, dass jede Linie, jede Figur und jedes Objekt eine Entscheidung ist – genau wie jede Formulierung in einem Text.
Denn eine Zeichnung ist mehr als nur eine ästhetische Ergänzung eines Textes – sie ist eine eigenständige Form der Überlieferung und eine Methode der Geschichtsschreibung. Dabei ist der Prozess des Zeichnens selbst ein integraler Teil der Denkarbeit und der wissenschaftlichen Recherche. Die Zeichner:innen übernehmen dabei eine eigenständige Rolle, setzen inhaltliche Schwerpunkte und entwickeln eine Bildsprache. Zeichnen ist eine forschungsbasierte Tätigkeit, die ein hohes Maß an künstlerischer Fertigkeit, aber auch an visueller Recherche erfordert, um Details zu verstehen und sichtbar zu machen, die in schriftlichen Darstellungen oft verborgen bleiben. Es hilft ungemein, Bilder selbst zeichnen zu können, um sie eben auch besser lesen zu können. Zeichnen ist eine einzigartige Möglichkeit der Bildanalyse und nicht nur eine Frage des Könnens oder der Technik, sondern vor allem eine des Ausdrucksvermögens. Es geht darum, Ideen, Gedanken und Konzepte auf visuelle Weise darzustellen. Wie das Schreiben ist auch das Zeichnen ein Prozess des Suchens – nach der richtigen Linie, die den Kern einer Erzählung erfasst. Zeichnen hilft dabei, die Welt zu verstehen. Und daher sollten wir alle hin und wieder mal einen Stift in die Hand nehmen und es ausprobieren.
Zitation
Bettina Köhler, Zeichnen als Instrument, in: Visual History, 14.04.2025, https://visual-history.de/2025/04/14/koehler-zeichnen-als-instrument/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2857
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