Grüne Wiesen, graue Wellen

Nationalistische Narrative über den Deich auf nordfriesischen Postkarten, 1930-1936

In einem 2008 erschienenen Artikel setzte sich die Umwelthistorikerin Verena Winiwarter mit der Darstellung nationalistischer Narrative auf Postkarten des 19. und 20. Jahrhunderts auseinander: „[T]he nationalist connotation of nature has become almost invisible in many instances […]. The visual tropes on postcards create nationalized fictions of space.“[1] Auch auf Postkarten, die Nordfriesland zeigen und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, gegen Ende des „goldenen Zeitalter[s]“ des „visuellen Massenmedium[s] der Individualkommunikation“,[2] erschienen, fanden sich solche, nahezu unsichtbaren, Spuren nationalistischer Narrative.

Die fiktionalisierten Küstenlandschaften unterscheiden sich von den Sujets, die heute an den zahllosen Verkaufsständen in den deutschen Nordseebädern angeboten werden: keine strahlend blaue Nordsee, kein weißer Sand, keine Strandkörbe. Stattdessen lässt sich der Großteil der Darstellungen, die zwischen 1900 und 1940 entstanden, zwei grundlegenden Motivarten zuordnen: grüne Wiesen und landwirtschaftliche Gehöfte unter blauem Himmel oder raue Wellen und abgebrochene Uferkanten vor einer sturmgepeitschten Nordsee. Die Zusammenstellung der Bildinhalte durch kleinere lokale Verlagshäuser war Ausdruck eines Narrativs, das die Landgewinnung an der Nordseeküste, den Kampf gegen die Kräfte des Meeres und die Erschließung neuen Marschlandes als nationales Projekt rahmte.

Die Postkarten wurden als Quellen im Rahmen der Vorarbeiten zu dem DFG-geförderten Projekt „Deichbaukonflikte. Eine Wissens- und Umweltgeschichte nordfriesischer Küstenschutzinfrastrukturen, 1902-1991“ erfasst. Am Beispiel der Eindeichungen des Cecilien-, Sönke-Nissen- und Beltringharder Koogs an der Westküste Schleswig-Holsteins untersucht das Projekt, wie menschliche und nichtmenschliche Faktoren die Küstenlandschaft Nordfrieslands im 20. Jahrhundert transformierten. Ihre Geschichte eröffnet nicht nur Einblicke in historische Transformationsprozesse der Nordseeküste, sondern trägt auch dazu bei, die komplexen Wechselwirkungen zwischen menschlichen Akteuren, Umweltfaktoren und technologischen Entwicklungen zu verstehen.

Der vorliegende Beitrag zeigt exemplarisch, wie durch die Untersuchung visueller Quellen eine neue Perspektive auf die kultur-, umwelt- und technikgeschichtlichen Dimensionen der Landgewinnung eröffnet werden kann. Anhand ausgewählter Postkarten aus den 1930er Jahren wird dargelegt, dass die Grafiker:innen und Fotograf:innen der lokalen Verlagshäuser die Küstenlandschaft in die zwei klar abgegrenzten Entitäten Meer und Land teilten, die nur durch Deichbau und Landgewinnung voneinander zu trennen waren. Sie zeigten auf den Postkarten aus dem Untersuchungssample stets eine von zwei Perspektiven: erstens den Blick von einem intakten Deich nach Osten auf das ruhige, meist agrarisch genutzte Land; zweitens den Blick nach Westen auf das Meer, das während einer Sturmflut am Deich hinaufsteigt und dem Land gefährlich nahekommt.[3] Die Darstellungen auf den Postkarten konzentrierten sich auf den Deich als Instrument zur Verteidigung des Landes vor den Kräften der Natur, mit dem der Mensch dem Meer neue landwirtschaftliche Flächen abrang. Sie bekräftigten damit das nationalistische Narrativ des „Culturwerke[s] der Landgewinnung“, nach dem „deutsche Ingenieurskunst“ die Marschgesellschaft schützte und dem Staat durch die Erschließung neuer Landwirtschaftsflächen ökonomische Vorteile einbrachte.[4]

Die auf den Karten dargestellte fiktionalisierte Küstenlandschaft vermittelte, dass sich dem Deutschen Reich an der Nordseeküste die Möglichkeit bot, an den „schöpferische[n] Geist Friedrichs des Grossen“ anzuschließen und, vergleichbar zu den großangelegten Meliorationsprojekten im Oderbruch im 18. Jahrhundert, „die pflanzenleeren Küstenwatten“ umzugestalten.[5] Der Beitrag konzentriert sich auf Karten aus den 1930er Jahren, da die Popularität dieses Narrativs im Kontext der völkischen Bewegungen und dem Erstarken nationalsozialistischer Akteure einen Höhepunkt erreichte. Hinrich Lohse, NSDAP-Politiker und Oberpräsident Schleswig-Holsteins, ließ 1933 einen „Generalplan für Landgewinnung in Schleswig-Holstein“ entwerfen. Die Eindeichung neuer Köge und die Erschließung rentabler Agrarflächen im Wattenmeer wurden spätestens mit der Machtübernahme zu nationalen Aufgaben.[6]

 

Der Blick auf das Land

Das „Nordseebad Ording“, heute Teil der Gemeinde Sankt Peter-Ording im Südwesten der Halbinsel Eiderstedt, entwickelte sich seit den späten 1870er Jahren zu einem touristischen Ausflugsziel. Im Jahr 1877 baute man das erste Hotel in den Dünen, ab 1911 entstanden die ersten charakteristischen Pfahlbauten am Strand.[7] Zwei Postkarten aus den Jahren 1930 (Abb. 1) und 1931 (Abb. 2) zeigten den kleinen Ort mit seinen wenigen Häusern.

Fotografie eines Deichs mit kleineren Häusern auf beiden Seiten

Abb. 1: Postkarte „Nordseebad Ording. Blick v. Deich“ des Verlags M. Glückstadt & Münden, Hamburg ca. 1930

Blick vom Deich auf reetgedeckte Bauernhäuser

Abb. 2: Postkarte „Nordseebad Ording. Fischerhütten am Deich“ des Verlags Hans Mehlert Kunstanstalt, Neumünster ca. 1931

 

Beide Aufnahmen sind Beispiele für die erste Perspektive auf die Küstenlandschaft: Vom Deich aus gesehen – auf einer der Postkarten findet sich sogar die Beschreibung „Blick v. Deich“ –, eröffnen sich für die Betrachter:innen weitläufige Weideflächen. Vereinzelte Häuser zeugen von einer Besiedlung durch einheimische Fischer und die beginnende Bebauung mit touristischer Infrastruktur. So zeigt die Karte von 1931 reetgedeckte „Fischerhütten“, während auf der Fotografie von 1930 zwischen den einzelnen Gehöften gelegene, modernere Hotelbauten zu erkennen sind.

Neben den grünen Flächen und den Häusern durchschneidet ein breiter Weg die Landschaft, der jeweils auf oder entlang der Innenseite des Deiches verläuft und ein weiteres zentrales Bildelement beider Karten darstellt. Obwohl die Abbildungen als Titel die Ortsangabe „Nordseebad Ording“ tragen, zeigen sie die Nordsee nicht. Während der Blick auf der Karte von 1930 klar nach Osten gerichtet ist – am Horizont sind lediglich weit entfernte Wälder auszumachen –, erkennt der/die Betrachter:in auf der Karte von 1931 die Andeutungen des Meeres. In diesem Fall wählte der/die Fotograf:in die Perspektive jedoch so geschickt, dass der Deich das Meer fast gänzlich verdeckt.

Die Abbildungen des Dorfes Ording waren keine Einzelfälle, bei denen sich die Grafiker:innen und Fotograf:innen entschlossen hatten, das Meer außen vor zu lassen und die touristische Perspektive auf das Inland zu lenken. Der Blick vom Deich aus nach Osten scheint vielmehr die für die Zeit typische Darstellungsart der Küstenlandschaft auf Ansichtskarten aus der Region gewesen zu sein. Beispiele aus Husum aus dem Jahr 1907 (Abb. 3) und von der Insel Nordstrand aus dem Jahr 1934 (Abb. 4) zeigen ein nahezu identisches Bild, jeweils mit spezifischen, den Ort betreffenden Abwandlungen. So fügte der/die Ersteller:in bei der Ansicht Husums beispielsweise das Panorama der Stadt am Horizont hinzu. Die übrigen Bildelemente, die weitläufigen Wiesen, vereinzelte, teils reetgedeckte Häuser und Wege auf oder neben dem Deich, finden sich auch auf den Karten von 1907 und 1934. Erneut entschieden sich die Ersteller:innen dagegen, die Nordsee als zentrales Bildelement mit aufzunehmen. Die Darstellung von Husum beschränkte sich gänzlich auf das Festland, die Karte von Nordstrand deutete das Meer nur am linken Bildrand an.

koloriertes Foto von einem Deich, dahinter Häuser, am Himmel Möwen

Abb. 3: Unbenannte Postkarte des Verlags M. Glückstadt & Münden, Hamburg 1907

Blick vom Deich auf vier reetgedeckte Dächer

Abb. 4: Postkarte „Nordstrand – Langer Deich“ des Verlags Th. Thomsen, Flensburg ca. 1934

Innerhalb des „nationalist tourist gaze“, der nach Winiwarters Lesart auf touristischen Postkarten zum Ausdruck kam, wird Natur und Landschaft „not displayed for its intrinsic value, but rather in terms of its value to humans“.[8] Die Abbildung des Blicks vom Deich aus nach Osten, die lokale norddeutsche Verlagshäuser in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts als typisches Bildmotiv etablierten, unterstrich visuell die Bedeutung der Landwirtschaftsflächen Nordfrieslands sowie des Deichs, der ebendiese vor dem Meer schützte.

Zu Beginn der 1930er Jahre wirkte diese Motivik auch auf einer politischen Ebene. Vor der Küste Nordfrieslands gab es große deichreife Vorlandflächen. Projekte wie die Eindeichungen des Cecilienkoogs (1905), des Pohnshalligkoogs (1924) und des Sönke-Nissen-Koogs (1924) hatten gezeigt, dass es möglich war, dieses Vorland, unterstützt durch den Einsatz von Maschinen, verhältnismäßig schnell in Agrarflächen umzuwandeln.[9] Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten – und endgültig mit der Machtübernahme 1933 – wurden Vorhaben dieser Art zu „einem propagandistischen Vorzeigeobjekt allerersten Ranges“.[10]

Tausende Hektar Land sollten in der Küstenregion noch in den 1930er Jahren eingedeicht werden, die „‚Blut-und-Boden‘-Ideologie nahm Gestalt an und wurde zu Werbezwecken vorzeigbar gemacht“.[11] Einige der Projekte setzte das schleswigsche Oberpräsidium im direkten Umfeld der auf den Postkarten abgebildeten Orte um. So entstand beispielsweise 1934 der Hermann-Göring-Koog (heute Tümlauer Koog) in der Nähe von Ording und 1935 der Finkhaushalligkoog bei Husum.[12] Ein Großteil der Deichbauprojekte der anvisierten „friedlichen Lebensraumgewinnung“, die, so der Regionalhistoriker Frank Trende, als Musterbeispiel auch von der gewaltsamen Gebietserweiterung nach Osten ablenken sollten, verliefen jedoch im Sande.[13]

Der Wert der Küstenlandschaft bestimmte sich in der Deutung des nationalistischen Narrativs nicht durch die Anbindung an die Nordsee, sondern gerade durch die Möglichkeit der Zurückdrängung des Meeres und der Gewinnung neuer Agrarflächen. Die spezifischen Darstellungen der Küstenlandschaften Nordfrieslands auf den Postkarten unterstrichen diese nationalistisch geprägte Wertzuschreibung durch die Konzentration auf die zentralen Bildelemente: Die grünen Agrarflächen nahmen den Großteil der Fotografien ein. Obgleich die dargestellten Orte am Meer lagen, maßen die Grafiker:innen den potenziellen Wirtschaftsflächen östlich des Deiches durch die visuelle Hervorhebung des Landes und die gleichzeitige Ausblendung des Meeres einen höheren Stellenwert bei als den scheinbar unrentablen Meeresflächen westlich des Landes.

Die Darstellung der Bebauung verstärkte diese Wertzuschreibung. Traditionelle und moderne landwirtschaftliche Gebäude zeigen, dass Landwirt:innen die Flächen nutzten; die Hotel- und Restaurantanlagen verdeutlichen den touristischen Wert des Landes. Das dritte Bildelement, das sich auf allen vier Karten findet, die Wege auf oder neben dem Deich, weisen darauf hin, dass Besucher:innen die weitläufigen grünen Landflächen im sicheren Schutz des Deiches auf ausgedehnten Spaziergängen bewundern konnten. Die Karten, die teils den Titel „Nordseebad“ tragen, zeigen in keinem der Beispiele den Vorgang des Badens. Auch im Hinblick auf die möglichen touristischen Aktivitäten räumten die Ersteller:innen auf der visuellen Ebene dem Land (das Spazierengehen am Deich) den Vorrang vor dem Meer (das Baden in der Nordsee) ein.

Die vier zentralen Bildelemente, die grünen Flächen, die Bebauung, die Wege und die Auslassung des Meeres, spiegelten als semiotische Symbiose die Wertzuschreibungen des „nationalist tourist gaze“ in den 1930er Jahren.[14] Im Rahmen großangelegter Landgewinnungsprogramme, die bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts diskursiv verankert und ab 1933 von den Nationalsozialisten teilweise umgesetzt wurden, stellte die Möglichkeit, im Wattenmeer weitläufige Agrarflächen zu erschließen, einen zentralen Bezugspunkt dar, den die Machthaber propagandistisch verwerteten. Obgleich die lokalen Verlagshäuser nicht offiziell Teil der nationalsozialistischen Propagandamaschine waren, scheint es, als ob sie dieser durch die Reproduktion der Wertzuschreibungen auf den Postkarten aus der Region zuarbeiteten. Das Land stand im Fokus, die grünen Wiesen und die Hotels versprachen Profite. Das Meer wurde in den Darstellungen aus der öffentlichen Wahrnehmung der Region verdrängt, so wie es auch durch Vorlandgewinnung und Eindeichungen immer weiter zurückgedrängt werden sollte.

 

Der Blick aufs Meer

Das Meer ließ sich jedoch nicht so einfach verdrängen. Es schlug, ganz im Gegenteil, sogar zurück. Die Geschichte der nordfriesischen Küste war seit jeher, wie es die Historikerin Marie Luisa Allemeyer ausdrückte, durch „vom Menschen ausgehende Bemühungen [geprägt], die agrarischen Flächen zu vergrößern […], wohingegen Sturmfluten und Überschwemmungen den Meeresraum wiederum in östliche Richtung vergrößern konnten“.[15] So traf zwischen dem 16. und dem 18. Oktober 1936 eine schwere Sturmflut die Westküste. Sie erreichte „Höhen, die das Ausmaß der höchsten bekannten Sturmfluten noch übertrafen [und] richtete erhebliche Schäden an den Hochwasserschutz-Bauwerken an“.[16] Das nationalsozialistische „Hamburger Tageblatt“ titelte mit den Worten „36 Stunden Kampf gegen die Sturmflut“.[17]

Als eines der wichtigsten Massenmedien der Zeit nutzte man Postkarten „to illustrate, not only local sightseeing, but also political, social, and other issues as a way of news coverage and source of information“.[18] Auch zur Sturmflut von 1936 sind Karten aus Husum (Abb. 5) und von Nordstrand (Abb. 6) erhalten, die zwar in ihrer Aufmachung den bisher besprochenen Quellen ähneln, sich jedoch auf die Abbildung der Flut und ihrer Auswirkungen auf die Küstenlandschaft Nordfrieslands konzentrierten. Sie zeigen die zweite Perspektive, die dieser Beitrag in den Blick nimmt: Vom Deich aus sah der/die Betrachter:in ein von Wellen aufgewühltes Meer. Die Küstenschutzanlagen, von denen der Blick ausgeht, sind teils stark beschädigt. Zudem zeigen die Karten einige Häuser direkt am Deich, die entweder bereits leicht unter Wasser stehen oder von den Fluten bedroht werden. Erneut lässt sich eine fast schematische Abbildung erkennen, die aus drei zentralen Bildelementen besteht: dem Meer, der angegriffenen Küstenschutzinfrastruktur und den bedrohten Gebäuden.

Wellen schlagen an einen Deich, der beschädigt ist; darauf steht ein Haus mit Menschen davor.

Abb. 5: Postkarte „Sturmflut. Husum a. d. Nordsee“ des Verlags Foto-Knittel, Husum ca. 1936

Vier Einzelbilder von Sturmfluten und beschädigten Deichen

Abb. 6: Postkarte „Sturmflut an der Nordseeküste“ des Verlags A. Busch, Husum ca. 1936

Obgleich sie eine Naturkatastrophe an der Westküste zeigten, wirkten die Postkarten von 1936 im Sinne der Bildpolitik, die das nationalistisch gerahmte Narrativ der Landgewinnung im Wattenmeer unterstützte. Eine Forscher:innengruppe des Disaster Prevention Research Institute der Universität Kyoto argumentierte in einem Aufsatz von 2024, dass Postkarten von Katastrophen aus folgendem Grund entstanden seien: „The dramatic hazard images portrayed in them represent the vulnerability and resilience of societies.“[19] Die Karten aus Husum und von Nordstrand zeigen sowohl Verwundbarkeit als auch Widerstandsfähigkeit. Das Wasser nimmt fast das gesamte Bild ein, steigt am Deich hinauf und droht somit, die Weiden und Felder zu überschwemmen.

Die Abbildungen der Häuser am Deich, teils landwirtschaftliche Gebäude (Abb. 6, oben rechts), teils touristische Ausflugslokale (Abb. 5), verdeutlichen, dass beide Industrien, sowohl die Landwirtschaft als auch der Tourismus, in Gefahr gerieten. Die Verwundbarkeit der Agrarflächen zeigt sich, doch auf den Abbildungen kommt es nicht zur Katastrophe. Der Deich brach zwar an einigen Stellen, hielt jedoch stand, wie auf der Bildunterschrift auf der Postkarte nachzulesen ist (Abb. 6, unten links): Ein „[s]chwerer Brecher läuft über den Deich in den Koog“, das Wasser überschwemmte dadurch allerdings nicht den gesamten Koog. Die Häuser kommen dem Meer zwar bedrohlich nahe, können ihrer Zerstörung jedoch entgehen.

Auf allen Abbildungen sind zudem Menschen auf dem Deich zu erkennen, die sich dort scheinbar gefahrlos aufhalten konnten. Das nationalsozialistische „Hamburger Tageblatt“ schrieb: „Die neuen Dämme und Deiche, die im Zuge der Landgewinnungsarbeiten der letzten Jahre errichtet worden sind, [haben] dem rasenden Element widerstanden.“[20] Die lokalen Verlagshäuser spiegelten in ihrer Bildsprache auch im Fall der Darstellung der Sturmflut das Narrativ der Staatspropaganda: Die Katastrophe zeigte zwar die Verwundbarkeit der wertvollen Agrarflächen Nordfrieslands. Obgleich sich das Meer durch dieses Aufbäumen visuell in den Vordergrund drängte, konnte man der gefährlichen Nordsee scheinbar durch die Widerstandsfähigkeit der neuen Deiche entgegentreten und die landwirtschaftlichen Flächen schützen.

Die Darstellungen der nordfriesischen Küstenlandschaften als gut geschützte und äußerst rentable Agrarflächen waren jedoch das, was auch Winiwarter auf Postkarten aus dem 19. und 20. Jahrhundert identifizierte: Fiktionalisierungen eines Raumes im Sinne eines nationalistischen Narrativs.[21] Im Laufe der 1930er Jahre erschlossen die Machthaber in Nordfriesland zwar einige Tausend Hektar Neuland. Den großspurigen Planungen Hinrich Lohses konnte man jedoch nicht gerecht werden. Zudem warfen die erschlossenen Flächen trotz sofortiger Besiedlung der Parzellen und Bestellung der Felder aufgrund der schwankenden Wetterbedingungen und fehlender landwirtschaftlicher Infrastruktur selten besonders hohe Profite ab.[22]

Die Auswirkungen der Sturmflut 1936 waren deutlich verheerender, als die Bilder es zeigten. So schrieb das „Hamburger Fremdenblatt“, im Gegensatz zum NSDAP-eigenen „Tageblatt“, beispielsweise, dass „[a]lte wie neue Bauwerke [des Küstenschutzes] gleichermaßen in Mitleidenschaft gezogen“ wurden.[23] Es kam zu zahlreichen Deichbrüchen, landwirtschaftliche Flächen und Gebäude versanken in den Fluten, eine hohe zweistellige Anzahl an Todesopfern war zu beklagen.[24] Das nationalistische Narrativ der von Menschenhand geschaffenen, klaren Trennlinie zwischen den grünen Wiesen und den grauen Wellen, das die lokalen Verlagshäuser auf den Postkarten aus den 1930er Jahren visuell reproduzierten, war fiktional. Die Untersuchung des „nationalist tourist gaze“ eröffnet eine bildwissenschaftliche Perspektive, aus der auch die visuelle Kultur des heutigen Nordseetourismus, das kristallklare Wasser und der weiße Sand, hinterfragt werden kann.

 

 

[1] Verena Winiwarter, Nationalized Nature on Picture Postcards. Subtexts of Tourism from an Environmental Perspective, in: Global Environment 1 (2008), H. 1, S. 192-215, hier S. 212, online unter https://www.liverpooluniversitypress.co.uk/doi/10.3197/ge.2008.010108 [07.10.2024]; zum „tourist gaze“ auf Postkarten siehe außerdem: Verena Winiwarter, Buying a Dream Come True, in: Rethinking History 5 (2001)), H. 3, S. 451-454.

[2] Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016, S. 47.

[3] In den Vorarbeiten zu dem Projekt wurden 35 Postkarten erfasst, die die Westküste Schleswig-Holsteins abbilden und zwischen 1898 und 1955 gedruckt wurden. Dieser Beitrag untersucht sechs Karten aus den Jahren 1907, 1930, 1931, 1934 und 1936 genauer.

[4] o.A., Politische Nachrichten, in: Berliner Börsen-Zeitung (29), Berlin 1905, S. 3.

[5] Ludwig Meyn, Geognostische Beschreibung der Insel Sylt und ihrer Umgebung, Berlin 1876, S. 753; David Blackbourn, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007, S. 46-53.

[6] Vgl. Frank Trende, Neuland! war das Zauberwort. Neue Deiche in Hitlers Namen, Heide 2011, S. 20-24.

[7] Vgl. Claus Heitmann, Historische Entwicklung von Bad St. Peter-Ording, online, o.D.: https://www.chronik-spo.de/ortsgeschichte/ [07.10.2024].

[8] Winiwarter, Nationalized Nature on Picture Postcards, S. 214.

[9] Siehe zu den Eindeichungen zwischen 1900 und 1930 unter anderem: Horst Schübeler, Landwirtschaft in Schleswig-Holstein. Bilddokumente zur Agrargeschichte, Band III: Köge des 20. Jahrhunderts, Böelschuby 1999; Harry Kunz/Albert Panten, Die Köge Nordfrieslands, Bredstedt 1997; Sielverband Cecilienkoog (Hg.), Der Cecilienkoog 1905-1980, Bredstedt 1980; Thomas Steensen, Nordfriesland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Albert Bantelmann/Albert Panten/Rolf Kuschert/Thomas Steensen (Hg.), Geschichte Nordfrieslands, Bredstedt 1995, S. 207-435.

[10] Trende, Neuland! war das Zauberwort, S. 7.

[11] Ebd., S. 8.

[12] Vgl. Kunz/Panten, Die Köge Nordfrieslands, S. 54, 71-72.

[13] Trende, Neuland! war das Zauberwort, S. 8-9.

[14] Winiwarter, Nationalized Nature on Picture Postcards, S. 214.

[15] Marie Luisa Allemeyer, „Kein Land ohne Deich …!“ Lebenswelten einer Küstengesellschaft in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2006, S. 45.

[16] o.A., Orkan rast über See und Küsten. Sturmflut und Überschwemmungen – Große Schiffsschäden – Deichbrüche im Alten Land – Zahlreiche Todesopfer, in: Hamburger Fremdenblatt 291/1936, S. 3.

[17] o.A., 36 Stunden Kampf gegen die Sturmflut. Orkan und Windstärke 12 über der Wasserkante – Dämme und Deiche bestanden ihre Feuerprobe – Neues Sturmtief rückt an, in: Hamburger Tageblatt 287/1936, S. 1-2.

[18] Larissa Casteliani Marinho Falcao/Norio Maki/Masaru Tanaka, Why Were Disasters Portrayed in Postcards? Disaster Media in the Early 20th Century, in: International Journal of Disaster Risk Reduction 108 /June 2024, S. 1.

[19] Casteliani Marinho Falcao/Maki/Tanaka, Why were Disasters Portrayed in Postcards?, S. 2.

[20] o.A., 36 Stunden Kampf gegen die Sturmflut. Orkan und Windstärke 12 über der Wasserkante – Dämme und Deiche bestanden ihre Feuerprobe – Neues Sturmtief rückt an, in: Hamburger Tageblatt 287/1936, S. 1-2.

[21] Winiwarter, Nationalized Nature on Picture Postcards, S. 214.

[22] Zur Umsetzung der Landgewinnungspläne durch die Nationalsozialisten siehe beispielsweise: Bernd Probst, Deichvorlandbewirtschaftung im Wandel der Zeit, in: Die Küste (58) Heide 1996, S. 47-60; zu schwankenden Ernteerträgen in frisch eingedeichten Kögen siehe unter anderem: Johann Albers, Aufzeichnungen über die Jahre 1906-1922 im Cecilienkoog, in: Sielverband Cecilienkoog (Hg.), Der Cecilienkoog 1905-1980, Bredstedt 1980, S. 97-103.

[23] o.A., Orkan rast über See und Küsten. Sturmflut und Überschwemmungen – Große Schiffsschäden – Deichbrüche im Alten Land – Zahlreiche Todesopfer, in: Hamburger Fremdenblatt (291), Hamburg 1936, S. 3.

[24] Die genaue Anzahl der Todesopfer ist nicht auszumachen und kann anhand der voneinander abweichenden Zeitungsberichte nur geschätzt werden.

 

 

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