Julius Groß – Ein „Tagebuch in Bildern“
Erschließung und Digitalisierung des Fotografen-Nachlasses von Julius Groß (1908-1933)
Die Nachfrage nach visuellen Quellen in Archiven ist in den vergangenen Jahr(zehnt)en deutlich angestiegen – nicht nur von Seiten der Massenmedien, sondern auch und zunehmend von ForscherInnen verschiedenster Disziplinen. Annäherungen an kulturelle oder politische Entwicklungen des 20. und 21. Jahrhunderts verbleiben ohne ihre bildlichen Repräsentationen unvollständig, prägen sie doch ganz wesentlich den Blick auf gesellschaftliche Gegenwarten und Vergangenheiten mit. Bilder vermögen es, Emotionen auszulösen, sie speichern, stimulieren und formieren Erinnerungen, Wertvorstellungen oder Denkmuster und sind somit keineswegs bloße Abbildungen gesellschaftlicher Prozesse, sondern kreieren diese wesentlich mit.
Ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt widmete sich der Aufgabe, den ersten Teil des quantitativ wie qualitativ einmaligen Fotografennachlasses von Julius Groß (*14. April 1892, +23. April 1986 in Berlin) zu digitalisieren und wissenschaftlich zu erschließen. Angesiedelt war es am Archiv der deutschen Jugendbewegung (AdJb) in Witzenhausen, einer Außenstelle des Hessischen Staatsarchivs Marburg, dem die Aufgabe der Sammlung, Sicherung, Erschließung und Nutzbarmachung von Dokumenten zur bürgerlichen Jugendbewegung obliegt. Seit Jahrzehnten gehören hierzu Fotografien – neben Büchern, Zeitschriften, Akten, Nachlässen, Kunstgegenständen, Tonträgern und Filmen sowie Objekten wie Fahnen, Kleidung oder Abzeichen.
Julius Groß, selbst ab 1905 Mitglied des Wandervogels, hatte spätestens seit 1908 seine Kamera auf allen Veranstaltungen dabei. Die Entscheidung zur Ergreifung des Fotografenberufes fiel jedoch erst später und, wie er retrospektiv betonte, eher zufällig. Unter anderem war Groß nach Ende des Ersten Weltkriegs Leiter des Wandervogel-Lichtbildamtes, dessen komplette Sammlung (bestehend aus eigenen und fremden Fotografien) er 1920 in sein privates Archiv nach Berlin überführte. Die fotografische Dokumentation jugendbewegter Fahrten und Veranstaltungen – und in späteren Jahren von Treffen ihrer mit ihm alt gewordenen VertreterInnen – blieb aber bis kurz vor seinem Tode sein wesentlicher Lebensinhalt. Sein fotografischer Nachlass umfasst rund 160.000 Positive und Negative aus über siebzig Jahren Tätigkeit und wurde von ihm in den 1980er-Jahren dem AdJb übergeben.
Groß war weder der erste noch der einzige Fotograf der Lebensreform- wie auch Jugendbewegung, er darf aber infolge der Quantität und Qualität seiner Arbeit durchaus als der prägendste angesehen werden. Seine Aufnahmen vertrieb er erfolgreich in diesem Umkreis, sie illustrierten diverse Publikationen und vermitteln der Nachwelt seine spezifische Sichtweise auf ein bis heute ambivalent wahrgenommenes und diskutiertes Phänomen des 20. Jahrhunderts. Der Groß‘sche Nachlass ist geradezu ein Schlüsselbestand, um Einblicke in die Visualisierung von Jugendbewegung und Lebensreform zu erhalten.
Aus personenschutzrechtlichen sowie inhaltlichen Gründen wurde im Digitalisierungs- und Erschließungsprojekt ein zeitlicher Schnitt im Jahr 1933 gesetzt, woraus sich eine Erfassungszahl von rund 44.000 Objekten ergab. Diese werden sukzessive in das hessische Archivinformationssystem (Arcinsys) eingepflegt, wobei der Fokus der inhaltlichen Erschließung nicht auf den Einzelaufnahmen, sondern auf den fast 800 von Groß selbst angelegten, chronologisch und thematisch in sich weitestgehend geschlossenen Serien mit einer Anzahl von 2 bis weit über 1000 Fotografien liegt. Groß‘ Anspruch war es, „eine bleibende Erinnerung zu erhalten, in Form einer Bilderserie, die den ganzen Verlauf in allen Einzelheiten festhält und so ein Dokument und für die Beteiligten eine Erinnerung an das Erlebte und Geleistete darstellt“.
Obwohl im Kontext eines Umzugs des Nachlassers von Ost- nach West-Berlin diese Ordnung in Teilen durcheinandergeriet, teilweise auch Fotografien verloren gingen, so blieb die elementare Sortierung in Ereignisse, Veranstaltungen diverser Gruppierungen und Organisationen, Städte, Regionen und Länder erhalten. Die vom Fotografen vorgenommene Einheitenbildung wurde somit nicht durch neue Kategorisierungen dekonstruiert. Außerdem werden in einem serienübergreifenden Vergleich Verschiebungen, Kontinuitäten oder Motivwechsel weitaus besser sichtbar. Unter Zuhilfenahme der gängigen Forschungsliteratur, des schriftlichen Nachlasses von Julius Groß sowie von im AdJb lagernden Archivalien zur Jugendbewegung werden die Serien zeitlich und motivisch kontextualisiert. Über die Erschließung der Fotografien hinaus wird der schriftliche Nachlass von Julius Groß erfasst, um abschließend mit einer Bestandsbeschreibung und -geschichte sowie einer Skizze von Julius Groß‘ Lebensstationen eine differenziertere Einordnung des Nachlasses zu ermöglichen.
Tagung: Zur visuellen Geschichte bewegter Jugend im 20. Jahrhundert
Archiv der deutschen Jugendbewegung in Kooperation mit dem LWL-Medienzentrum für Westfalen
30.10. – 1.11.2015 Burg Ludwigstein bei Witzenhausen
Vom 30. Oktober 2015 bis 31. August 2016 findet im Archiv der deutschen Jugendbewegung eine Sonderausstellung zum Werk des Fotografen Julius Groß statt.