Durch die Linse von Erich Lessing: Das ungarische Revolutionsjahr 1956
Rezension zu „Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa“
In einem Hof hat sich eine große Menschenmenge versammelt. Frauen und Männer blicken zu einem glockenförmigen Lautsprecher empor, der die Debatten aus dem Budapester Offiziersclub überträgt. Einige sind auf Fenstersimse der angrenzenden Häuser geklettert. Drinnen tagt der Petöfi-Kreis, ein Gesprächsforum junger Literaten und Intellektueller, und diskutiert über Fragen zur Presse- und Informationspolitik. An diesem 27. Juni 1956 hatten die Veranstalter 600 Zuhörer erwartet, gekommen waren zwischen 6000 und 7000.[1] Die Debatten dauerten bis in die frühen Morgenstunden und entließen ihre Teilnehmer mit der Gewissheit, dass sich etwas ändern müsse in ihrem Land.[2]
Anlässlich des 60. Jahrestags der Ungarischen Revolution brachte der Tyrolia-Verlag aus Innsbruck einen Band mit Bildern des Magnum-Fotografen Erich Lessing heraus. Die oben beschriebene Szenerie ist eine von 197 Fotografien, mit denen der gebürtige Wiener von den Ereignissen in Ungarn 1956 erzählt. Der Titel „Ungarn 1956“ steht bei dieser Publikation für mehr als das Synonym für die Revolution im Herbst 1956. Er steht für die Dokumentation des ganzen Jahres und beschäftigt sich auch mit dem gesellschaftlichen Leben vor und nach der Revolution.
Die Momentaufnahmen aus dem vorrevolutionären kommunistischen Ungarn reichen vom 5-Uhr-Tanztee in einem Kaffeehaus in Budapest und eleganten Modegeschäften bis hin zu Genossenschaftsbauern, die von der Feldarbeit nach Hause kommen. Motive aus der Zeit nach dem Aufstand zeigen verlassene Geschütze, zerstörte Gebäude, Aufräumarbeiten sowie Menschen auf der Suche nach Nahrungsmitteln und Holz, um den kalten Winter überstehen zu können. Auch Diskussionsrunden darüber, wie es nach der gescheiterten Revolution weitergehen könnte, hat Lessing fotografisch festgehalten. Der Bildband liefert zudem Material zu den etwa 200.000 Menschen, die bis Dezember 1956 aus Ungarn geflüchtet sind.
Eine weitere inhaltliche Tiefe bringt das Kapitel über spätere Begegnungen und Erinnerungen an den Aufstand. 42 Jahre nach der Revolution traf sich Erich Lessing mit Mitgliedern des Petöfi-Kreises. Wenige der alten Aufständischen hatten miteinander Kontakt gehalten; schmerzhafte Erinnerungen wurden durch die Wiederbegegnung wachgerufen. Der Saal des ehemaligen Offiziersclubs war inzwischen zur Filiale einer Bank geworden mit Marmorboden und Stuckornamenten an den Wänden.[3]
Historische Hintergrundinformationen zur Ungarischen Revolution erhalten die Lesenden aus einem einführenden Kapitel des österreichischen Historikers Michael Gehler. Auffällig ist hier der Schwerpunkt, der auf den österreichisch-ungarischen Beziehungen liegt. Dieser inhaltliche Fokus ergibt sich aus der Tatsache, dass der Text Gehlers zu Teilen aus dem Kapitel Krise und Revolution im Nachbarland seiner Monografie „Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts“ stammt.[4] Diese Einleitung betont eine spezifisch österreichische Perspektive auf die Ereignisse.
Erich Lessings Bilder sind eindringlich und nehmen die Betrachtenden mit in das Geschehen. Aber es sind auch solche vermeintlich unscheinbaren Bilder wie das eingangs beschriebene, die das Buch so besonders machen. Denn Lessing war der Einzige, der bei den Sitzungen des Petöfi-Kreises fotografiert hat. Als er mit seiner Kamera zu ersten Bildern ansetzte, wurde sein Akt des Fotografierens plötzlich selbst zum Gegenstand der Debatte über Pressefreiheit. Zunächst wurden Stimmen laut, die das Fotografieren verbieten wollten, doch setzte sich die Meinung durch, man selbst müsse auch Pressefreiheit zulassen, wenn man diese politisch einfordere.[5]
Diese Information allerdings findet man nicht in dem Buch. Überhaupt würde man an vielen Stellen im Bildband gerne verstehen, warum Lessing vor Ort war, was ihn angetrieben hat und wie es ihm beispielsweise gelungen ist, in das Hauptquartier der aufständischen Corvin-Gruppe zu gelangen. Die Autoren und der Verlag haben sich dazu entschieden, die Bilder mit kurzen Anmerkungen unter oder seitlich der Abbildungen historisch einzuordnen. Wenn man die Fotografien allerdings als historische Bildquellen betrachtet, so würde man sich – ergänzend zu den historischen Anmerkungen – mehr Informationen zum Entstehungshintergrund der Bilder wünschen. So fehlt ein Abschnitt mit Hinweisen zu Lessings Ungarnreise gänzlich. Lediglich aus dem Pressetext erfährt man:
„Der junge Fotograf Erich Lessing beschließt vom nahegelegenen und gerade erst kürzlich von der Besatzung befreiten Wien nach Budapest zu reisen, um die revolutionären Geschehnisse in seinem Nachbarland zu dokumentieren. Die Bilder, die ihm dort gelingen, zählen mit Recht zu den Meilensteinen der Reportagefotografie und berühren den Betrachter auch heute, fast 60 Jahre später, immer noch wie am ersten Tag. Lessing kann alle Phasen des Ungarnaufstands von den ersten Demonstrationen über den Umsturz bis zur Niederschlagung der Revolte bildlich einfangen. Nicht als unbeteiligter, kühler Journalist, sondern als leidenschaftlicher Dokumentarist, der in jeder Aufnahme Verbindung aufnimmt zu den Menschen und den einschneidenden Veränderungen, deren Zeugen sie gerade werden.“[6]
Mit seiner Perspektive prägt Erich Lessing den Bilderkanon um die Ungarische Revolution. Er ergänzt Motive etwa des demontierten Stalindenkmals und der sowjetischen Panzer, die es in zahlreichen Ausführungen unterschiedlicher Fotografen gibt, um facettenreiche Perspektiven: Er porträtierte die Akteure, dokumentierte Hoffnungen, Gewalt und Zerstörung und fing durch sein Objektiv Stimmungen in Budapest ein. Über Intensität und Qualität der Bilder hinaus zeichnet diese Reportage aus, dass sie nicht nur die zwölf Tage im Herbst 1956 als herausgelöstes Ereignis in den Blick nimmt, sondern auch die gesellschaftlichen Entwicklungen vor und nach der Revolution dokumentiert.
Michael Gehler/Erich Lessing, Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa, 272 S., 197 SW-Abbildungen, Innsbruck 2015, 34,95 €
[1] Michael Gehler/Erich Lessing, Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa, Innsbruck 2015, S. 41.
[2] Der österreichische Publizist Paul Lendvai spricht von einer „Hochstimmung“, in der die Teilnehmer die Veranstaltung verlassen hätten. Vgl. Interview mit Paul Lendvai zu sehen in: Ungarn 1956. Geschichte und Erinnerung @ Zeitgeschichte-online.de, Chronik 27. Juni 1956.
[3] Gehler/Lessing, Ungarn 1956, S. 223.
[4] Dieser Hinweis findet sich auch in der Einleitung. Vgl. Michael Gehler, Vom Tauwetter zum Ungarn-Aufstand 1953-1956, in: ders./Lessing, Ungarn1956, S. 7-25, hier S. 7.
[5] Interview mit Erich Lessing zu sehen in: Ungarn 1956. Geschichte und Erinnerung @ Zeitgeschichte-online.de, Chronik 27. Juni 1956.
[6] Tyrolia-Verlag: Pressemitteilung. Berührendes Porträt einer gescheiterten Revolution. Jahrhundertfotograf Erich Lessing am Höhepunkt seines Schaffens – zum 60. Jahrestag!, Innsbruck 2015.
Zitation
Violetta Rudolf, Durch die Linse von Erich Lessing: Das ungarische Revolutionsjahr 1956. Rezension zu „Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa“, in: Visual History, 01.11.2016, https://www.visual-history.de/2016/11/01/durch-die-linse-von-erich-lessing-das-ungarische-revolutionsjahr-1956/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1579
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