Deaf Gain und Visual History
Ein Interview mit Mark Zaurov
Interviewerin: Annette Vowinckel, Dolmetscherinnen: Christiane Lemke, Oya Ataman (Nachbearbeitung). Das Interview fand während der Tagung Visual History: Konzepte, Forschungsfelder und Perspektiven, Berlin, 2.-4. März 2016, statt. Die Mitschrift des Interviews wurde redaktionell bearbeitet.
Annette Vowinckel: Wir befinden uns auf einer Tagung zum Thema Visual History. Glauben Sie, dass Sie als Gehörloser einen anderen Zugang zu diesem Thema haben als jemand, der hört?
Mark Zaurov: Es gibt unterschiedliche Sichtweisen bezüglich dieser Fragestellung. Die einen sind der Ansicht, dass gehörlose Menschen eine viel nuanciertere Wahrnehmung haben, visuell also feinsinniger sind, weil sie im alltäglichen Leben auf diesen Informationskanal angewiesen sind. Dagegen sind Hörende eher auditorisch orientiert und vernachlässigen durch diesen Fokus den visuellen Kanal. Dafür gibt es den neuen Begriff des Deaf Gain. Dieser meint den Beitrag der tauben Menschen zur hörenden Welt.
In der Architektur zum Beispiel werden Räume herkömmlicherweise als abgeschlossene Quader konzipiert. Gehörlose Menschen brauchen zur optimalen Kommunikation aber Transparenz oder große, mehrstöckige Ebenen innerhalb von Räumen, die es erlauben, sich auch über Distanzen wie von oben nach unten miteinander zu unterhalten. Dies ist mit dem Begriff Deaf Space gemeint und neu im Bereich der Architektur: Räume auf Grundlage der visuellen Kommunikationsprinzipen der Gebärdensprache zu konzipieren. Die durch die Gebärdensprache erforderliche Transparenz beeinflusst die Architekturphilosophie nachhaltig. Dadurch wird die Architektur selbst auch vielfältiger.
Für die Geschichtswissenschaft kann Deaf Gain bedeuten, dass ein/e gehörlose/r Forscher/in Details in visuellen Daten wie zum Beispiel in Fotos oder Filmen entdecken kann, die einem/r hörenden Kollegen/in nicht auffallen. Die Ikonizität, die den Gebärdensprachen innewohnt, kann auf vielerlei Art und Weise der Forschung zugute kommen.
Annette Vowinckel: Das wäre auch tatsächlich meine nächste Frage gewesen: Die Gebärdensprache ist ja eine, die visuell über Zeichen funktioniert – über das Zeigen oder Andeuten. Als jemand, der die Sprache nicht beherrscht, stelle ich mir das jedenfalls so vor. Man könnte nun sagen: Text, also geschriebene Sprache, ist auch visuell. Aber vielleicht gibt es in der Gebärdensprache einen engeren Bezug zu den Wortbedeutungen?
Mark Zaurov: Also, grammatikalisch spielt sich die Gebärdensprache im dreidimensionalen Raum ab. Im Gegensatz dazu sind gesprochene Sprachen und Schriftsprachen linear. Tempus zum Beispiel drückt man anhand von räumlichen Achsen aus. Das Ganze hat den Vorteil, dass unterschiedliche Inhalte gleichzeitig ausgedrückt werden können und man viel Spielraum hat für die Darstellung der Inhalte. In einer linearen Zeile ist das natürlich eher beschränkt. So muss ich bei Unterhaltungen in Lautsprache geduldig warten, bis endlich der Satz zu Ende artikuliert ist, erst dann knüpft der nächste an einen Aspekt an und so weiter. Man kann die Sätze ja nicht einfach „falten“ wie in den Gebärdensprachen: Hier lassen sich Sequenzen im Raum sozusagen übereinander legen, und es entstehen untereinander Bezüge. Filmsprache ist damit eher zu vergleichen – mit Techniken wie Totale oder Nahaufnahme. Sich solcher Techniken bedienen zu können, ist ein Vorteil der Gebärdensprachen. Sie beruhen auf einer anderen Modalität als der Laut- und der Schriftsprache.
Annette Vowinckel: Haben Sie sich als Historiker schon mal mit Bildern beschäftigt?
Mark Zaurov: Ja, natürlich beschäftige ich mich als Historiker mit Bildern der Vergangenheit. Ich suche nach gehörlosen jüdischen Personen auf Bildmaterial, mit denen ich mich als tauber Jude identifiziere. Ich frage zum Beispiel, aus welchem Grund eine bestimmte Person zusammen mit anderen renommierten tauben Personen auf einem Foto abgebildet ist. War sie damals in der tauben Gesellschaft eine wichtige Person, die durch die NS-Epoche in Vergessenheit geriet? Ohne Grund wurden diese Fotos keinesfalls gemacht, denn es gibt aus dieser Zeit nur sehr wenige Bilder von jüdischen Gehörlosen in nichtjüdischer Umgebung.
Fehldeutungen hörender Historiker im Umgang mit Daten und Dokumenten der Gehörlosengeschichte können bestehende Vorurteile verstärken. Während der Entwicklung von Unterrichtsmaterial zum Thema Deaf Holocaust sichtete ich sehr viele Fotografien und entdeckte sogar einen Fehler im Begleitband der Ausstellung[1] zur „Israelitischen Taubstummenanstalt in Berlin-Weißensee“, die von hörenden Historikern erstellt worden war. Es ging um die Datierung einer bestimmten Aufnahme. Ich hatte mich schon gefragt, wie es sein kann, dass 1935 eine Gruppe tauber jüdischer Personen bei einem ganztägigen gesellschaftlichen Ereignis vergnügt für ein Foto vor dem Reichstag posieren konnte. Es stellte sich dann heraus, dass das Bild viel früher, vor 1933 aufgenommen worden war. Zu der Zeit war das gesellschaftliche Leben anders: Gehörlose Nicht-Juden und gehörlose Juden lebten stärker miteinander, feierten zusammen, unternahmen Dinge und verbrachten gemeinsam Zeit – nicht so wie heute, wo taube Juden als „andersartig“ gelten und auf Distanz gehalten werden. Dieser Gegensatz tritt aus den alten Fotografien hervor.
Annette Vowinckel: Glauben Sie, dass es für jüdische Gehörlose in Deutschland schwieriger ist als für nicht-jüdische Gehörlose im Alltag klarzukommen?
Mark Zaurov: Hm, das ist schwierig zu beantworten, ich muss da meine Worte auf die Goldwaage legen. Beim Thema Juden sind hörende Menschen in der Regel reserviert wegen der deutschen Vergangenheit. Ich musste mich daher sehr auf das konzentrieren, was ich vortrage. Ob mir das etwas gebracht hat, weiß ich nicht. Andererseits stoße ich immer wieder auf heftige Barrieren, gerade auch im wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Bereich besonders bei der damit verbundenen Frage der Dolmetscherkostenübernahme. Viele meinen, dass der Zentralrat der Juden mit seinem vielen Geld für mich wie für die Projektförderung zuständig sei, und was ich denn von ihnen noch mehr haben wolle. Dabei bekomme ich vom Zentralrat der Juden überhaupt keine Förderung, da interessiert sich keiner für taube Juden, weil Inklusion dort noch kein Thema ist. Und meine Barriere rührt sich nicht vom Fleck. Ich werde aufgrund der jüdischen Zugehörigkeit stigmatisiert. Dazu kommt, dass ich durch die Nichtteilnahme meine Expertise nicht vertiefen wie auch meine Reputation mittels Netzwerk-Aufbau nicht erweitern kann. Durch das fehlende Wissen wird man parallel bzw. exponentiell dann aufgrund der Taubheit stigmatisiert durch die Vorstellung, dass taube Menschen eben nicht intelligent seien bzw. nicht auf das gleiche Niveau wie hörende Wissenschaftler kommen könnten. Mittel für Projekte einzuwerben ist extrem schwierig. Deshalb bin ich schon froh, dass es mir bis jetzt gelungen ist, einige Projekte völlig unabhängig vom Zentralrat der Juden auf die Beine zu stellen.[2]
Annette Vowinckel: Ist das deutsche Wissenschaftssystem nach ihrer Einschätzung inklusiv? Wo sehen Sie besondere Schwierigkeiten?
Mark Zaurov: Nein, die deutsche Wissenschaft ist nicht inklusiv, auf keinen Fall. Bei dieser Tagung bin ich Ihnen und Ihrem Engagement sehr dankbar, dass es Mittel für eine Simultanübersetzung gab.[3] Hier ist der erhebliche Aufwand durch die Finanzierung der Gebärdensprach-Dolmetscherinnen zu sehen, sodass ich als tauber Wissenschaftler im Sinne von Inklusion am Wissenschaftsbetrieb teilnehmen kann. Ohne Ihr Engagement wäre ich bei dieser Tagung gar nicht dabei gewesen. Oft aber ist es so, dass Monate vorab die Frage der Kostenübernahme für Dolmetscher erörtert und nach Vorlage der Kostenvoranschläge in letzter Minute schließlich doch abgesagt wird.
Manchmal scheint es mir, als könnten hörende Wissenschaftler im ICE sitzen und ohne jegliche Barrieren in wissenschaftliches Neuland fahren. Wir Gehörlosen dagegen sitzen im D-Zug und tuckern hinterher. Wir müssen immer wieder mühsam dafür kämpfen, dass wir überhaupt vorankommen und nochmals uns selbst innerlich aufbauen sowie motivieren. Die Energie und Arbeitszeit könnte ich stattdessen sehr gut für meine Forschung einsetzen. Das ist eben eine strukturelle Diskriminierung, die mich benachteiligt. Ein weiterer Aspekt ist die Förderung der Gehörlosenkultur nach der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK Art. 30, Abs. 4), die bislang kaum umgesetzt wird. Bislang sind Projektmittel zur Erforschung der Deaf History innerhalb der Geschichtswissenschaft schwer erhältlich. Das ist aber für eine partizipative Inklusion entscheidend.
Annette Vowinckel: Herr Zaurov, vielen Dank für das Gespräch.
[1] „Öffne deine Hand für die Stummen“. Die Geschichte der Israelitischen Taubstummen-Anstalt Berlin-Weißensee 1873 bis 1942, hg. v. Vera Bendt u.a.; eine Ausstellung der Jüdischen Volkshochschule Berlin und des Jüdischen Museums im Berlin-Museum, 25. November 1993 bis 16. Januar 1994, Berlin 1993.
[2] Projekte wie der 6th Deaf History International Kongress an der Humboldt-Universität zu Berlin (31.07.-04.08.2006) und die deutsche Übersetzung oder die Pessachfeier mit einem tauben Rabbiner aus den USA 2007 sowie die Erstellung von Unterrichtsmaterialien 2014/15.
[3] Für die Finanzierung von DolmetscherInnen sind während der ersten Ausbildung der Sozialträger für Eingliederungshilfe im jeweiligen Bundesland zuständig (meistens das Sozialamt mit Einkommens- und Vermögensprüfung) und im Arbeitsleben die Integrationsämter (ohne Einkommens- und Vermögensprüfung). In vielen Fällen, zum Beispiel bei einer Promotion, die als zweite bzw. dritte Ausbildung gilt, oder bei der Inanspruchnahme von Promotions-Stipendien, werden keine Mittel für Dolmetscher bewilligt. Oft müssen für Tagungen diese von den Veranstaltern selbst anderweitig aufgetrieben werden – im Fall der Visual History-Tagung wurde die Simultanübersetzung von der Leibniz-Gemeinschaft und vom ZZF Potsdam getragen.