Neun Blicke auf ethnografische Bilderwelten

Die Ausstellung „Fragende Blicke. Neun Zugänge zu ethnografischen Fotografien“ im Museum Fünf Kontinente in München

Ein Bild verwundert in einer Ausstellung mit dem Titel „Fragende Blicke. Neun Zugänge zu ethnografischen Fotografien“: Die Farbaufnahme im klassischen 10 x 15 cm-Format aus dem Jahr 1984 zeigt drei Personen, die vor dem Museum Fünf Kontinente (damals Staatliches Museum für Völkerkunde) in der Münchner Maximilianstraße posieren. Es scheint ein grauer, kalter Tag gewesen zu sein, an dem die Aufnahme entstand, die in ihrem Stil an Touristenaufnahmen erinnert und sich in jedem privaten Familienfotoalbum befinden könnte. Zwischen einer Frau rechts und einem älteren Herrn links steht ein junger dunkelhäutiger Mann. Durch die Bildunterschrift „Alfredo (Aherowë) zu Besuch in München“ kann schließlich eine Verbindung zu einer daneben hängenden Aufnahme mit dem Titel „Yaima, Asiawës Frau, mit ihrem Sohn“ hergestellt werden. Sie wurde 1954, also 30 Jahre zuvor, im Dorf Mahekodotedi in Venezuela, in dem Waika, eine Gruppe der Yanomami leben, von dem älteren Mann auf der Farbaufnahme, dem Ethnologen Otto Zerries, aufgenommen. Auf dem Bild sehen wir eben jenen jungen Mann als Baby auf dem Rücken seiner Mutter.

Fragende Blicke. Bild 01: Junge Frau mit Kind im Tragetuch, Yamolemi mit Nichte Liehemi (das oben im Text beschriebene Bild ist als Pressefoto nicht zugänglich). Foto: Meinhard Schuster und Otto Zerries, 1954, Oberer Orinoko, Venezuela, Schwarz-Weiß-Abzug, Museum Fünf Kontinente, Inv. Nr. FO-39-1-463 MFK © mit freundlicher Genehmigung

Die beiden Fotografien verdeutlichen zweierlei: erstens, dass EthnologInnen auf ihren Forschungsreisen Kontakte zu Einheimischen knüpfen, die über Jahre fortdauern und schließlich – auch wenn vielleicht nur in seltenen Fällen – zu Gegenbesuchen führen können; und zweitens, dass ethnografische Fotografien einen weiten Kontext aufweisen, der über das Einzelbild hinausgeht. Dieser kann mit Hilfe von schriftlichen Quellen oder weiteren Fotos rekonstruiert werden. Das Ergebnis eines solchen Versuchs zeigt die aktuelle Fotoausstellung im Museum Fünf Kontinente in München, die noch bis Ende Juni 2019 zu sehen ist.

Ausgangspunkt der Ausstellung war eine Kooperation zwischen der museumseigenen Fotosammlung und dem Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Neun Studierende wählten aus den Beständen je ein Konvolut aus, um – wie der Titel der Ausstellung verrät – fragende Blicke darauf zu richten und die (Entstehungs-)Kontexte sowie spätere Verwendung zu rekonstruieren. Die ausgewählten Aufnahmen stammen aus den Jahren 1862 bis 1956 und verdeutlichen in ihrer inhaltlichen und konzeptionellen Heterogenität die Vielschichtigkeit fotografischer Bestände in Museen wie dem Museum Fünf Kontinente.

So finden sich bis auf den breiteren ethnografischen Entstehungskontext und den jetzigen Aufbewahrungsort zunächst wenig Gemeinsamkeiten zwischen den Aufnahmen, die sowohl von Privatpersonen, die etwa in Kolonien beruflich tätig waren, von WissenschaftlerInnen wie auch professionellen FotografInnen stammen, die im Auftrag arbeiteten bzw. ihre Bilder später verkauften. Entstanden sind die gezeigten Aufnahmen in Süd- und Nordamerika, Japan, Ozeanien, Asien wie auch Sibirien. Entlang der ausgewählten Bilder gliedert sich die Ausstellung in neun Einheiten, die mit lesenswerten und zugänglichen Texten eingeführt werden. Ihre Lektüre verdeutlicht, dass die Studierenden bei ihrer Forschung kritischen Fragen wie der nach dem Verhältnis zwischen fotografierender und porträtierender Person nachgingen, dass sie sich problematischen Themen wie dem unfreiwilligen Porträtieren im Zusammenspiel mit kolonialer Macht widmeten und auch spannende Aspekte wie etwa die Inszenierung ethnografischer Fotografien behandelten.

Ein Thema, das gleich in drei Gruppen zur Sprache kommt, ist der Markt mit Bildern aus der „Ferne“. So entstand etwa Ende des 19. Jahrhunderts ein großes Angebot an Stereoaufnahmen von Ureinwohnern Nordamerikas, die u.a. in Gefangenenlagern und ohne Erlaubnis der Porträtierten aufgenommen wurden. Wie das Ausstellungskapitel „Popularisierung in 3D – Stereoskopien aus Nordamerika“ deutlich macht, waren sie auf dem europäischen Markt ein beliebtes Kaufobjekt und trugen in Europa zur Popularisierung der Vorstellung indigener Bevölkerung Nordamerikas bei. Welches plastische Bild im wörtlichen Sinne sich die KäuferInnen von den „Indianern“ machten, können die BesucherInnen in der Ausstellung mithilfe der zur Verfügung gestellten Stereobrillen selbst nachempfinden.

Das Thema der ethnografischen Fotografie als kommerzielles Produkt wird auch anhand von Souvenirfotos aus Japan aufgegriffen, auf denen die stereotypen Vorstellungen über den Inselstaat inszeniert und für die europäischen BetrachterInnen bestätigt wurden. Die ausgewählten Landschaftsaufnahmen, Porträts und Genreszenen des späten 19. Jahrhunderts unterscheiden sich dabei erstaunlich wenig von heutigen Bildern japanischer Folklore, was verdeutlicht, wie hartnäckig solch Stereotype fortleben.

Fragende Blicke. Bild 09: Sumô-Ringer, Fotograf unbekannt, ca.1880-1910, Tokio, Yokohama, Japan, Albumin-Abzug handkoloriert, Museum Fünf Kontinente, Inv. Nr. FO-22-1-41 MFK © mit freundlicher Genehmigung

Die Gruppe mit dem Thema „Lichtbilder und Farbtöpfe – Fotografien als wandelbare Objekte“ stellt schließlich die Arbeit des Berufsfotografen, Schriftstellers, Theaterschauspielers und Forschungsreisenden Kurt Boeck (1855-1933) vor. Seine Arbeiten führen beispielhaft vor Augen, wie der ursprüngliche Zustand von Fotografien vor der Veröffentlichung etwa in Zeitschriften verändert wurde, um der Erwartungshaltung des Publikums zu entsprechen. Indem in der Ausstellung das Material aus der Sammlung den schließlich publizierten Versionen gegenübergestellt wird, können die deutlichen Spuren der Retusche und Kolorierung sowie ihre Folgen für den gewünschten Bildeindruck nachvollzogen werden.

Äußerst gelungen zeigt sich die Präsentation hawaiianischer Porträtaufnahmen. Die 1872 vermutlich privat, von den porträtierten Frauen selbst in Auftrag gegebenen Fotografien wurden Ende des 19. Jahrhunderts in pseudokritische Kontexte überführt und die darauf abgebildeten Hawaiianerinnen in „ethisch-rassistische“ Kategorien eingeordnet. Die jeweilige Zuordnung findet sich handschriftlich auf der Rückseite der Fotografien vermerkt. Um die lange praktizierte Methode, Menschen in „Typen“ zu unterteilen, zu kritisieren und deren Willkürlichkeit zur Schau zu stellen, werden in der Ausstellung sowohl die Vorder- wie auch Rückseiten gezeigt, eine Zuordnung beider ist jedoch nicht möglich. Denn die Reproduktionen der Vorderseiten – wesentlich kleiner im Format – hängen getrennt von den stark vergrößerten Rückseiten, die den zu verurteilenden Umgang mit den Aufnahmen und somit auch den Porträtierten dokumentieren.

Die Gruppe „Fremde Erinnerung – Ein kolonialzeitliches Familienalbum aus Neuguinea“ verdeutlicht, wie unvoreingenommen die Studierenden bei ihrer Recherche vorgegangen sind. So zeigt sich ein offener Blick für die Person hinter der Kamera und deren persönliche Situation innerhalb des nicht immer unproblematischen Entstehungskontextes. Die Aufnahmen des böhmischen Bohrmeisters Eduard Gangl entstanden während seines beruflichen Einsatzes in Neuguinea zwischen 1924 und 1930 und dokumentieren unterschwellig den interkulturellen Zusammenstoß im Dorf PoPo, das aufgrund seiner Nähe zu einem Ölfeld von Kolonialmächten besetzt wurde. Mit persönlichem Blick hielt Gangl Festlichkeiten, die ihm bekannten DorfbewohnerInnen wie auch sehr ungewöhnliche Situationen fest, so z.B. das Nebeneinander von Einheimischen und europäischen Frauen in ihrer vor Ort deplatzierten Garderobe. Eine Aufnahme zeigt auch die offensichtliche Unbeholfenheit, als für ein Gruppenporträt die Einheimischen die europäischen Kinder auf dem Schoss haben, während ihre eigenen Kinder von den fremden Frauen in die Luft gehalten werden. Wie inszeniert oder erzwungen vor allem für die DorfbewohnerInnen diese festgehaltenen Momente waren, lässt sich nur erahnen.

Fragende Blicke. Bild 03: „Geschmückt zum Tanz“, Foto: Eduard Gangl, 1927-30, PoPo, Golf-Provinz, (damals) Britisch Neuguinea, rechts: Eduard Gangl, links: nicht identifizierte Person, Museum Fünf Kontinente, Inv. Nr. FO-107-1-46 MFK © mit freundlicher Genehmigung

Dass die Beziehung zwischen den Personen vor und hinter der Kamera entscheidend war, um authentische Momente und Situationen festzuhalten, wird nicht nur anhand der Aufnahmen Gangls verhandelt. Auch an anderer Stelle in der Ausstellung wird klar, wie wichtig das Vertrauen der Porträtierten gegenüber dem/der FotografIn war, um überhaupt fotografieren zu können. So gelang es etwa Theodor Koch-Grünberg, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Amazonasgebiet, in Nordbrasilien und Venezuela forschte, über die Kinder Zutritt zu der ihm fremden Gemeinschaft zu gewinnen.

Fragende Blicke. Bild 07: „Sohn des Häuptlings“, Foto: Theodor Koch-Grünberg, 1911-1913, Denon/, Nordbrasilien, Glasplattennegativ, Museum Fünf Kontinente, Inv. Nr. F-219 MFK © mit freundlicher Genehmigung

Präsentiert werden die ausgewählten Bildquellen als stark vergrößerte Reproduktionen, die nur durch die in den Bildunterschriften mitgelieferten Maßangaben ein ungefähres Gefühl für das tatsächlich vorhandene Material vermitteln. Stellenweise wäre es jedoch wünschenswert gewesen, zumindest reproduzierte Stellvertreter im Originalformat danebenzuhängen. Warum man sich für diese Präsentationsform, die nur einen ungefähren Eindruck von den tatsächlich vorhandenen Bildquellen, ihrer Materialität, Farbigkeit und Größe vermittelt, entschieden hat, obwohl es sich um museumseigene Exponate handelt, wird nicht erklärt. Auf der anderen Seite bietet diese Taktik den Vorteil, dass die BesucherInnen ähnlich wie die Studierenden mit einer Lupe gleich die historischen Fotografien betrachten, Details erkennen können und gleichzeitig sowohl Vorder- wie auch Rückseite sehen.

Diese Ausstellungspraxis vermittelt daher einen Eindruck davon, was es heißt, mit historischem Material zu arbeiten, das in erster Linie Forschungsgegenstand und nicht Ausstellungsobjekt ist. Denn die Ausstellung ist neben einer Präsentation von historischem Fotomaterial aus ethnografischem Kontext vor allem eine, die Antworten auf folgende Fragen in den Ausstellungsraum bringt: Wie kann und muss mit historischen Fotos, über deren Entstehungskontext und Verwendungsweisen wenig bis gar nichts bekannt ist, heute gearbeitet werden?

Indem die Studierenden ihre Vorgehensweise bei der Untersuchung der Fundstücke aus der fotografischen Sammlung und ihre Resultate offenlegen, ihren notwendigen fragenden Blick und ihre Unvoreingenommenheit thematisieren, ist ihnen eine Ausstellung gelungen, die vorführt, wie paradigmatisch mit (historischem) Fotomaterial gearbeitet werden kann. Denn die Reproduktionen und die mitgelieferten Texte verdeutlichen, dass es bei diesen Fotografien weniger um den festgehaltenen Moment geht: Das Bild und sein Träger halten wichtige Informationen bereit, die helfen können, den Entstehungskontext und die weitere Verwendung der Fotografie zu rekonstruieren.

Einzig der Ort der Präsentation ist zu bedauern. So wurde die Ausstellung im Treppenhaus gehängt – sie hätte einen geeigneteren Platz verdient. Der Ort garantiert auf jeden Fall aber viele BesucherInnen, die auf ihrem Weg in die Ausstellungsräume zwangsläufig an den ausgewählten Fotografien vorbeikommen. Wer stehen bleibt und sich Zeit nimmt, sieht eine Ausstellung einerseits über koloniale und ethnografische Fotografie, andererseits über die Möglichkeiten fotohistorischer Forschung, die in Archiven und Depots darauf warten, genutzt zu werden.

 

Die Ausstellung Fragende Blicke. Neun Zugänge zu ethnografischen Fotografien ist noch bis zum 5. Februar 2020 im Museum Fünf Kontinente in München zu sehen.

 

 

Zitation


Stefanie Dufhues, Neun Blicke auf ethnografische Bilderwelten. Die Ausstellung „Fragende Blicke. Neun Zugänge zu ethnografischen Fotografien“ im Museum Fünf Kontinente in München, in: Visual History, 01.04.2019, https://www.visual-history.de/2019/04/01/neun-blicke-auf-ethnografische-bilderwelten/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1635
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