Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 12. April bis 15. September 2019
Diese Ausstellung – eine Kooperation der Neuen Nationalgalerie Berlin mit der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde – wirft einen neuen Blick auf Emil Nolde, den wohl berühmtesten „entarteten Künstler“, der gleichzeitig auch NS-Parteimitglied war: Welche seiner Werke wurden im nationalsozialistischen Deutschland toleriert und welche nicht? Und wie wirkte sich das „Dritte Reich” auf Noldes Schaffen und seine Selbstwahrnehmung aus? Noldes Position im Nationalsozialismus ist aufgrund der widersprüchlichen Reaktionen auf seine Kunst nicht leicht zu fassen: anfangs als Staatskünstler gehandelt, bis 1936 in der Nationalgalerie ausgestellt, später mit Berufsverbot belegt und nach Ende der Diktatur als Personifikation des widerständigen Künstlers gefeiert. Mit über 100 teilweise bislang nicht gezeigten Originalen, die mit Bezug auf Noldes Schriften und im Kontext ihrer historischen Entstehungsumstände in vier Sektionen präsentiert werden, möchte die Ausstellung die vielschichtigen Beziehungen zwischen Bildern, Selbstinszenierungen des Künstlers, Verfemung und Legendenbildung aufzeigen.
Die kuratorischen Herausforderungen bestehen zum einen in der Rekonstruktion der Zusammenhänge zwischen künstlerischem Schaffen und Biografie in den Jahren des Nationalsozialismus und zum anderen – und dies ist sozusagen der Rahmen für alle vier Sektionen – in der Revision der bisherigen Legenden, die sich um Noldes Situation im Nationalsozialismus ranken. Mit Blick auf den ersten Punkt, die Darlegung der Position Noldes im Nationalsozialismus sowohl im Öffentlichen als auch im Privaten, stellt die Ausstellung eine Reihe von zentralen neuen Erkenntnissen vor. Unter anderem geht es darum, Noldes Sympathie gegenüber dem NS-Staat und seinen sich radikalisierenden Antisemitismus inhaltlich in Beziehung zu setzen mit bislang unbekannten Motivwelten – mythische Opferszenen oder „nordische“ Menschen – und zu zeigen, wie sehr Nolde sich gerade auch aufgrund seiner Identifikation mit dem Regime und aufgrund seines Selbstverständnisses als deutscher Künstler durch die „Entartete“-Kunst-Kampagne und das Berufsverbot zu Unrecht verurteilt sah. Immer wieder versuchte er, über seine guten Kontakte zu den innersten Zirkeln des Regimes das Blatt zu wenden. Dass dies nicht gelang, war rückblickend ein Glücksfall für seine Kunst, wurde doch nach dem Krieg die „Entartung“ zum „Gütesiegel“ der deutschen Moderne (Peter-Klaus Schuster).[1]
Mit Blick auf den zweiten Punkt – die Revision bekannter Erzählweisen – geht es in der Ausstellung also auch darum, das in der Nachkriegszeit entstandene Verfolgungsnarrativ zu hinterfragen und durch bislang nicht gezeigte Werkzusammenhänge und Episoden differenzierter darzustellen. Aufgrund der selektiven Auswahl von künstlerischen Werken und autobiografischen Dokumenten wie den „Worten am Rande“ gelang es dem Kunsthistoriker Werner Haftmann, Noldes Kunst als widerständig darzustellen, seine Parteimitgliedschaft als anfängliche Irrung von seinem autonomen Künstlertum zu trennen und ihm eine zentrale Rolle zuzuweisen als deutschem Vertreter einer europäischen Moderne.
Ab den 1960er Jahren verbreitete sich damit eine Lesart, die Noldes Opferrolle im Nationalsozialismus betonte: Die sogenannten Ungemalten Bilder sollten z.B. erst ab 1938 und im Verborgenen entstanden sein; damit einhergehend wurde das 1941 erteilte „Berufsverbot“ zu einem „Malverbot“ umdefiniert. Gerne hervorgehoben wurde auch die unangefochtene Spitzenreiterrolle Noldes in der „Entarteten Kunst“-Kampagne mit 1052 Werken. Verschwiegen wurden dagegen zahlreiche Informationen, die nicht in das Narrativ passten. Neuauflagen seiner Memoiren wurden von antisemitischen Passagen gesäubert, die „Worte am Rande“ wurden nur in Auszügen veröffentlicht, problematische Aussagen in der Korrespondenz waren nicht zugänglich.[2] All dies führte dazu, dass viele Bücher und Kataloge einen Beitrag zu der Legendenbildung geleistet haben, mit der die Ausstellung sich auseinandersetzt.
Die Ausstellung präsentiert damit die Forschungsergebnisse einer institutionellen Zusammenarbeit zwischen dem Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz und der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde und entwickelt sie weiter. Das Forschungsprojekt wurde durchgeführt von Bernhard Fulda, Historiker an der Universität Cambridge (und Verfasser dieses Textes), der – zusammen mit der Kunsthistorikerin Aya Soika (Bard College Berlin) und Christian Ring, dem Direktor der Nolde Stiftung – als Kurator die Ausstellungskonzeption entwickelt hat. Möglich gemacht wurden die Forschungen des Verfassers durch ein Research Fellowship der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und der Gerda Henkel Stiftung.
Wie der Direktor der Berliner Nationalgalerie Udo Kittelmann in seinem Geleitwort im Katalog zu Recht hervorhebt, ist die Berliner Nationalgalerie ein „dem Thema angemessener Ausstellungsort“.[3] Denn historisch spielte das Museum und sein Personal eine zentrale Rolle in der Konstruktion der Nolde’schen Künstlerlegende: angefangen mit der Ankaufspolitik Ludwig Justis; dem umstrittenen Ausstellungsprojekt Neuere deutsche Kunst ihres Kustos Ludwig Thormaehlen (1932);[4] dem gescheiterten Versuch des Interims-Direktors Alois Schardt, Nolde als Altmeister eines „nordischen“ Expressionismus zu etablieren (1933); der Hängepolitik Eberhard Hanfstaengls (1933-37);[5] Paul Ortwin Raves Erfindung des „widerständigen“ Künstlers in seinem Buch „Kunstdiktatur im Dritten Reich“ (1949);[6] bis zu Werner Haftmanns kongenialer Fortschreibung der Nolde’schen Heldenerzählung in den späten 1950er und 1960er Jahren.[7] Trotz dieser institutionell engen Verknüpfung mit Nolde hat die Nationalgalerie dem Künstler seit 1945 – bis auf eine Studio-Ausstellung von Noldes Südseereise der Nationalgalerie (Ost-Berlin 1984) – keine Ausstellung mehr gewidmet.
Gliederung
Die Ausstellung besteht aus vier Haupt-Sektionen, in denen insgesamt 35 Gemälde, 61 Aquarelle, 7 Grafiken und 3 Skulpturen gezeigt werden; hinzukommen über 95 Reproduktionen von Kunstwerken. Um den historischen Kontext abzubilden, sind diese Sektionen klar chronologisch gegliedert, von vor 1933 bis nach 1945. Gleichzeitig werden in den einzelnen Sektionen unterschiedliche Themen behandelt, unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Öffentlichkeit und Privatem. Eine wichtige Rolle spielen in diesem Zusammenhang ausgewählte Texte und Korrespondenzen Emil Noldes.
I. Die erste Sektion, Der Nolde-Kult vor 1933: Bewunderung und Kritik, führt in das Spannungsfeld aus Verehrung und Verfemung ein. So wird anhand des Gemäldes Referenten (1921; später umbenannt zu: Sechs Herren) Noldes ambivalentes Verhältnis zur Kunstkritik erläutert. Andere Exponate veranschaulichen sowohl die quasi-religiöse Verehrung, die Nolde in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren von einigen Zeitgenossen erfuhr, als auch die heftigen Angriffe seitens der Kritiker der Moderne. Schon damals genoss Nolde als Maler der religiösen Gemälde legendären Status. Die Besucher begegnen den historischen Debatten zu Nolde und seinen Werken über die Exponate Pfingsten (1909), Verlorenes Paradies (1921) und Die Sünderin (1926). Anhand der großen Nolde-Retrospektive von 1927 wird gezeigt, wie Nolde zur Gründungsfigur einer anti-impressionistischen, genuin „deutschen“ Kunstbewegung erklärt wurde. In den Jahren nach 1933 wurde diese Deutung mit Verweis auf den frühen Konflikt mit Max Liebermann und die Rolle einer angeblich jüdischen Kunstkritik erneut aufgegriffen. Emil Nolde selbst trug durch seine Memoiren zur Stilisierung seines Künstlertums bei. 1931 erschien der erste Band seiner Autobiografie, „Das eigene Leben“, dem 1934 „Die Jahre der Kämpfe“ folgten.
II. Die zweite Sektion, Nolde als zentrale Figur im Expressionismusstreit, 1933–1937, thematisiert die Ungewissheit über den Stellenwert des deutschen Expressionismus in den frühen Jahren des NS-Regimes und die zentrale Rolle, die Noldes Kunst bei dem Versuch spielte, durch die Präsentation eines „nordischen Expressionismus” eine mit der NS-Ideologie kompatible Kunst-Formel zu finden. Diese Sektion besteht aus vier Themenbereichen, die sich mit dem Kunsthandel, der Berliner Nationalgalerie, der Musealisierung und Beschlagnahmungs-Kampagne sowie der Ausstellung Entartete Kunst beschäftigen.
Der Themenbereich zum Kunsthandel widmet sich vor allem den Ausstellungen, die durch Noldes Berliner Galeristen Ferdinand Möller veranstaltet wurden; darunter auch die Ausstellung 30 deutsche Künstler im Sommer 1933, die von jungen NS-Aktivisten organisiert wurde und in der Nolde mit zwei Gemälden als Spiritus Rector einer jungen, revolutionären Kunstbewegung präsentiert wurde. Außerdem werden einige der Werke gezeigt, die Möller anlässlich zweier sehr erfolgreicher Einzelausstellungen 1934 und 1937 präsentierte. Durch die Präsentation einiger Verkaufsbücher aus dem Möller-Nachlass wird veranschaulicht, dass Nolde in den Jahren des Nationalsozialismus sehr hohe Verkaufseinnahmen hatte. In dieser Abteilung wird auch eine Vorzugsausgabe von Noldes Autobiografie gezeigt, die während der Nolde-Ausstellungen bei Möller zum Kauf angeboten wurden. In dem Band „Jahre der Kämpfe“ (1934) inszenierte sich Emil Nolde als Vorkämpfer gegen eine angeblich jüdisch dominierte Berliner Kunstszene vor 1914: Schon zu diesem Zeitpunkt besaß das Nolde-„Narrativ” eine wichtige Begleitfunktion für die Kunstwerke.
Gegenüber der Kunsthandels-Abteilung liegt der Themenbereich Berliner Nationalgalerie. Hier wird der Besucher mit der Inkohärenz der nationalsozialistischen Kunstpolitik konfrontiert: Die von Alois Schardt vorgenommene Auswahl „harmlos“ anmutender Nolde-Aquarelle wurde im Herbst 1933 verboten, wohl weil Schardt versuchte, durch seine Neuhängung den Expressionismus als teleologischen Endpunkt einer deutschen Kunstentwicklung zu präsentieren. Sein Nachfolger, Eberhard Hanfstaengl, bemühte sich darum, die nationalsozialistischen Kunstfunktionäre zu beruhigen, indem er Noldes kontroverse Figurenbilder ins Depot verbannte und gegen weniger umstrittene Landschaften und Stillleben austauschte. Diese Revision wird anhand zweier Hauptwerke veranschaulicht: Das erst 1932 erworbene Gemälde Familie (1931) wurde von Hanfstaengl 1935 gegen das Gemälde Reife Sonnenblumen (1932, jetzt in Detroit) und Junge Pferde (1916, Guggenheim) eingetauscht.
Auf Grundlage historischer Fotografien wird die Hängung der Gemälde Noldes rekonstruiert, so wie sie im Kronprinzenpalais bis zur Schließung zu sehen war. Gleichzeitig wird gezeigt, dass ikonische Werke im Depot landeten, so zum Beispiel Die Sünderin (1926), das dort 1937 beschlagnahmt und nach München zur Ausstellung Entartete Kunst gebracht wurde.
Hiermit wird zum nächsten Themenbereich übergeleitet: Musealisierung und Beschlagnahme. Eine Installation visualisiert die Ambivalenz der musealen Sammlungspolitik dieser Jahre: Der umfangreichste Ankauf von Werken Noldes durch ein deutsches Museum fand 1935 statt, als der Museumsverein des Museum Folkwang in Essen eine fast komplette Sammlung von Noldes Druckgrafik ankaufte, insgesamt ca. 455 Werke. Diese Blätter machten fast die Hälfte aller Werke Noldes aus, die zwei Jahre später aus deutschem Museumsbesitz konfisziert wurden: Dass Nolde zu dem „meist-beschlagnahmten” Künstler der „Entartete-Kunst”-Kampagne wurde, lag also an dem Ankauf von 1935. Ironischerweise tolerierte der damalige Direktor des Museum Folkwang, Klaus Graf von Baudissin, sowohl den Ankauf als auch die Beschlagnahmung zwei Jahre später. Als offiziell vom Erziehungsministerium beauftragter Beobachter der Beschlagnahme-Kommission war er indirekt an den Vorbereitungen und Nachwirkungen der Ausstellung Entartete Kunst beteiligt, welcher die letzte Unterabteilung der zweiten Sektion gewidmet ist.
Diese notorische Propaganda-Ausstellung war eine der wirkungsmächtigsten medialen Inszenierungen der nationalsozialistischen Diktatur. Eine große Foto-Installation macht die Präsentation von Noldes Leben Christi in der Feme-Ausstellung erfahrbar. Statt jedoch diese allein auf die Erzählung von Noldes Diffamierung zu reduzieren, wird auch darauf hingewiesen, dass Noldes Kunst durch die massenhaft besuchte Wanderausstellung in der deutschen Öffentlichkeit eine große Sichtbarkeit erfuhr und ihm einige neue Bewunderer und Sammler zuführte. Es wird anhand von ausgewählten Briefen erläutert, wie Nolde sich gegen die Aufnahme seiner Werke in die Propaganda-Schau wehrte und – durch insistierende Hinweise auf seine Parteimitgliedschaft und antisemitische Referenzen – schließlich erreichte, dass seine Gemälde ab Ende 1938 aus den letzten Stationen der Wanderausstellung entfernt wurden.
III. Von hier geht es weiter in den dritten Teil der Ausstellung, Verfemung und Reaktionen des verkannten Künstlers, 1937–1945. Das Herzstück dieser Sektion – und der gesamten Ausstellung – ist eine maßstabsgetreue Rekonstruktion von Noldes „Bilderraum“ in Seebüll, mit der von ihm selbst vorgenommenen Hängung seiner Werke im Februar 1942. Wie inszenierte der Künstler im Privaten seine Kunstwerke während der Zeit seines Berufsverbotes? Die Rekonstruktion beruht auf den Skizzen eines jungen Mannes, der ihn in diesen Monaten besuchte: einer der vielen Soldaten, mit denen das Ehepaar Nolde während der Kriegsjahre korrespondierte: der Maler Dieter Hohly.
Auf dem Weg zu der „Bilderraum”-Rekonstruktion werden den Besuchern einige der bisher unbekannten Aspekte von Noldes künstlerischer Arbeit vorgeführt, die das Narrativ des widerständigen Künstlers hinterfragen. Eine Unterabteilung widmet sich seiner künstlerischen Reaktion auf den Vorwurf der „Entartung”: der Hinwendung zu Themen aus der nordischen Sagenwelt. Anhand seiner Wikinger-Gemälde wird erstmals gezeigt, wie sich Noldes figürliche Malerei von religiösen und biblischen Themen (in denen er bewusst „Juden“ darstellte, wie er in seinen 1934 veröffentlichten Erinnerungen „Jahre der Kämpfe“ behauptete) abwandte und sich stärker „nordischen“ Motiven widmete, wie in den Werken Krieger (1938), Nordische Menschen (1938), Gaut der Rote (1938) und Veteranen (1940).
Damit korrespondieren viele seiner kleinen Aquarelle dieser Jahre – die sogenannten Ungemalten Bilder –, von denen einige in der Unterabteilung Berge, Burgen und Feuer präsentiert werden. Eine Auswahl dieser Blätter nahm Nolde 1942 auf seine Wien-Reise mit, um anhand der Werke den dortigen Reichsstatthalter Baldur von Schirach als Fürsprecher zu gewinnen und eventuell über ihn eine Aufhebung des Berufsverbotes zu erreichen.
Daran schließt sich die Unterabteilung Die Entstehung der „Ungemalten Bilder” an, in der wir uns explizit mit der Legende des Malverbots auseinandersetzen. Hier wird dargestellt, dass die „Ungemalten Bilder” nicht Werke sind, die Nolde ab 1938 heimlich malte; stattdessen sind diese kleinen Aquarelle innerhalb einer künstlerischen Praxis angesiedelt, die Nolde schon lange vor 1938 pflegte: der Ausarbeitung von ausgewählten Aquarellen zu Ölgemälden. Wir zeigen, wie der Künstler Ende der 1930er Jahre begann, einen Projektor zu nutzen, um seine kleinformatigen Aquarelle auf Leinwand-Format zu vergrößern; und wie er auch nach dem Berufsverbot von 1941 noch Blumengemälde malte.
Die letzte Unterabteilung dieser Sektion setzt Noldes schriftliche und künstlerische Erzeugnisse dieser Jahre in einen engen Bezug zum historischen Kontext des Zweiten Weltkriegs. Noldes Weltanschauung und Worte am Rande präsentiert seine tagebuchähnlichen Worte am Rande zusammen mit einigen antisemitischen Briefen aus der Privatkorrespondenz des Ehepaars Nolde aus dem Jahr 1943 und führt diese mit denjenigen Aquarellen zusammen, die in diesen Briefen erwähnt werden. Es wird dadurch klar, dass Nolde sich auch nach dem verhängten Berufsverbot weiterhin mit dem Regime identifizierte. Erst im Mai 1945 begann Nolde damit, sich von der nationalsozialistischen Diktatur zu distanzieren.
IV. Die letzte Sektion korrespondiert mit der ersten: Der Nolde-Kult nach 1945: Der alte Meister der verfolgten deutschen Kunst dekonstruiert die Nachkriegs-Legenden um Nolde als eine Heldenerzählung mit vielen Autoren. Diese Sektion präsentiert zum einen, wie Emil Nolde am eigenen Künstlermythos arbeitete, nicht zuletzt durch die Säuberung seiner Autobiografien von den auffälligsten antisemitischen Passagen; aber auch die Vielzahl von öffentlichen Würdigungen, die Nolde als zentrale Figur der „Entarteten Kunst”-Kampagne noch vor seinem Tode 1956 erfuhr. Im Fokus dieser Sektion steht die „Entdeckung“ und Popularisierung der (bzw. einiger) „Ungemalten Bilder” durch Werner Haftmann, was wiederum Siegfried Lenz zu seinem Bestseller „Deutschstunde“ (1968) inspirierte.[8]
Durch Haftmann und Lenz wurde Nolde endgültig zur deutschen Künstlerlegende: die Personifizierung eines verfolgten Künstlers der Moderne im Widerstand gegen die NS-Diktatur; und der Hauptvertreter einer „guten“ deutschen Kunst, dessen Kunstwerke sich für die Bespielung von Bundespräsidenten- und Bundeskanzler-Büros eigneten. Diese Sektion versucht zu visualisieren, wie der „entnazifizierte” Künstler zur Projektionsfläche wurde für eine Nachkriegsgesellschaft mit ihrem Bedarf nach Helden für den kulturellen Wiederaufbau nach 1945. Das Werk Brecher (1936) aus dem Bestand der Nationalgalerie, das seit 2006 bis zur Ausstellungseröffnung als Dauerleihgabe der Berliner Nationalgalerie im Büro von Bundeskanzlerin Angela Merkel hing, bildet den Abschluss dieser Sektion und der gesamten Ausstellung; es symbolisiert die Transformation Emil Noldes in einen repräsentativen „deutschen“ Künstler.
Bilder und Texte
I. Der Katalog
Anlässlich der Ausstellung erscheint im Prestel Verlag ein zweibändiger Katalog. Die beiden Katalogbände sind auf die Konzeption der Ausstellung Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus abgestimmt und erfüllen damit einerseits die Funktionen einer ausstellungsbegleitenden Publikation; gleichzeitig präsentieren sie aber auch in einer übersichtlichen und zugänglichen Form die Ergebnisse des Forschungsprojektes, das der Ausstellung zugrunde liegt, und machen eine Vielzahl von bisher nicht publizierten Analysen und Quellen zugänglich.
Band 1 „Essay- und Bildband“ präsentiert thematische Aufsätze, in denen sowohl Werke als auch Dokumente, denen die Ausstellungsbesucher in den unterschiedlichen Sektionen begegnen, in einen weiteren analytischen Kontext gestellt werden. Diesen Band gibt es auch in einer englischen Version mit einem auf den anglo-amerikanischen Markt angepassten Titel „Emil Nolde. The Artist During the Third Reich“.
Ziel des zweiten Bandes „Chronik und Dokumente“ ist, sowohl eine Überblicksdarstellung zu liefern als auch die Tiefenerschließung der Biografie Noldes in den Jahren des Nationalsozialismus zu ermöglichen. Während Band 1 durch thematische Beiträge Werk, Leben und Rezeption miteinander in Beziehung setzt, ermöglicht der zweite Band, über den nach Jahren strukturierten Aufbau in ausgewählte „Etappen“ einzutauchen und diese in den Zusammenhang mit der zeitlichen Entwicklung zu setzen. Der Band ermöglicht es auch, einzelne Dokumente, auf die in den Aufsätzen in Band 1 nur verwiesen werden kann, nachzulesen.
Die kurzen Kommentare zu den insgesamt 103 Dokumenten halten einführende Informationen über die wichtigsten in beiden Bänden erwähnten Personen aus dem Netzwerk Emil Noldes bereit. Leider wurde dieser Quellenband aus Kostengründen nicht übersetzt: Zwar ist er mit 304 Seiten (und rund 600.000 Zeichen) etwas weniger umfangreich als der Essayband (384 Seiten und knapp 715.000 Zeichen), aber die Produktionskosten der beiden Bände waren auch schon so nur durch zusätzliche Unterstützung der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius sowie der Ernst von Siemens Kunststiftung zu finanzieren. Dadurch konnte der Verkaufspreis der Museumsausgaben auf publikumsfreundlichem Niveau gehalten werden.
Tatsächlich stellte die Produktion der beiden Bände eine ganz erhebliche organisatorische, grafische und institutionelle Herausforderung dar. Für den ersten Band war es wichtig, die historische Analyse der Künstlerlegende zu visualisieren: Insgesamt 273 Abbildungen sind in den Text der acht thematischen Kapitel eingearbeitet. Für die Mehrheit dieser Abbildungen mussten Druckvorlagen erstmalig erstellt werden. Das Zusammenführen von Bildern mit dem dazugehörigen Text stellte die Grafiker (e o t Hinrichs + Sartorius) vor ganz erhebliche Herausforderungen, besonders, wenn nicht durch einzelne Bilder, sondern durch Bild-„Cluster” ein Argument sichtbar gemacht werden sollte, und diesen Abbildungen auch noch Bildunterschriften an die Seite gestellt werden mussten.
Dass dabei zuweilen historische Dokumente größer abgebildet wurden als die Kunstwerke Noldes, welche teilweise bis auf Briefmarken-Größe reduziert wurden, war unter anderem für die Verantwortlichen der Nolde Stiftung Seebüll eine ungewohnte Art der Gewichtung. Um die Funktion eines konventionellen Ausstellungskataloges zu erfüllen, sollten zumindest diejenigen Werke, die in der Ausstellung als Original zu sehen sind, dem Käufer des Kataloges in ausreichender Größe vor Augen geführt werden, um sie als Kunstwerke erfahrbar zu machen: Und so enthält der den Kapiteln angefügte Bildteil nochmal 98 Abbildungen von Gemälden, Aquarellen und Grafiken Noldes. Zusammen mit den Bildern für die grafische Gestaltung der Kapitelauftakt-Doppelseiten kommt der Band „Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus. Essay- und Bildband“ so auf 381 Abbildungen; der Quellenband auf immerhin 190. Für die Herausforderung, ungefähr 600 Abbildungen und insgesamt 1.300.000 Zeichen Text auf knapp 700 Katalogseiten unterzubringen und als Bücher zu produzieren, standen nur knapp acht Monate zur Verfügung.
II. Ausstellungstexte, Bildkonstellationen und -installationen
Eine weitere Herausforderung war es, auf einer Ausstellungsfläche von etwas über 600 Quadratmetern eine Künstlerlegende anhand von Originalwerken sowohl zu präsentieren als auch zu dekonstruieren – und dabei den Besuchern ausreichend Handreichungen zu dem sich stetig verändernden historischen Kontext anzubieten, innerhalb dessen Noldes Kunst inszeniert und interpretiert wurde, ohne dass diese Kontextinformationen die Besucher überfordern. Insgesamt kommen Wand- und Exponattexte auf etwas über 60.000 Zeichen; hinzukommen 17 Vitrinen mit über 90 Objekten und nochmal ca. 35.000 Zeichen Text. Diese für eine Kunstausstellung ungewöhnlich große Menge an sogenannter Flachware erlaubt es, die unterschiedlichen Medien zu präsentieren, die an der Konstruktion der Künstlerlegende beteiligt sind: Kunstbücher, Briefe-Editionen, Memoirenbände und -manuskripte, Ausstellungskataloge, Galerie-Verkaufsbücher, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, Briefe und andere Dokumente.
Dadurch soll den Besuchern vor Augen geführt werden, dass Kunstwerke immer von Texten und Erzählungen eingerahmt werden, die auf die Wahrnehmung der Bilder zurückwirken. Dieser „unsichtbare Text“ lässt sich auch als eine Art Assoziationsrahmen verstehen: eine nur im Kopf des Betrachters entstehende Erzählung, durch das Bild ausgelöst und gleichzeitig das Bild einrahmend.[9] Aber je nach Betrachter gibt es unterschiedliche solcher Erzählungen. Um diese Multiperspektivität und Vielstimmigkeit der Erzählungen in die Ausstellung zu integrieren, werden historische Zitate – sozusagen „O“-Töne von Emil Nolde und seinen Zeitgenossen – an bestimmten Punkten der Ausstellung in den Raum gestellt. So finden sich zum Beispiel auf einer Säule, die vor dem Großfoto von Noldes Altarwerk Das Leben Christi auf der Berliner Station der Entarteten Kunst 1938 steht, einige Zitate, die einer allzu simplifizierenden Wahrnehmung Noldes als passives Opfer nationalsozialistischer Kunstpolitik entgegenwirken sollen. Beispielsweise notierte Nolde im Dezember 1942 – also nach seinem Ausschluss aus der Reichskammer der bildenden Künste und dem somit verhängten Berufsverbot – über die Entartete Kunst-Ausstellung, diese hätte seiner Meinung nach „ein Drittel wirklich entartete Kunst[;] ein Drittel indifferente, nicht gute und nicht schlechte Kunst[;] ein Drittel gute und zum Teil besonders gute Kunst“ enthalten.[10]
Allerdings kann bei der Entartete Kunst-Ausstellungsansicht von 1938, die aufgrund ihrer häufigen Reproduktion schon zum festen Bestandteil unseres Bildgedächtnisses der NS-Kunstpolitik geworden ist, nicht einfach nur auf Texte gesetzt werden, um das Ziel der „Komplexitätssteigerung“ (Horst Bredekamp) zu erreichen. Deshalb ist das Großfoto in dieser Sektion Teil eines größeren Ensembles, welches sich dem Topos der Entarteten Kunst visuell ganz unterschiedlich annähert. Da ist einerseits der Silberleuchter, den Emil Nolde anlässlich seines 70. Geburtstages Anfang August 1937 von einigen seiner Sammler geschenkt bekommt, samt Grußkarte mit Dank dafür, dass er in ihren Herzen „tröstlich die heilige Flamme der Kunst entzündet hat“.[11]
Rechterhand des Großfotos befindet sich eine Installation, die den spektakulären Ankauf der ca. 455 Nolde-Grafiken durch den Museumsverein des Museum Folkwang im Jahr 1935 visualisiert: Erst durch diesen Ankauf konnte Nolde zwei Jahre später zum „meist-beschlagnahmten“ Künstler werden. Die Installation inszeniert diesen Zusammenhang durch das Zusammenführen derjenigen Nolde-Grafiken, die in der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt wurden, mit den im Rahmen der Konfiszierungsaktion vergebenen Inventarnummern der im Museum Folkwang beschlagnahmten Nolde-Grafiken (insgesamt 520, laut Datenbank der Forschungsstelle „Entartete Kunst”), die – in einer an Hanne Darboven erinnernden Rasterung – den Hintergrund für die gezeigten Originalwerke bilden.
An der gegenüberliegenden Wand – also links von dem Großfoto der Entarteten Kunst-Ausstellungsansicht – werden die drei einzigen Figurengemälde präsentiert, die Nolde im Sommer 1938 malte, also zur selben Zeit, in der er einen Protestbrief an Joseph Goebbels schrieb, mit einer Rückforderung seiner Werke aus der Ausstellung, und behauptete, seine Kunst sei „deutsch, stark, herb und innig“. Bei allen drei Bildern handelt es sich um Wikinger-Motive – aber nur eines davon ist im Original zu sehen. Die anderen beiden wurden 1945 an ihrem Auslagerungsort in Teupitz von der Roten Armee zerstört; dadurch rutschten diese Werke innerhalb der Nolde-Rezeption in eine Art „toten Winkel“. Auf Grundlage von kleinformatigen Aquarellen, die Nolde zu diesem Zeitpunkt als Vorlage für seine Figurengemälde anfing zu nutzen, präsentiert die Ausstellung hier zwei Gemälde-Rekonstruktionen, um so mit Noldes farbkräftigem Wikinger-Ensemble von 1938 einen Kontrapunkt zu dem Schwarz-Weiß-Foto der Entarteten Kunst-Ausstellung zu setzen.
Farbige Reproduktionen, ob als Wanddruck, auf Bildschirmen oder in Projektionen, sind zwar in Ausstellungen von Gegenwartskunst gang und gäbe – bei Präsentationen der Klassischen Moderne aber immer noch eher unüblich. In dieser Ausstellung werden sie bewusst eingesetzt, um die Besucher zum Überdenken von Sehgewohnheiten anzuregen. So wird zum Beispiel die Bandbreite von Ölgemälden und Aquarellen Emil Noldes, die in der deutschen Kunstöffentlichkeit bis 1937 zu sehen waren, auf zwei Screens in der Kunsthandels-Sektion sichtbar gemacht. Diese Werke lassen sich durch historische Ausstellungsfotos aus dem Nachlass der Galerie Ferdinand Möller, Berlin, genau identifizieren. Das Nebeneinanderstellen von Schwarz-Weiß-Fotografie und farbiger Reproduktion auf einem LED-Display soll die temporale Distanz aufbrechen, die historische Fotos bei den Betrachtern unweigerlich aufbauen.
In der Sektion „Die Entstehung der ‚Ungemalten Bilder’” werden Projektionen ganz gezielt eingesetzt, um die wirkungsmächtige Entstehungsgeschichte der angeblich „heimlich” geschaffenen kleinen Werke zu konterkarieren, frei nach Marshall McLuhan: „the medium is the message”. Nolde nutzte ab 1937/38 einen Projektionsapparat – wahrscheinlich ein Epidiaskop der Firma Leitz –, um einige seiner kleinformatigen Aquarelle auf die Leinwand zu projizieren und zu Ölgemälden auszuarbeiten. Sowohl der fast schon serielle Prozesscharakter dieser malerischen Praxis als auch die sich dadurch ergebende, verblüffende Übereinstimmung von Aquarell und Gemälde lassen sich durch eine Projektion, mit Überblendung und Zoom-Effekt, eindrücklich visualisieren. Die erste Projektionsstation zeigt jeweils Aquarellvorlagen und die daraus resultierenden Ölgemälde aus dem Jahr 1940; die zweite – gegenüberliegende – denselben Schaffensprozess für Gemälde, die 1945/46 entstanden. Das Berufsverbot von 1941, das chronologisch dazwischen liegt, erweist sich für diese malerische Praxis als weitgehend irrelevant.
Auch das Herzstück der Ausstellung, die Rekonstruktion des Bilderraumes in Seebüll, mit der von Nolde vorgenommenen Hängung des Winters 1941/42, enthält einige Ausstellungskopien von Werken, die aus konservatorischen Gründen nicht als Original nach Berlin reisen oder – wie im Falle von vier großformatigen Aquarellen – nicht mehr dauerhaft der Helligkeit des erleuchteten Saals ausgesetzt werden konnten. Hier geht es tatsächlich nicht in erster Linie um die künstlerische Qualität einzelner Originale, sondern um die Sichtbarmachung des Bilderensembles, durch das Nolde zu diesem Zeitpunkt seine künstlerische Identität inszenierte.
Vor dem Eingang zum Bilderraum treffen Besucher auf Notizen des Künstlers, in denen er sich 1943 über den angeblich „jüdischen Krieg” auslässt und sich selbst in einen großen welt- und religionshistorischen Prozess einschreibt; sie stellen den Höhepunkt von Noldes langjähriger Selbststilisierung als verkannter Vorkämpfer gegen das Judentum dar. Unabhängig davon, ob die Besucher diesen Geltungsanspruch des Künstlers in der Bildkonstellation des Bilderraumes wiedererkennen: Ihr Bild vom Kunstschaffen im Nationalsozialismus, das sie von hier mittnehmen werden, wird ein deutlich komplexeres als zuvor sein.
In der letzten Sektion, Der Nolde-Kult nach 1945, wird weitgehend auf Originalwerke verzichtet und stattdessen die Medialisierung der Heldenerzählung Noldes – und damit die Medien der Kunstvermittlung – in den Blick genommen. Das geschieht einerseits im Medium Film: Die Vorführung einer dreiminütigen „Wochenschau“-Reportage über die Eröffnung der Nolde-Stiftung 1958, die alle Bestandteile der Nolde-Erzählung – die bäuerliche Herkunft, die norddeutsche Identität, das sogenannte Malverbot und die angeblich heimlich entstandenen „Ungemalten Bilder“ – enthält, wird kommentiert durch eine etwa zehnminütige Episode einer Videodokumentation des oben erwähnten Forschungsprojektes des Verfassers, in der zu dem Thema „Künstler und Nachwelt” u.a. auch diese „Wochenschau“ analysiert wird.
Aber auch wer den Filmvorführungsraum nicht aufsucht, bekommt einen visuellen Eindruck der Intertextualität der Legende des angeblich widerständigen Künstlers, nicht nur durch die in den Vitrinen präsentierten Neuauflagen bzw. Erstpublikationen von Noldes (gesäuberten) Memoiren: Ein Großfoto der ersten posthumen Nolde-Retrospektive 1958 auf ihrer Münchner Station im (mittlerweile umbenannten) Haus der Kunst mit Ausstellungsbesuchern vor Noldes Polyptychon Das Leben Christi weckt Assoziationen an das 1938er-Foto desselben Werkes auf der Propagandaschau Entartete Kunst. Schräg gegenüber befindet sich eine Installation, bei der Werner Haftmanns Publikation der „Ungemalten Bilder“ im wahrsten Sinne des Wortes auseinandergenommen und an die Wand gebracht wird – und die Besucher können diese Bilder nicht betrachten, ohne die prominenteste „abwesende Erzählung” im Hintergrund, im Fluchtpunkt dieses Ganges, aus den Augenwinkeln wahrzunehmen: Siegfried Lenz’ „Deutschstunde“.
Diese literarische Überformung der Verfolgungsgeschichte wird durch über 40 Exemplare unterschiedlicher Editionen und Übersetzungen präsentiert, inklusive didaktischem Schulmaterial und Schallplattenaufnahmen von Autorenlesungen, in einer Installation, die das Ordnungsprinzip der Haftmann-Wand aufgreift. In der dazugehörigen Vitrine findet sich dann ein Brief, den der begeisterte Helmut Schmidt Lenz im Dezember 1968 nach seiner Lektüre der „Deutschstunde“ zuschickte: Seit seinem sechzehnten Lebensjahr sei Emil Nolde für ihn – gemeinsam mit Ernst Barlach – „der größte deutsche Künstler dieses Jahrhunderts”; seine Einreihung in die NS-Ausstellung habe bei dem damals Siebzehnjährigen „den Bruch mit dem Nationalsozialismus“ ausgelöst.[12] Über der Vitrine befindet sich ein schwarz-weißes Großfoto einer Rückenansicht von Helmut Schmidt vor einem Meeresgemälde von Nolde in seinem Bonner Kanzleramtsbüro aus der Publikation „Kunst im Kanzleramt. Helmut Schmidt und die Künste von 1982“ (München 1982), die sich wiederum in der Vitrine befindet. Hier wird, wie in früheren Sektionen, das Gestaltungsmerkmal der Kopplung von schwarz-weißen und farbigen Bildern (bzw. Objekten) noch einmal praktiziert.
Für die letzte Wand der Ausstellung wurden verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten in Erwägung gezogen, auch deshalb, weil bis relativ kurz vor Ausstellungseröffnung nicht feststand, ob das Gemälde Brecher, das als Leihgabe der Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin seit 2006 im Büro der Bundeskanzlerin hing, für die Ausstellung zur Verfügung stehen würde. Zur Diskussion stand hierfür unter anderem eine Installation, die die Beziehung zwischen Kunstwerk und politischer Inszenierung durch Zusammenführung mit einem Pressefoto der Bundesbildstelle visualisiert hätte.
Letztlich fiel die Entscheidung dann aber doch für die klassische White-Cube-Ästhetik: Ein einzelnes Gemälde, Noldes Brecher, auf weißer Wand. Bevor die Besucher diesem Bild gegenüberstehen, sind sie deutlich über 200 anderen Bildern begegnet, Originalen und Reproduktionen, sowie einer Vielzahl von Texten, die ihnen die unterschiedlichsten Perspektiven auf Emil Nolde, sein künstlerisches Werk und dessen unterschiedliche Rahmenerzählungen in diversen historischen Kontexten eröffnet haben. Mit Noldes Brecher, dieser (mittlerweile ehemaligen) Leihgabe an das Kanzleramt endet die Ausstellung in der Gegenwart der Besucher, wobei nur das Bildlabel auf die repräsentative Funktion hinweist, welche das Gemälde bis vor kurzem innehatte. Der kommunikative Rahmen dazu – die zeitgenössischen Debatten über die Rolle von Kunst in der gesellschaftlichen Konstruktion einer „deutschen” Identität – findet sich außerhalb des Ausstellungsraumes.[13]
Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus.
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart – Berlin, 12. April bis 15. September 2019
[1] Vgl. auch Peter-Klaus Schuster, Die doppelte „Rettung“ der modernen Kunst durch die Nationalsozialisten, in: Eugen Blume/Dieter Scholz (Hg.), Überbrückt. Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunsthistoriker und Künstler 1925-1937, Köln 1999, S. 40-47, hier S. 45.
[2] Vgl. Kapitel 8 in: Bernhard Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus. Essay- und Bildband, hg. von Bernhard Fulda/Christian Ring/Aya Soika, München 2019, S. 221-244.
[3] Udo Kittelmann, Zum Geleit, in: Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende, S. S. 6-7.
[4] Vgl. Markus Lörz, Neuere deutsche Kunst. Oslo, Kopenhagen, Köln 1932. Rekonstruktion und Dokumentation, Stuttgart 2008.
[5] Zu Schardt und Hanfstaengl vgl. Aya Soika, Der lange Expressionismusstreit um Nolde, in: Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende, S. 46-55.
[6] Paul Ortwin Rave, Kunstdiktatur im Dritten Reich, hg. von Uwe M. Schneede, Berlin 1987 (Erstausgabe: Hamburg 1949).
[7] Vgl. Werner Haftmann, Emil Nolde, Köln 1958; Werner Haftmann, Emil Nolde. Ungemalte Bilder. Aquarelle und „Worte am Rande“, hg. von der Stiftung Ada und Emil Nolde, Köln 1963.
[8] Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende, S. 237-238. Vgl. auch Swantje Petersen, Korrespondenzen zwischen Literatur und bildender Kunst im 20. Jahrhundert. Studien am Beispiel von S. Lenz – E. Nolde, A. Andersch – E. Barlach – P. Klee, H. Janssen – E. Jünger und G. Bekker, Frankfurt a. M. 1995, S. 19-77; Günter Berg, Der Nolde-Komplex, in: Siegfried Lenz, Deutschstunde, hg. von Günter Berg, Hamburg 2017, S. 615-624, hier S. 623.
[9] Monika Flacke bezeichnet dies als eine im Bild enthaltene, aber „abwesende Erzählung“: vgl. Monika Flacke, Ausstellen als Narration, in: Markus Walz (Hg.), Handbuch Museum. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 253-56, hier S. 254, mit Verweis auf Horst Bredekamps Analyse des Fotos vom Lagertor von Auschwitz-Birkenau; vgl. Horst Bredekamp, Bildakte als Zeugnis und Urteil, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1949 – Arena der Erinnerungen, Mainz 2004, Bd. 1, S. 29-66, hier S. 58-62.
[10] Emil Nolde, Worte am Rande, 9.12.[19]42, zit. n. Soika, Der lange Expressionismusstreit um Nolde, in: Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende, S. 62.
[11] Zit. n. Bernhard Fulda/Aya Soika, Einleitung, in: Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende, S. 17-34, hier S. 25.
[12] Helmut Schmidt an Siegfried Lenz, 12.12.1968, zit. n. Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende, S. 238.
[13] Exemplarisch für die mediale Dynamik, die durch diese Ausstellungs-Bildanfrage an das Kanzleramt noch vor Ausstellungseröffnung ausgelöst wurde: Tobias Timm, Dunkelbraune Idyllen, in: Die Zeit, 3.4.2019; Das Nazi-Geheimnis des Malers in Merkels Büro, in: Die Welt, 4.4.2019; Jürgen Kaube, Nachgeholte Deutschstunden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.4.2019; Merkel entfernt umstrittene Nolde-Bilder, in: Deutsche Welle, 5.4.2019; Renate Meinhof, Anstößiges überm Kanzler-Sofa, in: Süddeutsche Zeitung, 5.4.2019; Johannes Schneider, Mal doch selber, Merkel! in: Zeit Online, 5.4.2019; Pascale Hugues, Merkel: des tableaux qui font tache, in: Le Point, 6.4.2019; Kanzleramt: Nolde muss raus – darf Schmidt-Rottluff rein? in: Berliner Morgenpost, 6.4.2019.
Zitation
Bernhard Fulda, Emil Nolde – eine deutsche Legende. Der Künstler im Nationalsozialismus, in: Visual History, 09.04.2019, https://www.visual-history.de/2019/04/09/emil-nolde-deutsche-legende/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1332
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