Künstlerische Strategien bei der Aneignung von fotografischen Bildern im Kontext der Digitalisierung
„Die im Apparatprogramm enthaltenen Möglichkeiten sind praktisch unerschöpflich. Man kann nicht alles Fotografierbare tatsächlich fotografieren. Die Imagination des Apparates ist größer als die jedes einzelnen Fotografen und die aller Fotografen zusammen: Gerade darin liegt die Herausforderung an den Fotografen. […] Im Grunde will also jeder Fotograf noch nie vorher dagewesene Sachverhalte herstellen, und er sucht nach ihnen nicht dort draußen in der Welt, da ihm die Welt nur ein Vorwand für die herzustellenden Sachverhalte ist, er sucht nach ihnen unter den im Apparatprogramm enthaltenen Möglichkeiten. Insofern ist die traditionelle Unterscheidung zwischen Realismus und Idealismus mit der Fotografie überwunden: Nicht die Welt dort draußen ist wirklich und nicht der Begriff hier drinnen im Apparatprogramm, sondern wirklich ist erst die Fotografie.“ (Vilém Flusser)[1]
Es erscheint zunächst nur konsequent, wenn einige Künstler*innen sich heute entschließen, auf die Herstellung eigener Fotografien gänzlich zu verzichten, und sich gleich aus dem globalen Pool von Bildern bedienen, um diese dann zu verfremden, zu collagieren und neu zu kontextualisieren.[2] Sie überspringen den Schritt der Bilderstellung und gehen gleich zur Realisation (und Vermarktung) szenischer oder ornamentaler Ideen über.
Jeder Fotograf – Laie wie Profi – wird unter diesen Bedingungen mit seinen Bildern im Netz zum Materiallieferanten, der zuweilen auch den Künstlern im Atelier zuarbeitet, wenn diese die Bildrechte im Sinne der Kunstfreiheit außer Kraft zu setzen wissen. Die Praktiken der originalen Bildherstellung entfallen so zugunsten der Operationen an vorhandenen Bildern. Das Studio wird zum Post-Studio. Diesen Arbeitsraum gilt es, im Folgenden genauer zu untersuchen. Es handelt sich im Gegensatz zum konkreten, stillen Raum um eine Virtual Reality, die ihrerseits von immateriellen, selbstaktiven Prozeduren bestimmt wird.
Was widerfährt den Bildern, digitalen Fotografiken und digitalisierten Fotografien im Netz? Alle Werkseinstellungen von Kameras und die dazugehörigen Entwicklungs- und Bildbearbeitungsprogramme schreiben Metadaten in die Bilder ein, sodass die Künstler*innen nur noch eine eingeschränkte Kontrolle bei der Produktion und Präsentation ausüben können. Jeder Programmierer kann mit einem entsprechenden Programm an einem digitalen Bild die damit verbundenen Software-Nutzungen und Nutzungsrechte ablesen. Die massenhafte Verbreitung von Bildern im Netz und die Negierung des Urheberrechts bei der digitalen Wiedergabe sind seit langem bekannt.
2006 fotografierte ich mit meiner Hasselblad eine Hamburger Sprüherin vor einem ihrer Wandbilder. Das Bild wurde 2008 innerhalb einer Serie von weiblichen Künstlerportraits im ersten „Missy Magazine“[3] veröffentlicht. Über die Jahre tauchte es auf den verschiedensten Portalen im Netz wieder auf: innerhalb von Reviews zur „Missy“–Werkschau, auf Facebook-Seiten (mit gleichzeitiger Übertragung von Nutzungsrechten), als Cover eines Online-Graffiti- Magazins (ohne Nutzungsrechte abgedruckt) sowie in der „Seattle Weekly Online“ als Bild in einem Text gegen das illegale Sprühen (ebenfalls ohne Nutzungsrecht veröffentlicht).
2007 konnte ich in einem gedruckten Graffiti-Magazin (bebildert) nachlesen, dass das Motiv umgewandelt als Stencil (Sprühschablone) einer niederländischen Girls-Writer-Crew in den Straßen von Amsterdam zu sehen sei. Bei meiner Netzrecherche stieß ich wieder auf den Stencil des Motivs, der nun – auf Leinwand gebracht – in einer Galerie zum Kauf angeboten wurde. Diese Art der Verbreitung inspirierte mich weitaus weniger als die Vorstellung, das Bild auf Häuserwänden entdecken zu können. Man möchte zur Ausstellungseröffnung doch wenigstens eingeladen werden. Jegliche Partizipation ist aber innerhalb dieser Strategie der einseitigen Bereicherung im Galeriekontext ausgeschlossen. Zuletzt meldete sich über meine Webseite ein privater Sammler, um eine Edition der Photographie käuflich zu erwerben: ein Happy End?
Dieses Beispiel einer chaotischen und überregionalen Verbreitung zeigt neue Wege und Netze der Publikation, die sich das Bild beinahe selbst zu suchen scheint. Ob mit oder ohne Zustimmung – die digitalisierte Fotografie erregte immerhin Interesse. Und wahrscheinlich hätte ich allein kaum eine derartig wirksame Verbreitung geschafft. Euphorisch stimmte mich dabei die kreative Kopierarbeit der niederländischen Girls-Writer-Crew. Es schien beinahe so, als hätten sich heimliche Unterstützerinnen angeschlossen, die sich dem Bild gemäß seiner Botschaft und Intention verpflichtet fühlten. Es handelt sich schließlich um das Portrait einer Künstlerin, die in der Nacht illegal malt, und in diesem Sinne sollte das Bild seine Verbreitung finden: frei zugänglich zur Partizipation am kreativen Prozess.
Da ich selbst ein internationales Künstlernetzwerk mit gegründet hatte, waren mir diese Formen der Interaktion willkommen, denn vielerorts hatten sich Gruppen und Netzwerke zusammengetan, um die Autorenschaft zugunsten einer Kunstproduktion im Kollektiv aufzugeben und diese zu erproben. Tatsächlich waren Künstlerkolleg*innen zu Beginn des WorldWideWeb von dem Gedanken inspiriert, sich freundschaftlich mit Künstler*innen aus der ganzen Welt austauschen zu können und von Fall zu Fall auf Augenhöhe und ohne verdeckte strategische Absichten zusammenzuarbeiten. So entstand ein Kollektiv mit wechselnden internationalen Gastkünstler*innen, ein Netzwerk mit gleichnamiger virtueller Plattform: The BeetoBee.Net.[4] Auf regelmäßigen Zusammenkünften konnten innerhalb von sieben Jahren verschiedene Wanderausstellungen, Publikationen und Shows geplant, organisiert und realisiert werden.
Heute leben alle Künstler*innen der Gruppe derart weit voneinander entfernt, dass ein gemeinsames Treffen an einem realen Ort schon aus Kostengründen nicht mehr zu organisieren ist. Diese realen Treffen zum künstlerischen Austausch und zu produktiver Ausstellungsplanung lassen sich jedoch nicht vollständig durch virtuelle ersetzen. Zumindest nicht bei einer Formation, die sich „Künstlergruppe“ nennt. Als reine Künstlervernetzung, als besonderer Künstlerpool, ließe sich die virtuelle Planungskultur noch weiter betreiben, sollte ein zweiter Veranstalter alle situationsbedingten Probleme vor Ort lösen wollen und die Kosten der Zusammenkunft zum Aufbau übernehmen.
Lässt sich nun die unkontrollierte Verbreitung von Bildinhalten zur eigenen künstlerischen Methodik erklären? Lassen sich die Oberflächen und Strukturen vollkommen generieren, ohne die Netze der Märkte zu kreuzen? Am Ende geht es um Existenz- und Urheberfragen, daher kann es nicht überraschen, dass sich der Netzraum rechtlich justiert hat. In dieser Phase der globalen Digitalisierung wird beim Streit um Bilder immer deutlicher, dass Machtkämpfe zwischen den Disziplinen (Gebrauchsfotografie und künstlerische Fotografie) und Gesetzes-Territorien stattfinden im Blick auf Urheberrechte und sich stetig aktualisierende Metadaten.
Auch wenn ein Gebrauchsfotograf seine Feldforschung im Auftrag betreibt, bedeutet das nicht, dass er seine Fotografien nicht auch selbst kommentieren kann oder in der Lage ist, eine Kontextualisierung und Rahmung zu produzieren. Viele ausgebildete Fotograf*innen gestalten ihre Serien und Ausstellungswände in Eigenregie. Der Umgang mit geistigem Eigentum ist kulturell, öffentlich und privat neu zu verhandeln.
In der bildenden Kunst werden aktuell die Strategien der Bildkontextualisierung in Anknüpfung an historische Verfahrensweisen diskutiert, die in Verbindung mit künstlerischer Bild-Forschung[5] und den philosophischen Diskursen um hypertextuelle, mediale Kommunikationsweisen (Rhizomatik/Kommunikologie) formuliert worden sind. Allerdings passt das (deutsche) Urheberrecht dazu nur in Ausnahmefällen; die Strategien des Found Footage (Appropriation Art) vereinen zuweilen ähnliche Verhaltensweisen des amerikanischen Wirkungsraumes: anything goes, fair use, try and error. Wozu werden Besitzansprüche an Bildern geltend gemacht, die im Austausch kreativer Kooperation und Partizipation erfolgen? Hierbei geht es sicherlich weniger um eine philosophische Debatte als um die Frage: Was bedeutet Arbeit (im gleichberechtigten Austausch), was bedeutet Existenz (und Macht über Existenz) – zeitspezifisch und lokal betrachtet? Wie sich darüber global einigen?
Arthur Engelberts Studie zu Global Images führt an, welche Künstler*innen sich zeitspezifisch mit den neuen Formen der Bildkontextualisierung und den synthetischen Medienbildern beschäftigt haben.[6] Seine Beispiele deuten darauf hin, dass insbesondere die Künstler*innen der Übergangsgeneration vor der Digitalisierung weitaus individuellere Perspektiven und weniger trendbezogene Strategien verfolgt haben. In seiner Analyse verfolgt er übergeordnete Fragestellungen, um die Strategien der Aneignung von Bildern zu hinterfragen. Der „kollektive Körper“ der gesammelten Global Images wirkt ortlos und weltlos, fragmentarisiert, zerstückelt und isoliert von seinen Autor*innen. In Sammelprozessen und Kontextsimulationen werden Betrachtungsweisen generiert, die auf eine Präformierung von Grundmustern zielen, welche sich an technologischen Schemabildungen und Erweiterungen orientieren. Letztendlich werden dabei visuelle Bezüge und Prozesse produziert, die nach seiner Deutung selbst als bildlos zu verstehen sind.
Die Maschinen unserer Zeit generieren Bilder wie Texte auf Befehl und nach algorithmischer Programmierung. Dabei entstehen kalkulierte Verlinkungen, personenferne und ortlose Wahrnehmungszustände. Bilder und Fotografien werden austauschbar, sie erfüllen reine Profilfunktionen. Die fotografische Feldforschung wirkt gegen das Sammeln am Monitor wie ein offenes, physisches Wagnis mit dem Zufall als Begleiter. Sie ist ein Heraustreten ins körperlich zugängliche Milieu und eine neugierige Kontaktaufnahme mit einer besonderen Sensibilität für Licht, Material und Raumtiefe. Das Selbst am Monitor verliert dagegen seine Fähigkeiten zur Fokussierung. Die Augen beginnen zu starren bei immer gleicher Distanz. Der umgebende Raum wirkt zunehmend flach und verliert seine Tiefe. Selbst Hand anlegen an Objektiv, Blende, Zeiteinstellung, sich selbst positionieren und Ausschnitte setzen, sind aktive Handlungen in physischer Umgebung. Die Arbeit in der Dunkelkammer scheint ökonomisch nicht mehr effizient. Sie bleibt jedoch Teil eines intimen Umgangs mit der Fotografie, der erst mal ohne Clicks und Likes einige Selbstzweifel zu überwinden hat – auch weil die Vorbilder aus der fotochemischen Epoche sich viel Zeit für diesen Prozess genommen und eine hohe Qualität angestrebt haben. Es mag ein Vorteil sein, dass der gesamte Papierprozess unbeobachtet passiert und (Buchveröffentlichungen eingeschlossen) mehr Autonomie gegenüber allen virtuellen Verbreitungsmaschinen verspricht als ein digitaler Prozess.
Heute wirken die schwarz-weißen Handabzüge der Fotografien von Bernd und Hilla Becher wenig distanziert, obgleich sie der „Neuen Sachlichkeit“ und Konzeptkunst zugerechnet werden. Es muss doch einem sehr subtilen Bedürfnis und sehr spezifischen Weltverhältnis entsprechen, diese wohl komponierten Aufnahmen von Industrieanlagen über Jahre hinweg anzufertigen.
Würden die beiden Künstler heute eine Webcam aufstellen, um alle digital erreichbaren Betrachter am Sterben der großen Industrie und an der Demontage und dem Zerfall der großen Maschinen und Fabriken teilnehmen zu lassen? Oder ging es schon bei ihrer Strategie darum, eine möglichst privilegierte Form der Fotografie vorzuführen? Schließlich stellte ein schwarz-weißer Handabzug in der fotochemischen Epoche einen besonderen Wert dar und wurde im Rahmen der Langzeitstudie zur kulturellen Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen mit Interesse und Respekt behandelt. Das heutige kreative Schaffen im Selbstunternehmertum gehört keiner Institution mehr an und versucht sich allein im Abhängigkeitsverhältnis zu sich selbst.
Welche neuen Strategien und Projekte in der Fotografie werden in der Zukunft relevant sein und können im Rahmen intensiver Forschungen und Recherchen noch durchgeführt werden? Das Fotografieren ist nur eine Möglichkeit des Bildermachens, realisiert von Individuen, die im Bild regelhaft abwesend sind. Aber keine Fotografie entsteht ohne eine Autorenperspektive; es ist der Autor, die Autorin, die die Methode gestaltet und entwickelt. Kein Apparat stellt sich von selbst auf.
[1] Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, in: Andreas Müller- Pohle (Hg.), European Photography (Edition Flusser; Bd. 3), Göttingen 1983, S. 34.
[2] Dieser Beitrag ist im Kontext meiner Dissertation entstanden: Birgit Wudtke, Fotokunst in Zeiten der Digitalisierung. Künstlerische Strategien in der digitalen und postdigitalen Phase, transcript Verlag Bielefeld 2016, http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-3280-4/fotokunst-in-zeiten-der-digitalisierung/.
[3] Missy Magazine, October 2008, Nr. 1, „Im Auge der Betrachterin“, Fotografien: Birgit Wudtke, Interview: Malin Schulz, https://missy-magazine.de/.
[4] http://www.thebeetobee.net
[5] Siehe zum Beispiel den Begleitband zur Gruppenausstellung: Lieber Aby Warburg, was tun mit Bildern? Vom Umgang mit fotografischem Material, Museum für Gegenwartskunst, hg. von Eva Schmidt und Ines Rüttinger, Heidelberg 2012, https://www.visual-history.de/en/2014/04/07/aby-warburg-und-die-bilder/.
[6] Arthur Engelbert, Global Images. Eine Studie zur Praxis der Bilder, Bielefeld 2011, S. 93.
Zitation
Birgit Wudtke, Künstlerische Strategien bei der Aneignung von fotografischen Bildern im Kontext der Digitalisierung, in: Visual History, 02.07.2019, https://www.visual-history.de/2019/07/02/kuenstlerische-strategien-digitalisierung/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1387
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