„Gelernt habe ich im Laufe der Zeit, viel mehr auf das Bild selbst zu achten“

Ein Interview mit Gerhard Paul

„Als Historiker*innen können wir die Kontexte sehr genau analysieren, übersehen aber oft, was sich im Bild selbst tut.“
Gerhard Paul in seinem Arbeitszimmer, Flensburg, 29. September 2020. Foto: Christine Bartlitz ©

 

I Interview | II Bilder | III Methodenmix | IV Visual History | V Rechte | VI Bücher

 

I Interview

Der Historiker Gerhard Paul gehört zu den wichtigsten Vertreter*innen der deutschsprachigen Visual History. Er war bis 2016 Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Europa-Universität Flensburg, wo er seit seiner Pensionierung als Seniorprofessor weiterforscht. Das von Christine Bartlitz und Josephine Kuban für das Online-Portal „Visual History“ (www.visual-history.de) geführte multimediale[1] Interview stellt die Privatperson ebenso wie den renommierten Wissenschaftler vor, der 1951 in Hessen geboren wurde, und verschränkt dies mit aktuellen Fragen zum Forschungsfeld der Visual History rund um die Methoden, den Stellenwert in den Geschichtswissenschaften und Debatten zu Bild- und Urheberrechten.

Im Zug nach Flensburg: Letzte Tests des technischen Equipments. Flensburg, 29. September 2020, Foto: Christine Bartlitz ©

Im September war es endlich soweit: Eine Zugfahrt von Berlin nach Flensburg wäre unter Normalbedingungen nicht ungewöhnlich gewesen. Doch wie so vieles im Jahr 2020 wurde auch dieses Interview von der Covid-19-Pandemie und damit von Terminverschiebungen, Abwägungen und regelkonformen Rahmenbedingungen begleitet – und damit zu einem kleinen Abenteuer. Während sich der Regionalzug allmählich in Richtung dänische Grenze zum Ziel schlängelte, wurde das technische Equipment den letzten Tests unterzogen. Vor Ort empfing uns Gerhard Paul mit selbstgebackenem Pflaumenkuchen. Was sonst noch an diesem Interviewtag geschah, lässt sich im Folgenden lesen, hören und sehen.

 

 

 

I Interview | II Bilder | III Methodenmix | IV Visual History | V Rechte | VI Bücher

 

II Bilder

Gefragt nach drei Bildern, die ihn in seiner Laufbahn besonders beeinflusst und beeindruckt haben, gibt Gerhard Paul drei punktuelle Einblicke in das visuelle 20. Jahrhundert: mit einem Plakat aus den 1930er Jahren, einer Fotografie aus den 1970er Jahren und einer Zeitungsseite aus den 1990er Jahren. Dabei spricht er von Irritation, Provokation und von starken Gefühlen. Es wird schon zu Beginn des Interviews deutlich, dass hier ein Wissenschaftler erzählt, der sich vertrauensvoll von seinen Interessen und Leidenschaften leiten lässt. So zieht er eine alte, mehrfach überspielte VHS-Kassette aus dem Jahr 1985, seine verfilmte Doktorarbeit „Deutsche Mutter, heim zu Dir!“ zur Saarabstimmung 1935, mit einem Lachen aus dem Regal und gibt uns das einzige Exemplar unbekümmert zur Sichtung mit.

Gerhard Paul in seinem Wohnzimmer, Flensburg, 29. September 2020. Foto: Josephine Kuban ©

Eine Karriere in Bild und Wort

Herr Paul, wenn Sie einige Bilder auswählen müssten, die für Sie eine starke Bedeutung haben, welche wären das?

Gerhard Paul: Es gibt drei Bilder, mit denen ich mich in den vergangenen Jahrzehnten sehr intensiv beschäftigt habe und die letztlich auch für drei Schwerpunkte meiner Arbeit stehen. Das erste ist ein Plakat von 1934: „Deutsche Mutter, heim zu Dir!“ Es stammt aus dem Saar-„Abstimmungskampf“ und zeigt eine ältere Frau, die ihren verloren gegangenen Sohn in die Arme nimmt – ein Nazi-Plakat, aber es sieht überhaupt nicht so aus. Das zweite Bild ist das berühmte Foto des Vietnam-Fotografen Nick Ùt von dem Mädchen Kim Phúc, die auf den Fotografen zuläuft und von Napalm verbrannt ist. Und das dritte Bild stammt aus dem Kosovo-Krieg 1999. Es zeigt auf einer Zeitungsseite den damaligen Verteidigungsminister Rudolf Scharping, der Pressebilder in die Kamera hält und damit den Einstieg der Bundesrepublik, der rot-grünen Regierung, in den Kosovo-Krieg begründet.

Plakat „Deutsche Mutter, heim zu Dir!“, Deutsche Front zur Volksabstimmung des Völkerbunds im Saargebiet 1934. Entwurf: Hans Schweitzer (Mjölnir), Quelle: Heimatmuseum Querschied, Lizenz: CC BY-SA 4.0

Eine fotografische Ikone des 20. Jahrhunderts – das Foto aus dem Vietnamkrieg erschien bereits am folgenden Tag auf der Titelseite der „New York Times“ und wurde 1973 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, 8. Juni 1972, Foto: Nick Ùt. Quelle: Ausschnitt aus Gerhard Pauls Artikel „Die Geschichte hinter dem Foto. Authentizität, Ikonisierung und Überschreibung eines Bildes aus dem Vietnamkrieg“, erschienen: in Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 2 (2005), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2005/4632 Foto: Christine Bartlitz © 29. September 2020

Ausschnitt der Titelseite des „Kölner Express“ vom 28. April 1999 zur Pressekonferenz von Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping zur Intervention der Bundeswehr im Rahmen des NATO-Einsatzes im Kosovo-Krieg, siehe im Bild unten, Foto: Christine Bartlitz © 29. September 2020

Diese Auswahl ist fast ein Querschnitt durch das 20. Jahrhundert. Warum waren und sind es diese Fotografien, die Sie besonders bewegt haben und noch heute bewegen?

 

 

 

Eine Doktorarbeit in laufenden Bildern

Sie gehören zu den wichtigsten Vertreter*innen der deutschsprachigen Visual History. Wie und wann hat das eigentlich begonnen?

Gerhard Paul: Das ist natürlich ein langer Prozess. Bevor ich an die Uni gegangen bin, habe ich fünf, sechs Jahre lang Fernsehen gemacht. Ich hatte das enorme Glück, dass ich meine Doktorarbeit verfilmen durfte.

 

 

Ich habe über den 13. Januar 1935, den Tag der Saarabstimmung promoviert, und genau darüber habe ich den Film gemacht. Das war der Anlass, mich mit den laufenden Bildern zu beschäftigen. Meine Doktorarbeit ist der Versuch gewesen, einen politischen Gegenstand multiperspektiv aus visueller Sicht zu beleuchten.

 

Filmausschnitt (von der Original VHS-Cassette): „Deutsche Mutter – heim zu Dir! Die Saarabstimmung 1935“, Buch: Gerhard Paul, Regie: Sabine Fröhlich, Saarländischer Rundfunk 1985

 

Der Einstieg in die Visual History kam erst, als ich 2004 mein Buch über die „Bilder des Krieges – Krieg der Bilder“ geschrieben habe. Da schrieb die „Neue Zürcher Zeitung“ in einer Rezension, jetzt ist dem Paul das gelungen, was andere versucht haben: der Visual Turn in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Aber das motivierte mich: Zwei Jahre später fand der Konstanzer Historikertag genau zu diesem Thema statt.

 

 

 

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III Methodenmix

Gibt es bestimmte Methoden der Visual History, die Sie als besonders wichtig hervorheben würden, wie zum Beispiel den „Bildakt“ (Horst Bredekamp) oder auch die Begriffe der „Zeugenschaft“ oder der „Wirkmacht“ der Bilder. Wie nähert man sich dieser Fachwissenschaft methodologisch?

Gerhard Paul: Ich habe immer dafür plädiert, dass es „die“ Methode der Visual History nicht gibt, sondern dass wir mit einem Methodenmix arbeiten sollten. Die Methoden können aus der Medienwissenschaft kommen, aus der Kunstgeschichte, aus der Kommunikationswissenschaft oder eben aus der Geschichtswissenschaft, die sich eher mit den Kontexten beschäftigt. Ich denke, der Methodenmix ist das Interessante bei der Visual History, nicht eine feststehende Methode, die diesem komplexen Gegenstand Bild eigentlich nicht gerecht werden kann.

Es hängt natürlich davon ab, mit welchem Gegenstand ich es zu tun habe. Ein Plakat oder Kunstwerk muss ich anders analysieren als laufende Bilder, eine Filmsequenz wiederum anders als eine Fotografie. Dann hängt es natürlich von meiner Fragestellung ab: Geht es mir mehr um den Kontext, um die Agenten, die Bilder produzieren, oder um die Agenturen, die Bilder vertreiben?

Wie verhält es sich mit dem Bild selbst?

Gerhard Paul: Gelernt habe ich im Laufe der Zeit, viel mehr auf das Bild selbst zu achten. Als Historiker*innen können wir die Kontexte sehr genau analysieren, übersehen aber oft, was sich im Bild selbst tut. In welcher Bildtradition steht es? Wie ist das Bild aufgebaut? Knüpft es an bekannte Vorbilder an? Das sind zuerst einmal kunsthistorische Verfahren, mit denen ich ein Bild interpretiere. Die Kunsthistoriker*innen können das einfach besser: genau hinschauen!

… und was ist mit den Kontexten?

Gerhard Paul: Bilder, gerade Medienbilder, sollten in Kontexten gesehen werden: Vermarktet auf den Bildermärkten der Welt, greifen die Gesetze des Marktes vielleicht nicht nur in den Vertrieb, sondern auch in die Produktion eines Bildes ein. Um solche Kontexte zu verstehen, ist es notwendig, Informationen über die Fotograf*innen, Filmemacher*innen, Künstler*innen zu recherchieren.

Eine ganz andere Frage ist die nach der Wirkungsmacht – die schwierigste Frage überhaupt aus historischer Perspektive. Aktuell haben wir ja schon Schwierigkeiten damit, die Wirkung eines Bildes, einer Bildsequenz genauer zu bestimmen. Um wie viel schwieriger ist es, diese Wirkung in der Geschichte zu bestimmen. Es lässt sich viel spekulieren, aber letztlich braucht es harte Quellen. Aber es ist schon ein mühseliges Geschäft, die Wirkung zu rekonstruieren.

„Ich habe immer dafür plädiert, dass es ‚die‘ Methode der Visual History nicht gibt, sondern dass wir mit einem Methodenmix arbeiten sollten.“
Gerhard Paul im Interview mit Christine Bartlitz. Flensburg, 29. September 2020, Foto: Josephine Kuban ©

 

Und wie verhält es sich mit dem „Bildakt“? Sie haben ja Horst Bredekamp schon erwähnt.

Gerhard Paul: Der Begriff des „Bildakts“ geht ja im Grunde davon aus, dass ein Bild nicht einfach nur abbildet. Ein Bild produziert immer etwas. In jeder Aufnahme, ob das mit der Filmkamera ist oder mit dem Fotoapparat, verändere ich auch den Gegenstand, den ich fotografiere.

 

 

Was waren die wichtigsten Errungenschaften der letzten zehn, fünfzehn Jahre? Wo sind wir als Fach Visual History innerhalb der Geschichtswissenschaft vorangekommen, wo haben wir viel erreicht? Und wo liegen die Desiderate? Was ist noch zu tun?

Gerhard Paul: Ich bin überrascht, dass sich nach dem Historikertag in Konstanz 2006 eine Wissenschaft wie die Geschichtswissenschaft, die eine konservative ist, relativ schnell bewegt hat. Dieser Ansatz ist gerade bei jüngeren Historiker*innen auf Resonanz gestoßen, und sie haben ihn in Qualifikationsarbeiten genutzt, und zwar das gesamte Spektrum vom stehenden Bild eines Gemäldes oder Plakats bis hin zu den laufenden Bildern. Da hat sich einiges getan. Dennoch habe ich den Eindruck, dass vieles an Personen hängt. Wenn ein Kollege/ eine Kollegin sich dieser Methode bedient und sie gelehrt hat, dann ist nicht gesagt, dass der/ die Nachfolger*in diesen Ansatz weiterführen wird. Die Institutionalisierung an den Universitäten lässt noch zu wünschen übrig.

In der Regel analysieren wir die stehenden Bilder und beschäftigen uns zu wenig mit Film, Fernsehen und jetzt natürlich mit dem digitalen Bild. Besonders interessant ist es auch, sich mit der Rezeptionsgeschichte zu beschäftigen. Warum werden manche Bilder zeitgenössisch zu Ikonen? Manchmal habe ich den Eindruck, je stärker einzelne Bilder verbreitet werden, umso weniger wird hingeschaut, da wir ja davon ausgehen, diese Bilder genau zu kennen.

Große Desiderata bestehen immer noch in der internationalen Vergleichbarkeit. Wir tun so, als ob der Bildermarkt ein nationaler sei. Das ist er nicht, er ist international. Gerade für die Wirkungsforschung ist das wichtig, denn ein Bild hat nicht dieselbe Wirkung in unterschiedlichen Generationen, Geschlechtern oder auch Ethnien etc. Über den deutschsprachigen Bereich hinaus wird zum Beispiel in Polen und in Italien der Ansatz der Visual History stärker genutzt, auch in Finnland oder in Brasilien gibt es Arbeiten, dagegen eher selten im englischsprachigen Raum. Das Feld internationalisiert sich langsam, ist aber von vergleichender Forschung noch sehr weit entfernt.

 

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IV Visual History als Teilbereich der Geschichtswissenschaft

„Bilder sind ein Kommunikationsmedium zwischen Herrschenden und Beherrschten.“
Gerhard Paul im Interview mit Josephine Kuban. Flensburg, 29. September 2020, Foto: Christine Bartlitz ©

 

Bedeutung der Visual History für die Geschichtswissenschaft

Die Visual History ist transdisziplinär angelegt und bedient sich beispielsweise der Methoden der Kunstgeschichte, der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Welche Bedeutung beziehungsweise welchen Stellenwert hat sie in den Geschichtswissenschaften?

Gerhard Paul: Die Visual History ist keine eigenständige Disziplin, sondern ein Teilbereich der Geschichtswissenschaft, die unser Wissen über Geschichte und Politik erweitert, nicht grundsätzlich verändert. Das heißt, ich habe andere Quellen zur Verfügung. Aufgrund anderer Quellen kann ich anderen Fragestellungen nachgehen.

 

 

 

Rolle der Visual History in Ausbildung und Lehre

Wie viel bildwissenschaftliches Fachwissen braucht es Ihrer Meinung nach für junge Historiker*innen, um Bilder souverän analysieren und interpretieren zu können?

Gerhard Paul: Es sollte jeder Studierende, insbesondere zu Beginn des Studiums, Einführungskurse in bildwissenschaftliches Arbeiten, im Umgang mit Quellen der Visual History gemacht haben. Das findet auch an vielen Universitäten in der Zwischenzeit statt. […] Das Problem sehe ich eher dort, wo die Teildisziplin immer noch isoliert wird. Das heißt, das Wissen und auch die Methoden, mit denen die Visual History arbeitet, müssten sehr viel stärker in die anderen Teilbereiche der Geschichtswissenschaft Einzug finden. […] Es wäre wichtig, dass man Bilder, gerade wenn es um das 19. und 20. Jahrhundert geht, als integralen Bestandteil des Quellenfundus miteinbezieht.

 

 

 

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V Rechte

„Also ich verstehe mich, seitdem ich mit Bildern arbeite, als Bild-Pirat.“
Gerhard Paul im Interview, Flensburg, 29. September 2020, Foto: Christine Bartlitz ©

 

In Deutschland sind Bilder im weitesten Sinne durch das Urheberrechtsgesetz geschützt. Ausnahmen bilden aber beispielsweise das Zitatrecht, vertragliche Lizenzen, Open-Content-Modelle wie die Creative Commons und das Recht am eigenen Bild. Wie schätzen Sie die Situation um das restriktive Urheberrecht und einer daraus resultierenden Angst vor dem Zeigen und Veröffentlichen von Bildern in der Wissenschaft ein?

Gerhard Paul: Also ich verstehe mich, seitdem ich mit Bildern arbeite, als Bild-Pirat. […] Denn ich habe für mich entschieden, dass Bilder für uns Gegenstände der Analyse sind. Wenn wir sie publizieren, sind es in aller Regel auch Zitate, mit denen wir arbeiten, mit denen wir etwas belegen, und von daher genießen sie den Schutz der Freiheit von Forschung und Lehre. […] Sie müssen keine Angst haben. Sie sind Forschende. Sie wollen nicht mit einer Publikation Geld verdienen, sondern Sie wollen zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen, und dazu sollten Sie alle Möglichkeiten nutzen und keine Angst haben, sondern wie der Bilder-Paul als Bilder-Pirat auftreten.

 

 

 

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VI Bücher

Sie haben 50 Bücher geschrieben, herausgegeben und mit herausgegeben. Wenn ich noch nie ein Buch von Gerhard Paul gelesen hätte (was natürlich so gut wie nie vorkommt): Mit welchem Buch sollte ich anfangen?

Gerhard Paul: Vielleicht mit dem letzten Buch „Bilder einer Diktatur“. Darin finden sich 42 Analysen von unterschiedlichen Bildern, Plakaten wie Fotografien bis hin zum Amateur- oder Propagandafilm. Die Texte sind überschaubar lang, man muss sie nicht zusammenhängend lesen. Das Lesevergnügen ist dadurch größer. Und ich versuche zu zeigen, welche Bedeutung die ausgewählten Bilder jeweils für mich haben. Es ist ein Einstieg und – so denke ich – relativ gut lesbar, denn ich habe es für ein breiteres Publikum geschrieben.

 

Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004

Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des „Dritten Reiches“; Reihe: Visual History: Bilder und Bildpraxen in der Geschichte, herausgegeben von Jürgen Danyel, Gerhard Paul und Annette Vowinckel, Göttingen 2020

 

 

 

Jedes Buch bringt einen weiter, aber dennoch die Frage: Was waren Ihre wichtigsten Bücher?

Gerhard Paul: Das ist relativ einfach zu beantworten. Ich habe oft Bücher geschrieben, die eine besondere Bedeutung für mich selbst hatten. Dabei bin ich folgenden Fragen nachgegangen: Welche Bilder habe ich im Kopf? Wo kommen diese Bilder her? Was haben sie mit mir gemacht? Ich habe nicht so sehr danach geschaut, was sind die Desiderate in der Geschichtswissenschaft oder in der Kunstgeschichte, sondern ich habe versucht, diese Ursprungsfragen für mich zu klären.

Daher ist „Bilder des Krieges – Krieg der Bilder“ aus dem Jahr 2004 eines meiner wichtigsten Bücher. Motiviert worden bin ich dazu durch den Kosovo-Krieg. Für mich war es undenkbar, dass eine rot-grüne Regierung in den Krieg zieht. In diesem Buch gehe ich der Geschichte der modernen Kriegsbilder nach. Dabei habe ich selbst am meisten gelernt.

Danach habe ich ein Buch herausgegeben, das vielleicht den größten Einfluss hatte: „Visual History“ wurde auf dem Historikertag 2006 in Konstanz vorgestellt. Die Kritik, die es dort erfuhr – der Paul sollte mal zeigen, wie man Einzelbildanalysen macht –, hat mich angespornt.

 

Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1: 1900 bis 1949; Bd. 2: 1949 bis heute, Göttingen 2008/2009

Visual History. Ein Studienbuch, hg. von Gerhard Paul, Göttingen 2006

 

Das Ergebnis waren die beiden dicken Wälzer „Das Jahrhundert der Bilder“: 180 Bildanalysen von Kolleg*innen aus zwölf Wissenschaftsdisziplinen, aus allen Erdteilen. Das Werk hatte hohe Auflagen und ist weit verbreitet. Das ist vielleicht das Buch, das den größten Nachhall gefunden hat.

Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016

Schließlich möchte ich noch „Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel“ nennen – der Versuch, eine moderne Bildgeschichte Deutschlands und Europas zu schreiben. Letztlich ist es auch das Ergebnis von 20 Jahren Beschäftigung mit Bildern. Alle Bücher haben daher miteinander zu tun.

 

Und was wird Ihr 51. Buch?

Gerhard Paul: Das ist so gut wie fertig und soll im Mai 2021 bei der Bundeszentrale für politische Bildung erscheinen. Ich habe es gemeinsam mit Michael Wildt konzipiert: eine Gesamtdarstellung der NS-Zeit in 16 Kapiteln. Das Besondere an dem Buch ist, dass es systematisch Bild- und Tonquellen mit einbezieht, nicht nur als Gegenstand, sondern auch zum Hören und Sehen. Mithilfe einer App sind Filmsequenzen, O-Töne und Museumsrundgänge wie auch geografische Zuordnungen abrufbar. Wir haben fast sechs Jahre an diesem Buch gearbeitet. Es wird das erste Hybridbuch, auch Metabuch genannt. Das war für die Bundeszentrale sicher eines der größten Projekte und bestimmt das teuerste. Es wird ein Buch für die Zwecke der politischen Bildung: für Studierende, Schüler*innen, für Ältere, eigentlich für jede und jeden.

Gerhard Paul/Michael Wildt: Der Nationalsozialismus. Aufstieg – Macht – Niedergang – Nachgeschichte, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2021

 

Zwei weitere Projekte gibt es noch: Ich habe die Geschichte meiner Familie bis in die Gegenwart geschrieben: konsequent anhand von Bildern. Es gibt Dinge, die einem leichter, und Dinge, die einem schwerer fallen. Ich habe gemerkt, die eigene Familiengeschichte und auch über die eigenen Gefühle zu schreiben, ist leichter. Es ist ein Stück weit auch eine Autobiografie geworden. Letztlich habe ich das, was ich wissenschaftlich gemacht habe, nun für den Privatbereich umgesetzt. Allerdings ist es noch unsicher, ob das Buch gedruckt wird oder eher privat bleibt.

Außerdem denke ich noch über ein wissenschaftliches Projekt nach: eine Visual History Schleswig-Holsteins anhand des Mediums Plakat vom Beginn des Plakatschaffens in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts bis heute. Ich möchte einzelne Plakate vorstellen, die dem Land ein bestimmtes Image gegeben haben, gerade im Bereich des Tourismus. Das beginnt mit dem Jugendstil und hört mit der digitalen Werbung heute auf. Seit zwanzig Jahren habe ich mittlerweile 2000 bis 3000 Plakate gesammelt. Allerdings ist auch hier unklar, ob eine Veröffentlichung möglich sein wird. Der Druck von Plakaten ist aufwändig und teuer, die Zahl der Interessenten wahrscheinlich eher klein und der Druckkostenzuschuss hoch.

 

Gibt es vielleicht noch ein Projekt von Ihnen, das gar nichts mit Wissenschaft zu tun hat?

Gerhard Paul: Ja, ich habe eine Revue geschrieben: „Hauptsach, gudd gess?“, die immerhin drei Spielzeiten lang am Staatstheater von Saarbrücken der absolute Renner war. Es geht um die Geschichte des Saarlandes zwischen Deutschland und Frankreich zwischen 1918 und 1955 aus der Perspektive eines Metzgermeisters und einer Prostituierten. In den Jahren 1991/92 habe ich viele Archive besucht, die meist nur bis 16 Uhr geöffnet waren. Was sollte ich danach machen? Da habe ich abends die Revue geschrieben.

Saarland-Revue „Hauptsach, gudd gess?“ Foto: Gerhard Paul ©

 

Wir bedanken uns bei Gerhard Paul und seiner Frau für die Gastfreundschaft sowie die interessanten Einblicke in Forschung, Lehre und Privatleben eines Visual Historian. Dieses Interview ist auch ein ganz besonders herzlicher Glückwunsch zum heutigen 70. Geburtstag von Gerhard Paul!

Des Weiteren ist es der Auftakt einer Artikelreihe auf Visual History, die Studierenden und Forschenden gleichermaßen Anhaltspunkte für die Anwendung der Methoden der Visual History geben soll.

 

 

[1] Die Bearbeitung der Videos erfolgte durch Hanna Klinger, Berlin.

 

 

Zitation


Christine Bartlitz und Josephine Kuban, „Gelernt habe ich im Laufe der Zeit, viel mehr auf das Bild selbst zu achten“. Ein Interview mit Gerhard Paul, in: Visual History, 15.03.2021, https://visual-history.de/2021/03/15/gelernt-habe-ich-im-laufe-der-zeit-viel-mehr-auf-das-bild-selbst-zu-achten-interview-gerhard-paul/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2160
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