Das Werk Abisag Tüllmanns ist digital zugänglich: für alle Nutzer*innen!
Ein Pilotprojekt der bpk Bildagentur
Ihren biblischen Vornamen „erhielt“ Abisag Tüllmann – die mit bürgerlichem Namen eigentlich Ursula Eva hieß – von Paul Pörtner, einem befreundeten Werbeunternehmer (it copyright), bei dem sie Mitte der 1950er Jahre arbeitete und dort erste Fotos für Kampagnen großer Unternehmen lieferte. Mit Pörtner blieb sie bis zu seinem Tod befreundet. Den Namen Abisag sollte sie fortan behalten.
Liest man sich durch die biografischen Notizen, die Ulrike May für den Katalog „Abisag Tüllmann 1935-1996. Bildreportagen und Theaterfotografie“ aus den Quellen (nicht zuletzt aus Tüllmanns Notizkalendern) herausgearbeitet hat, blickt man auf ein Leben ohne Pausentaste.[1] Abisag Tüllmann starb mit sechzig Jahren und hat bis zum letzten Tag ihres kurzen Lebens gearbeitet. Dreimal bewarb sie sich um Professuren, vielleicht um ein wenig Ruhe in ihr von permanentem Reisen strukturiertes Leben zu bringen, ohne Erfolg.
Erfolg hingegen hatte sie recht früh mit ihren fotografischen Arbeiten. Sie hat für viele große deutsche Zeitungen und Zeitschriften gearbeitet und wurde zunehmend international bekannt. Zeitweilig ließ sie sich von einer französischen Agentur vertreten, ansonsten aber blieb sie selbst- und eigenständig, was die Vermarktung ihrer Bilder betraf. Sie gehörte zu den erfolgreichsten deutschen Bildjournalist*innen des 20. Jahrhunderts und war eine hochangesehene Theaterfotografin.
Abisag Tüllmann war vor allem, so der Kulturwissenschaftler Ulrich Hägele, eine „politische Fotografin“.[2] Im Jahr 1968 war sie 33 Jahre alt und begleitete fortan die studentischen Proteste und das Entstehen neuer zivilgesellschaftlicher Strukturen mit der Kamera. Sie beschäftigte sich zudem intensiv mit den Folgen der eher kapitalistischen als sozialen Marktwirtschaft in ihrer Wahlheimatstadt Frankfurt/Main. Dabei dokumentierte sie die Verdrängung der sozial Schwachen und den Wandel der Stadt zu einer jener gesichtslosen Metropolen, wie es sie überall auf der Welt gibt. Der aus diesen Fotografien entstandene Bildband „Großstadt“ machte sie, mit Ende zwanzig, erstmals einem größeren Publikum bekannt.[3]
Abisag Tüllmann war eine stille Beobachterin offensichtlicher sozialer Ungerechtigkeiten und dem Kampf dagegen, egal ob in Israel, in Algerien, Südafrika oder Frankreich. Das „Zurückgenommene“ oder, wie Ulrich Hägele in seiner Rezension zum Katalog schreibt,[4] die nicht inszenierte, mit journalistischer Distanz und ohne „moralischen Unterton“ produzierte Bildwelt Tüllmanns versetzt uns mitten in die Zeitgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Daneben hatte sie, häufig an der Seite Claus Peymanns, maßgeblichen Einfluss auf die bundesdeutsche Theaterfotografie. Kurz vor ihrem Tod im Jahr 1996 übergab sie ihr theaterfotografisches Werk an das Deutsche Theatermuseum in München, der reportage- und porträtspezifische Teil ihres Fotoarchivs ging bereits 1997 an das Bildarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (bpk-Bildagentur).[5]
Das Erschließungsprojekt der bpk zum Werk Abisag Tüllmanns
Im Jahr 2014 beschloss die zwölf Jahre nach ihrem Tod von Freund*innen der Fotografin gegründete Abisag Tüllmann Stiftung die Übergabe des fotografischen Werks an die Stiftung Preußischer Kulturbesitz. Letztere sollte den Nachlass Abisag Tüllmanns sichern, erschließen und zugänglich machen. Der damalige Leiter der bpk-Bildagentur Hanns-Peter Frentz und Heidi List als Vertreterin der Abisag Tüllmann Stiftung verfolgten mit ihrer Arbeit das Ziel, einen Großteil des Nachlasses nicht nur für die wissenschaftliche, sondern auch für die allgemeine Öffentlichkeit zu bewahren und online zugänglich zu machen.[6]
In der Folge wurde von der Fotohistorikerin Kristina Lowis in enger Abstimmung mit der bpk ein Erschließungskonzept entwickelt, das weit über den üblichen Schwerpunkt der Archive auf Motiv und Bildinhalt hinausgehen sollte. Daher konzentrierte man sich bei der Erarbeitung des Konzepts auf die Materialität der Bilder, den jeweiligen Kontext ihres Entstehens, ihre Verwendung und Rezeption sowie auf Fragen der Autor*innenschaft und Authentizität.
Zentrales Motiv des für die bpk neuen Erschließungskonzepts war der Wunsch, dem Werkcharakter und der Vielfalt der Bildthemen Abisag Tüllmanns gerecht zu werden. Daraus folgten zwei Grundprinzipien der Erschließungsarbeit: Erstens wurde Fotografie als „Objekt betrachtet, das einer bestimmten Autor*innenschaft entspringt“.[7] Und zweitens wurde, wie in anderen Bildarchiven auch, Fotografie als Quelle für visuelle Informationen erschlossen. Somit weicht das im bpk-Projekt entwickelte Erfassungsschema von der im Agenturbetrieb üblichen Praxis ab. Dies kommt vor allem der wissenschaftlichen Arbeit mit den Bildern zugute, da dem materiellen Aspekt des Nachlasses, das heißt sämtlichen Informationen (Rückseite der Bilder, zugehörige Notizen, den Kontakten auch jenseits des genutzten Bildes), große Aufmerksamkeit zukommt. Bei der Erschließung des Werks von Abisag Tüllmann wurden sämtliche Eigenschaften des Objekts wie „Trägermaterial, Technik, Format, Rückseitenbeschriftung, Stempel und Schäden“ erfasst.[8]
Vor diesem Hintergrund gibt es einige, vor allem für die Wissenschaft glückliche Momente: Abisag Tüllmann hatte vor ihrem Tod testamentarisch die Einrichtung einer Stiftung verfügt, die ihr Werk „klug verwalten“ sollte. Diese Stiftung wurde im Jahr 2008 gegründet. Als „positiven Ausnahmefall“ bezeichnen zudem die Vertreter*innen der bpk den Entschluss der Abisag Tüllmann Stiftung, das enorm umfangreiche Erschließungsprojekt der bpk auch finanziell zu unterstützen.[9] Entgegen den üblicherweise relativ oberflächlichen Bewahrungsbemühungen etwa durch Ausstellungen oder die Erfassung nur von Teilbereichen wurde das fotografische Werk Abisag Tüllmanns im Rahmen eines weit gefassten kultur- und medienhistorischen Kontextes archiviert und erschlossen.
Die Website: Abisag Tüllmann (1935-1996): Reportage- und Theaterfotografin (https://bpk-archive.de/tuellmann/)
Hinzu kommt der aus Sicht der Autorin kluge Entschluss der bpk, die technische Umsetzung des Projekts beziehungsweise den Aufbau der Website hausintern an Stefan Geiser[10], einen Datenbankexperten zu vergeben – ein Mitarbeiter also, der mit den Inhalten und Sammlungskonzepten des Bildarchivs und den historischen Kontexten des Bestands vertraut ist. Mit der Website der bpk zum Werk Abisag Tüllmanns ist erstmalig ein Werkkonvolut im Archiv der Bildagentur gesichert und frei zugänglich gemacht worden. Für die Nutzung können die erschlossenen Bilder, die mit einer CC-Lizenz (BY-NC-ND 4.0) versehen sind, für nichtkommerzielle Zwecke frei verwendet werden. Das Format ist mit 300 dpi für den Druck kleinformatiger Abbildungen gut geeignet.Der Webauftritt ist übersichtlich gestaltet; die Einstiegsseite bietet zunächst minimalistische, aber für die Nutzung der Seite ausreichende Informationen zu Person und Werk. Von dort aus gelangt man zu den drei Hauptkategorien „Person“ „Werk“ und „Nachlass“. Innerhalb dieser Kategorien gibt es thematische Unterkategorien (z.B. Person_Ausstellungen, Werk_Pressefotografie, Nachlass_Findhilfen u.v.m.).
Das Zentrum der Website bildet die Rubrik „Zum Werk“ mit insgesamt dreißig Themendossiers. Hier laufen die redaktionell erarbeiteten Inhalte und die „Ergebnisse des Erschließungsprojektes zusammen, so dass Themen im Kontext von Kontaktbögen zum gedruckten Bild nachvollzogen werden können“.[11] Zu jedem Kapitel gibt es neben einem kurzen Einführungstext eine repräsentative Bildauswahl und die Möglichkeit, sich alle thematisch zugeordneten Bilder anzuschauen. Komplettiert werden die jeweiligen Kapitel durch die Darstellung einzelner ausgewählter (Bild-)Rückseiten, durch dazugehörige Publikationen und/oder Dokumentationen des Produktionskontextes. Die Suchfunktion, ein Tool, an dem sich die Qualität einer Website häufig offenbart, ermöglicht eine umfangreiche Darstellung der Bilder und Kontaktbögen zum jeweiligen Suchbegriff: So finden sich etwa bei der Eingabe „Sport“ in der Suche Kontaktbögen zu Fotografien einer Jagd auf Gut Neuhof aus dem Jahr 1959, die eher privaten Charakter haben, ebenso wie zu einer Gymnastikgruppe von Student*innen der Frauenuniversität Seoul aus dem Jahr 1977.Ein integriertes Vergrößerungstool ermöglicht es, sich die einzelnen Bilder und Bildfolgen auf den Kontaktbögen anzusehen und somit einen genaueren Einblick in die finale Bildauswahl und den Produktionsprozess der Fotografin zu erhalten. Interaktiv ist die Seite zudem mit der auf fast jeder Bildseite sichtbaren Frage „Wissen Sie mehr als wir oder haben Sie Fragen?“, die direkt auf eine Kontaktseite führt.
Im Kapitel „Nachlass“ können Nutzer*innen sich einen Überblick über die Entstehungsgeschichte der Website und das Team des Erschließungsprojekts verschaffen. Alle Beiträge auf der Website, etwa zum Nachlass, zur Biografie oder zu einzelnen Produktionsphasen und -Orten sind den Lese- und Nutzungsbedürfnissen einer digitalen Leser*innenschaft angepasst, d.h. es handelt sich hier um kurze, inhaltlich hoch aggregierte Inhalte.
Dem fünfköpfigen Team – Christina Stehr (bpk-Gesamtprojektleitung), Kristina Lowis (Konzept und Texte), Noemi von Alemann (Erschließung und Recherchen), Noel Tovia Matoff (Fotodokumentation) und Stefan Geiser (Umsetzung Webseite) – hat sowohl die Wissenschaft als auch eine breite an Fotografie interessierte Öffentlichkeit eine ungemein materialreiche, klug kontextualisierte, intuitiv gestaltete und nicht zuletzt elegante Website zu verdanken. Das Angebot profitiert sowohl vom archivalischen Wissen und der Erfahrung der Mitarbeiter*innen der bpk, ihrem geschulten fotografischen Blick und ihrer breiten Kenntnis der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts. Wir sind gespannt auf die kommenden (Erschließungs-)Projekte.
[1] Ulrike May, Betrifft: Abisag Tüllmann. Biografische Notizen, in: Martha Caspers u.a. (Hg.), Abisag Tüllmann 1935-1996. Bildreportagen und Theaterfotografie, Ostfildern 2010, S. 243-255.
[2] Ulrich Hägele, Rezension zu: Caspers, Martha; Lowis, Kristina; May, Ulrike; Haas, Monika; Lauterbach, Barbara; Sykora, Katharina: Abisag Tüllmann: 1935-1996 Bildreportagen und Theaterfotografie, Ostfildern 2010, in: H-Soz-Kult, 11.02.2011, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-15700 [30.04.2021].
[3] Abisag Tüllmann, Großstadt, Frankfurt a.M. 1963.
[4] Hägele, Rezension.
[5] Eva-Maria Magel, Abisag Tüllmann. Porträt einer leisen Großen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.2015, online https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/ein-film-ueber-die-fotografin-abisag-tuellmann-13885624-p2.html [30.04.2021].
[6] Ein ausführlicher Text zum Erschließungsprojekt und der daraus entstandenen Website zum Werk Abisag Tüllmanns findet sich in der Zeitschrift „Rundbrief Fotografie“: Kristina Lowis/Christina Stehr, „Was, um Himmels Willen, verstehen Sie unter ‚Arbeitsabzug – keine Originale’?“ Abisag Tüllmanns fotografischer Nachlass im Spannungsfeld zwischen analogem Archiv und digitaler Präsenz, in: Rundbrief Fotografie 27 (2020), H. 3 [N.F. 107], S. 30-41.
[7] Ebd., S. 34.
[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 37.
[10] Stefan Geiser ist einer der Datenbankmanager der bpk.
[11] Lowis/Stehr, Was, um Himmels Willen, verstehen Sie unter ‚Arbeitsabzug – keine Originale’?“, S. 40.
Zitation
Annette Schuhmann, Das Werk Abisag Tüllmanns ist digital zugänglich: für alle Nutzer*innen! Ein Pilotprojekt der bpk Bildagentur, in: Visual History, 10.05.2021, https://visual-history.de/2021/05/10/das-werk-abisag-tuellmanns-ist-digital-zugaenglich/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2183
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