Bilder, die Folgen haben

Eine Archäologie ikonischen Filmmaterials aus der NS-Zeit

zwei alte Filmdosen mit Staub und Spänen bedeckt in einem Holzregal

Filmbüchsen des Kompilationsfilms „The Nazi Plan“ (USA 1945, George Stevens) im ehemaligen Filmlager des Reichsfilmarchivs in Harthausen bei München, Frühjahr 2018. Foto: Alexander Zöller ©

Die verbreiteten Vorstellungen von NS-Zeit und Holocaust beruhen in weiten Teilen auf einem bestimmten Fundus heterogener Materialien wie beispielsweise den letzten bewegten Bildern von Adolf Hitler aus der „Deutschen Wochenschau“, Aufnahmen aus dem Übergangslager Westerbork oder aus dem Warschauer Ghetto, Reinhard Wieners Amateurfilm von Erschießungen in Liepaja, Eva Brauns Home Movies vom Berghof oder Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“. Über die genaue Überlieferungsgeschichte dieser Materialien und ihrer verschiedenen Versionen ist allerdings bisher noch wenig bekannt.

Bilder, die Folgen haben, sind also Filmsequenzen, die aus einer Folge von Einzelbildern bestehen und daher bewegt erscheinen. Zudem handelt es sich um bewegte Bilder, die nach ihrer Erstverwendung in Form von Zitaten durch die Film- und Mediengeschichte wandern, in deren Folge sie in Wechselwirkung mit ästhetischen Strömungen sowie mit erinnerungskulturellen Entwicklungen einen Ikonisierungsprozess durchlaufen. Aus diesem Prozess wiederum folgen eine kontinuierliche Rekontextualisierung, Umwertung und Überlagerung der Bilder und damit entweder eine Verdichtung oder eine Diversifizierung oder gar eine Entwertung ihrer Aussagekraft.

Dieses Forschungsprojekt konzentriert sich auf ikonische Filmsequenzen, die in der NS-Zeit entstanden sind. Es hat zum Ziel, deren Material- und Verwendungsgeschichte mit Hilfe eines archäologischen Ansatzes zu rekonstruieren und zu analysieren, um auf der Grundlage einer empirischen Datenerhebung Aussagen über Funktion und Stellenwert des Audiovisuellen für die gesellschaftliche Erinnerung treffen zu können.

Für dieses Vorhaben wird Astrid Erlls Modell der travelling memory die Grundlage bilden. Die darin vorgeschlagenen fünf Kategorien bedeuten – auf unser Projekt übertragen – eine verschränkte Betrachtung folgender Aspekte:

(1) der Akteure und ihrer ästhetischen Konzepte (carriers),

(2) der Ausgangsmaterialien und Zielformate (media),

(3) der in den Materialien gespeicherten Bilder und Töne (contents),

(4) ihres ständigen Bedeutungswandels in beweglichen erinnerungskulturellen Kontexten (practices) sowie

(5) der Motive/Topoi, mit denen dabei operiert wird bzw. die im Zuge dieser Prozesse ausgebildet werden (forms).

Dieses Projekt verfolgt insgesamt sieben klar definierte Ziele, die sich natürlich gegenseitig bedingen. Diese Ziele sind alle insofern originell, als sie Forschungsdesiderata einlösen bzw. noch nicht voll ausgereifte Methoden weiterentwickeln. Sie beziehen sich sowohl auf die Grundlagenforschung als auch auf innovative Verfahren und Zugänge sowie nicht zuletzt auf Fragen der Interaktion von Wissenschaft und gesellschaftlicher Öffentlichkeit.

Die anvisierten Ziele sind im Einzelnen:

(1) eine Datenbank zu den filmischen Ikonen aus der NS-Zeit,

(2) deren Material- und

(3) Verwendungsgeschichte

(4) im Rahmen eines transnationalen Ansatzes,

(5) die zusätzliche kritische Bearbeitung und Befragung der ikonischen Sequenzen mit Hilfe von zu einer wissenschaftlichen Methodik weiterentwickelten Videoessays (forschender Filme),

(6) die Berücksichtigung einer Übertragung der Erkenntnisse in die Bildungsarbeit (Filmvermittlung) schon während des Forschungsprozesses sowie

(7) die Vorbereitung möglicher kritischer Editionen der Materialien.

Eine Karteikarte für die Ausleihe des Films „Der ewige Jude“ mit Angabe der Ausleiher:innen, des Orts, des Datums, des Befunds und der Unterschrift

Karteikarte des Reichsfilmarchivs für den antisemitischen Hetzfilm „Der ewige Jude“ (Deutschland 1940, Fritz Hippler) mit zeitgenössischen Ausleihvorgängen. Gosfilmofond Russland, Belyje Stolby, Trophäenfond, November 2018. Foto: Alexander Zöller ©

Um die dargestellten Ziele zu erreichen, ist das Zusammenspiel eines kleinen Teams von ausgewählten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit bestimmten Schwerpunktgebieten und Aufgaben über einen Zeitraum von acht Jahren erforderlich. Der interdisziplinäre Ansatz, der Filmwissenschaft, Filmpraxis, Archivwissenschaft, Zeitgeschichte, Kunstgeschichte, Memory Studies, Geschichtsdidaktik/Filmvermittlung und die Digital Humanities einschließt, wird in eigens dafür angelegten Workshops mit kompetenten Gästen kritisch optimiert.

 

Bearbeiter:innen des Forschungsprojekts: Prof. Dr. Chris Wahl, Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann, Dr. Alexander Zöller, Fabian Schmidt, Daniel Körling, Noga Stiassny, Yael Ben-Moshe

Sieben Personen (drei Frauen und vier Männer) stehen vor dem gläsernen Eingang der Filmhochschule Babelsberg.

Das anfängliche Projektteam während eines Workshops an der Filmuniversität. V.l.n.r.: Yael Ben-Moshe, Fabian Schmidt, Alexander Zöller, Tobias Ebbrecht-Hartmann, Evelyn Kreutzer, Noga Stiassny, Chris Wahl. Potsdam-Babelsberg, 24. März 2022. Foto: Alexander Zöller ©

Forschungsprojekt: Bilder, die Folgen haben – Eine Archäologie ikonischen Filmmaterials aus der NS-Zeit

https://filmikonen.projekte-filmuni.de/das-projekt/

Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF in Kooperation mit der Hebrew University Jerusalem und dem Bundesarchiv; gefördert durch die DFG 2021-2029

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