Foto(grafen)-Ikonen und Forschungsdesiderate
Aktuelle Herausforderungen bei der Deutung der ungarischen Fotografie des 20. Jahrhunderts
Der Kauf eines Flugtickets nach Budapest erscheint heutzutage vergleichbar mit dem Erwerb einer Eintrittskarte für die Weltmeisterschaften im Tauziehen. Die Erlebnisse, die man vor Ort sammelt, die Gespräche, die man führt, werfen den reisenden, neugierigen Fragesteller unmittelbar in die Arena. Er wird augenblicklich zum Zuschauer dieses „Spektakels“.
Grundlegend unterschiedliche Auffassungen von Demokratie, Freiheit, Kultur und Kulturpolitik prallen in Ungarn aufeinander. Es wird gezogen und gezerrt, erbittert um Einfluss gekämpft, wobei man den Eindruck bekommt, dass in den letzten Jahren immer häufiger, neben Werten wie Vielfalt oder Offenheit in der (Kultur-)Politik, auch der kleinste gemeinsame Nenner auf der fachlichen Ebene unter die Räder gerät. An welchem Ende des Seils steht man? Nur das zählt einzig und allein.
Der Fotohistoriker und Museologe Károly Kincses widmet sich seit über dreißig Jahren der Erforschung der ungarischen Fotografie. Er ist Mitbegründer des Ungarischen Fotomuseums in Kecskemét sowie des Mai Manó-Hauses in Budapest, übernahm vielfältige Aufgaben als Universitätsdozent und Leiter von Fotoworkshops, als Autor sowie Kurator. Kincses berichtet im Interview, wie er die aktuelle Situation des Landes, den tobenden „Kulturkampf“, der auch die Fotografie erreicht, einschätzt. Eine offene Moment- wie auch Bestandsaufnahme aus Ungarn am 6. Dezember 2013.
Eszter Kiss: Herr Kincses, wie schätzen Sie die Streitigkeiten und Unklarheiten rund um das vor wenigen Wochen gegründete Capa-Zentrum ein?
Károly Kincses: Erlauben Sie mir, dass ich ein wenig aushole. Aus meiner Sicht ist das größte Problem, dass die aktuelle gesellschaftliche Situation Aktivitäten, die Veränderungen bewirken könnten, in keiner Weise ermöglicht oder gar fördert. Der gegenwärtige Kurs des Landes wirft Ungarn und seine Bevölkerung zurück in die Situation des „Du kannst eh nichts machen, deshalb solltest du auch nicht aktiv werden, freue dich lieber darüber, was du bekommst!“ Dies ist die exakte Entsprechung des Kádárschen „Kühlschrank-Sozialismus“.
Das scheint so wunderbar zu funktionieren, dass das Land an eine Schafherde erinnert, die in eine unglaublich enge Scheune eingepfercht ist. Die Schafe schließen sich nicht zusammen, um die schwachen Seitenwände des Stalls zu durchbrechen. Vielmehr schubsen sie sich gegenseitig hin und her, und sie blöken sich an. Die Energien, die Spannungen, wenden sie gegeneinander und nutzen diese nicht, um die Situation grundlegend zu verändern. In dieser gesellschaftlichen Umgebung ist es so – nach meiner Theorie –, dass wenn die Struktur schlecht ist, auch die kleineren Teilstrukturen auf den niedrigeren Ebenen nicht gut funktionieren können.
Und jetzt sind wir auch schon beim Capa-Zentrum. Ich war einer derjenigen, die für diese Institution gekämpft haben. Ich habe vor ca. sechs Jahren das Arbeitskonzept des Zentrums erstellt, bin nach New York, habe die Capa-Bilder mit ausgewählt und bin schließlich auf die Schnauze zu fallen, als István Hiller, der Bildungsminister der damaligen Regierung, nachdem wir die Fotos gekauft hatten, plötzlich nichts mehr von einem Zentrum wissen wollte.
Die Institution, die nach dem Vorbild des New Yorker International Center of Photography (ICP) in Budapest entstehen sollte, war als Option im Kaufvertrag der Capa-Aufnahmen enthalten. Das Know-how des ICP sollte nach Budapest transferiert werden, um eine Institution zu gründen, die in der Lage wäre, unabhängig, ohne staatliche Gelder zu funktionieren und die Programme zu realisieren, die sie für wichtig erachtet.
Das ICP etablierte vor Jahrzehnten ein differenziertes Weiterbildungssystem – von Kinderworkshops bis hin zu Meisterkursen –, das nicht nur im Stande war, die Bildungsprogramme selbst zu finanzieren, sondern auch Gelder generieren konnte für Bereiche wie das Archiv, die Bibliothek oder die Ausstellungsräume. Und in allen diesen Bereichen des ICP geht es letztlich um eine Frage: „Wie gelingt es uns, die Schätze, die wir besitzen, so zu vermarkten, dass sich das Institut nicht nur refinanzieren, sondern auch weiterentwickeln kann?“
EK: Letztlich benötigt man für die erfolgreiche Realisierung eines solchen Konzepts ja auch eine Nachfrage. Gibt es in Ungarn einen Markt für Fotografie, besteht Nachfrage nach Bildungsprogrammen?
KK: Ja! Warum sollte es diese Nachfrage nicht geben? In Ungarn existieren zurzeit ca. 70 unterschiedliche, kleine und kleinste, private und staatliche Ausbildungsorte für Fotografie. Alle bilden aus – auf den unterschiedlichsten Niveaus. Und sie wollen alle überleben. Das Schlimmste im gegenwärtigen Kultursystem ist, dass du die Unterstützung nicht aufgrund deiner Leistung bekommst. Stattdessen wird dir Geld gegeben, vollkommen unabhängig davon, ob du etwas „Gutes“ oder „Schlechtes“ produzierst. Geld bekommst du nur dann, wenn du der „jemand von jemandem“ bist oder bereit bist, dich der aktuellen kulturellen Linie zu verpflichten. Das ist inakzeptabel, denn Halb- und Vierteltalente kommen einfach durch Bekanntschaften zu hohen Summen, die wiederum von solchen Orten abgegraben werden, in denen die zivilen und staatlich nicht kontrollierten, kulturellen Ressourcen ihre Wirkung entfalten sollten. Das betrifft nicht nur die Fotografie, sondern auch das Theater, den Tanz usw. Man kann deutlich sehen, dass es in dieser Art des zentralisierenden Systems nur darauf ankommt, die Hände möglichst überall drüber zu halten. Feudale Abhängigkeiten entstehen und werden aufrechterhalten, die dazu führen, dass keine Sicherheiten mehr existieren. Niemand kann sich darauf, wofür er Leidenschaft empfindet, wozu er Talent hätte, konzentrieren … Das stört mich am meisten. Ich bin – im Gegensatz zu Ihnen – in so einem System in den 1950er- und 1960er-Jahren aufgewachsen. Ich mochte das schon damals nicht besonders. Heute ist die Situation die Gleiche.
EK: Also ist demnach noch überhaupt nicht klar, welche Rolle Sie im neuen Capa-Zentrum übernehmen können, wollen und möchten? Ich bin davon ausgegangen – Ihr Name auf der Homepage des Zentrums legte dies nahe –, dass Sie für den Bereich der Fotoforschung zuständig sein werden. Meine Hoffnung war, dass das Capa-Zentrum die ungarische Fotografie zwischen 1945 und 1989 auf seine Agenda setzen würde.
KK: Das ist nicht ausgeschlossen. Sie haben mich mit Ihrer Interviewanfrage in einem, aus dieser Hinsicht, sehr ungünstigen Moment aufgesucht. Ich befinde mich aktuell in einem Dilemma: Ein Angebot, im Capa-Zentrum zu arbeiten, habe ich erhalten, und ich bin sehr, sehr, sehr ins Grübeln geraten … Ich überlege, welche die richtige Entscheidung ist! Dies ist ein diffiziles Problem. Wenn ich dieses Angebot annehme, muss ich mir darüber klar werden, was ich, durch die partielle Aufgabe meiner Freiheiten und meiner Unabhängigkeit, grundsätzlich auf mich nehme. Will ich als 60-Jähriger außerhalb meines Berufs, möglicherweise ohne eine Stelle, sein? Werden sich die bisherigen Ressourcen meiner Arbeit, beispielsweise die Publikationsorgane, automatisch dadurch verschließen, dass ich meine Unwilligkeit, mich mit diesem System zu identifizieren, zeige? Ich habe mir bis zum 20. Dezember Zeit gegeben, um zu entscheiden, ob ich das Angebot annehme.
Falls ich meine Vorstellungen realisieren kann, werde ich es vermutlich tun. Ich habe ein achtseitiges Positionspapier verfasst, das meine Ideen für die Ausrichtung der wissenschaftlichen Tätigkeiten des Capa-Zentrums darlegt. Die Capa-Forschung ist lediglich ein Teil davon. Mein Eindruck ist, dass sich weder das von mir vor 20 Jahren gegründete Ungarische Fotomuseum in Kecskemét noch die Fotosammlung des Nationalmuseums (Magyar Nemzeti Múzeum) intensiv genug mit dem Themenfeld der Pressefotografie auseinandersetzen, also sich auf die Fotografie konzentrieren, die über die kurzweilige Belieferung der Presse mit Aufnahmen von aktuellen Ereignissen hinaus in der Lage ist, durch die Auswahl der gelungensten Fotos eine Spur der Gesellschaft, des menschlichen Lebens zu einer bestimmten Zeit abzubilden.
EK: Das sind also die Foto-Ikonen, die bleiben?
KK: Ja, genau. Ich sehe dies, sollte ich im Capa-Zentrum die Stelle übernehmen und wenn sie mich meine Arbeit machen lassen, als meine wichtigste Aufgabe an. Auf der Grundlage meiner 35-jährigen Erfahrungen im Bereich der Fotomuseologie würde ich das alljährliche Pressefotoangebot im Blick behalten und diejenigen Aufnahmen herausfiltern, die auch längerfristig Bestand haben könnten.
EK: Können Sie ein Beispiel dafür aus den 1970er- und 1980er-Jahren nennen? An welche Bilder, welche Fotografen denken Sie?
KK: Selbstverständlich! Tamás Urbán. Seine Werke über die Arbeit der Rettungssanitäter, die Situation von Drogenabhängigen, über die Gefängnisse sowie die Erziehungsanstalt in Aszód. Die Themen, die er damals angefasst hat, sind so grundlegend, dass sie auch noch in 50 Jahren ihre Gültigkeit haben werden. Oder Imre Benkős Arbeiten über Òzd: Fotos über den Niedergang, die Schließung und Sprengung der Stahlfabrik. Mit diesem Projekt begleitete er über zehn Jahre die Veränderungen in der Schwerindustrie. Die exakte Bildsprache ermöglicht es auch, sein Werk zu generalisieren, sodass die Bilder nicht nur über die Krise einer einzelnen Fabrik etwas erzählen, sondern über die Krise der Schwerindustrie im Allgemeinen. Eine Entwicklung, die Kazincbarcika genauso wie Manchester oder auch das Ruhrgebiet betrifft.
Alle diese Bilder bleiben! Meine Aufgabe wäre es, sie deutlicher in den Mittelpunkt zu stellen. Leider ist heute die visuelle Wirkung vom Bild einer alten Frau, die dem Ministerpräsidenten Viktor Orbán einen Handkuss gegeben hat, viel dominanter. So etwas wird aber in zehn Jahren keine Bedeutung mehr haben.
EK: Welche Themenfelder würden Sie außerdem noch gern im Rahmen Ihrer Forschungstätigkeiten im Capa-Zentrum untersuchen?
KK: Mein Forschungskonzept hat drei Bereiche. Die bereits erwähnte zeitgenössische Pressefotografie ist der erste Schwerpunkt.
Darüber hinaus möchte ich mich mit den traditionsreichen fotografischen Gruppen und Organisationen beschäftigen, die heute wegen der Desorganisation und der sich verschlechternden Stimmung im Verfall begriffen sind: alte Fotoklubs, alte Arbeitskreise. Diese wurden vor zwanzig oder dreißig Jahren gegründet, wobei sie inzwischen nur noch sehr schwach zusammengehalten werden, denn die Infrastruktur, die sie ermöglicht hatte (die Kulturhäuser), verschwindet zunehmend. Sie werden oft lediglich von einem harten Kern von loyalen Mitgliedern am Leben gehalten, ihre Basis sind die langjährigen Freundschaften einzelner Teilnehmer. Ihre einstmaligen Funktionen haben sie aber schon längst eingebüßt. Ich denke beispielsweise an die Focus-Gruppe in Pécs, die STB-Gruppe in Esztergom, den Fotoklub in Nyíregyháza, die Gruppe um László Dalos in Szombathely. Die Herausforderung hier ist die Sammlung der Materialien von den noch lebenden Mitgliedern und ihre Strukturierung, sodass sie ihren Platz in der Fotogeschichte erhalten. Es muss dabei auch gezeigt werden, dass die Existenz dieser Gruppen sehr stark durch die György Aczél‘sche[1] Kulturpolitik gesteuert worden ist. Unter diesen Bedingungen hat beispielsweise Anfang der 1970er-Jahre auch die Fotosektion des Klubs der Jungen Künstler[2] ihre Arbeit aufgenommen. Eine strikte Kontrolle mit unmittelbarer Überwachung – auch mithilfe der Staatssicherheit. Diese Klubs wurden trotzdem, oder gerade deshalb, erlaubt, weil sie eine gewisse Gruppenbildung ermöglichten. Arbeitskreise von Künstlern zu überwachen, ist viel einfacher, als einzelne Individuen zu kontrollieren.
Das, was von diesen Gruppen noch existiert, würde ich gern erforschen.
Als dritter Aspekt kommt schließlich Capa, seine Wirkung vor allem auf die Kriegsfotografie hinzu. Da interessieren mich die technischen Weiterentwicklungen in der Fotografie, wie diese Neuerungen eine unmittelbare Darstellung des Kriegs ermöglichten und wie inzwischen Kriege für die Medien inszeniert werden.
EK: Sie waren ebenfalls Jurymitglied des Wettbewerbs „Zeitgenössische Bildprojektionen“ („Kortárs vetített képek“). Wie sind Sie mit der den medialen Mischformen und Projektionen gegenüber offenen Ausschreibung umgegangen?
KK: Das mit den Projektionen war meine Idee, und zwar aus einem einfachen Grund: Ich war das einzige Jurymitglied mit Fachkenntnissen im Bereich der Fotokonservierung. Mir war klar, dass ein vernünftiger Mensch mindestens zwei Monate lang keine Kunstgegenstände auf eine frisch verspachtelte, gemalerte Wand hängt. Das hat uns gezwungen, uns Gedanken zu machen, wie wir eine Ausstellung in den frisch renovierten Räumen des Capa-Zentrums realisieren können, ohne dabei die gezeigten Werke zu vernichten. Die Juryarbeit selbst lief so ab, dass wir in einem verdunkelten Raum saßen, die Bilder an die Wand projiziert wurden und wir uns die dazugehörigen Geschichten anhörten. Bei den meisten Werken war es kein Problem, dass ein Vermittlermedium dazwischengeschaltet wurde. Ein gelungenes Bild ist ein gelungenes Bild und ein schlechtes eben ein schlechtes.
EK: Ich habe einige Jurymitglieder eher mit der Fotografie – und nicht mit Filmen oder Installationen – in Verbindung gebracht.
KK: Die Ausschreibung zielte nicht auf die Durchführung eines reinen Fotowettbewerbs ab. Schauen Sie, dass ich Fleisch sehr mag, bedeutet ja nicht, dass ich kein Gemüse esse!
EK: Möglicherweise können Sie diese Fragen noch gar nicht beantworten, aber mit welchen ausländischen Institutionen steht das Capa-Zentrum in Kontakt? Wen wollen Sie als Partner gewinnen?
KK: Tja, bei einer Institution, die vor einer Woche eröffnet hat, kann man noch nicht so viel sagen. Selbstverständlich würde ich meine beruflichen Kontakte, die ich in den letzten dreißig Jahren ausgebaut habe, eine Art kulturelles Netzwerk, dem Zentrum zur Verfügung stellen. Weltweit gibt es zehn bis zwölf führende Institutionen, mit denen wir, in welcher Form auch immer, unbedingt in Kontakt treten müssen! Aus meiner Sicht ist es jedoch zwingend erforderlich, dass man etwas Solides vorweisen kann, bevor man sich solchen Kontakten ernsthaft widmet. Wir müssen beweisen, dass wir eine gut funktionierende, nach fachlichen Kriterien arbeitende Institution sind. Erst dann kommen wir als gleichberechtigte Partner in Frage. Sonst sind wir nur die armen Bittsteller! Das möchte ich vermeiden.
EK: Welche Institutionen wären für die Zusammenarbeit aus Deutschland interessant?
KK: Ich bin der Meinung, dass wir unbedingt mit den großen Presse- sowie Bildagenturen in Kontakt treten müssen, denn bei vielen spielten bei der Gründung in den 1920er- und 1930er-Jahren ungarische Fotografen oder Bildredakteure eine wichtige Rolle. Sollte ich die Möglichkeit bekommen, werde ich an die Archive jener Agenturen herantreten, die die Spuren dieser Zusammenarbeit bewahren. Beispielsweise Ullstein: Martin Munkácsi, Stefan Lorant, Imre Róna (Fotograf und Journalist, 1902-1974), László Czigány (Fotograf und Maler, ca. 1905-1980) – alle waren bis zur „Arisierung“ Anfang der 1930er-Jahre im Dunstkreis von Ullstein zu finden. Auch mit dem Bauhaus-Archiv würde ich, nicht nur allein wegen László Moholy-Nagy, gern in Kontakt treten.
Das Capa-Zentrum sollte mit den Institutionen in Austausch treten, die Capas Lebenswerk mit verwalten: Magnum in Paris, die Museen in New York und Tokio, die ebenfalls über Meisterkopien verfügen. Letztendlich sollten wir aber versuchen, mit so vielen Institutionen wie möglich eine gute Beziehung aufzubauen.
EK: Capa erstellte Ikonen, die D-Day Aufnahmen oder „The Falling Soldier“…
KK: Nein! Capa hat Fotos gemacht, von denen einige den Wert von Ikonen erreichten.
EK: … So ist die Formulierung genauer. Diese Fotos sind jedoch keine ungarischen Foto-Ikonen.
KK: Aber warum sollten sie ungarische Foto-Ikonen sein?
EK: Weil ich das Gefühl habe, dass sie in letzter Zeit explizit mit diesem Vorzeichen präsentiert und vermarktet werden. Wenn ich bedenke, wo er überall gearbeitet hat, wie sein Lebensweg aussah und welche Themen ihn beschäftigten, fällt es mir jedoch schwer, sie als solche zu betrachten. Meine Frage also: Gibt es ungarische Ikonen?
KK: Ja, es gibt sie. Kennen Sie mein Buch „Photographen – made in Hungary: die gegangen sind und die blieben“?[3] In dem Buch versuchte ich – bereits 1999 (!) –, die Fotografen zusammenzutragen, die Ungarn verlassen hatten und denen es aufgrund ihres Talents gelang, sich in andere internationale Arbeitskontexte einzugliedern, wo sie letztlich sehr erfolgreich wurden. Alleine hätten sie es nie geschafft! Daneben finden sich weitere Biografien von Zeitgenossen in dem Buch, die sich fürs Bleiben entschieden hatten. Obwohl sie in den gleichen Werkstätten, in den gleichen Redaktionen gearbeitet hatten, wie ihre bald weltberühmten Kollegen, brachten sie es nicht zu Ruhm und Ehre, weil ganz einfach die Infrastruktur nicht da war. Daraus hätte man lernen können!
Das ist aber nicht erfolgt. Stattdessen haben wir aktuell eine Politik, die ausdrücklich nationalistische Töne anschlägt. Damit diese „Wir, die großen Ungarn! Unser Herz schlägt!“-Stimmung bedient werden kann, wird alles hemmungslos diesem nationalistischen Zweck untergeordnet. Auch wenn Brassaï beispielsweise nach 1920 nie wieder nach Ungarn zurückgekommen ist. Er ist in Frankreich erfolgreich und anerkannt geworden! So auch Robert Capa: Er war 1948 für wenige Wochen in Ungarn, um ein Paar Bilder zu schießen. Für wenige Wochen! Er kam hierher, machte seine Bilder und ging wieder. Die Frage des „Ungarseins“ war für ihn in diesem Moment nicht relevant. Er war in dem Maße Ungar, in dem er das sein musste, in dem Maße Amerikaner, in dem er das sein musste, in dem Maße Franzose und in dem Maße Usbeke (von mir aus), in dem er dies sein musste, wenn er dort hin musste.
Ich glaube nicht an diese „ungarische Ikonen“-Frage. Ich glaube, es gibt ikonenhafte Bilder in der Fotokunst. Aber die Voraussetzung, dass ein Bild zur Ikone wird, ist, dass es so viel Kompressionsdruck von allen Seiten gibt, dass sich eine Aufnahme von der flachen Ebene, wo sich zunächst alle Fotos tummeln, löst und aufsteigt – auf eine Ikone muss man hochschauen. Ohne harte Arbeit gibt es keine ikonischen Bilder! Wir, Ungarn, investieren aber leider keinerlei Energie in unbekanntere Bilder, die neben denen stehen könnten, die durch andere im Ausland groß gemacht worden sind.
Sollten wir jedoch nur eine einzige Aufgabe haben, dann genau diese: die Lebenswerke beispielsweise von Károly Escher (1890-1966), Zoltán Berekméri (1923-1988) oder Károly Gink (1922-2002) mit Ausstellungen, Büchern und PR-Maßnahmen für ein internationales Publikum aufzubereiten.
EK: Interessant, dass die Frage, wie auch die Antwort, sich in Richtung der auch im Ausland etablierten Fotokünstler hinbewegt hat. Was mich gerade umtreibt, ist die Frage der kollektiven, visuellen Erinnerung eines Landes. Das Bild als Ankerpunkt und als Verdichtung dessen, was die Vergangenheit einer Gruppe (in diesem Fall die Bevölkerung eines bestimmten Landes) ausmacht. Vor dem Hintergrund meines Promotionsprojekts beschäftigt mich auch die Frage: Gibt es solche Ikonen für das Kádár-System, für das Ungarn der 1970er- und 1980er-Jahre?
KK: Absolut! Ich habe für eine private Galerie, das Kogart-Haus, eine Ausstellung unter dem Titel „Analóg“ kuratiert. Präsentiert wurden die Arbeiten von ca. 20 Fotografen und Fotografinnen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zehn bis zwölf von ihnen haben auch einige ikonische Bilder erstellt. Im Ausstellungskatalog[4] kann man diese Bilder nachschlagen. Ob sie es tatsächlich schaffen werden, den Status von richtigen Ikonen zu erlangen, vermag ich jedoch nicht zu beurteilen.
EK: Herr Kincses, herzlichen Dank für das Gespräch!
[1] György Aczél (1917-1991) war der für Kultur zuständige Sekretär des Zentralkomitees.
[2] Fiatal Művészek Klubja (Klub der Jungen Künstler): Der Klub wurde 1960 durch das Zentralkomitee der KISZ (Magyar Kommunista Ifjúsági Szövetség), der ungarischen FDJ, gegründet.
[3] Károly Kincses/Gergely Prőhle/Magdolna Kocziha [Übers.], Photographen – made in Hungary: die gegangen sind und die blieben …; Ausstellung des Ungarischen Fotomuseums im Auswärtigen Amt in Berlin / Ungarisches Fotomuseum Kecskemét 2001.
[4] Colin Ford/Károly Kincses/Marianna Kiscsatári, Analogue. 21 Hungarian Photographers from the 20th Century, Budapest 2013.
Zitation
Eszter Kiss, Foto(grafen)-Ikonen und Forschungsdesiderate. Aktuelle Herausforderungen bei der Deutung der ungarischen Fotografie des 20. Jahrhunderts, in: Visual History, 22.12.2013, https://www.visual-history.de/2013/12/22/fotografen-ikonen-und-forschungsaufgaben/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1287
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