Ausstellung: Dietmar Riemann. Innere Angelegenheiten, Fotografien 1975-89

 

Sie sind knapp fünfzig Jahre alt: Dietmar Riemanns Fotografien aus der DDR, die das Berliner Willy-Brandt-Haus gerade ausstellt. Und sie sind relevant.

Frauen und Kinder tanzen

Warten – Fotografien aus dem Pflegeheim St. Elisabeth-Stift Berlin, 19848-5 © Situation Kunst / Dietmar Riemann

Dietmar Riemann hat sozialdokumentarische Aufnahmen angefertigt. Wir sehen auf den Bildern zum Beispiel, welche unterschiedlichen Milieus die Ost-Berliner Trabrennbahn in den 1970er Jahren anzog. Riemann zeigt uns Charaktere, Originale, wie jenen Anzugträger mit buntgefleckter Krawatte und schief aufgesetztem Hut, der mit Zigarre im Mund das Geschehen verfolgt.

Mann steht auf einer Säule und raucht eine Zigarre

Renntage – Menschen auf der Trabrennbahn (Ost-)Berlin-Karlshorst, 1975-76/1979 © Situation Kunst / Dietmar Riemann

Riemanns Fotografien dokumentieren aber auch andere Orte. Seine Aufnahmen von leeren, wüsten Ost-Berliner Hinterhöfen zeugen von Verfall, Einsamkeit und Beengung. Sie suggerieren Vernachlässigung, von Gebäuden wie von Menschen. Die Fotos lehren uns zudem, wie Anspruch und Wirklichkeit im DDR-Alltag auseinanderklafften. „Es ist offen“, steht etwa an den heruntergelassenen Rollläden eines Geschäfts. Ein Widerspruch, den Riemann immer wieder fotografisch dokumentierte, allen voran mit Fotos von Schaufenstern, in denen einladende Werbesprüche mit der ausladenden wirtschaftlichen Realität der DDR konfrontiert wurden.

Schaufenster mit heruntergelassenen Rolläden

Schaufenster, 1986-89 © Situation Kunst / Dietmar Riemann

Schaufenster mit Gießkannen

Schaufenster, 1986-89 © Situation Kunst / Dietmar Riemann

Die Fotos ermöglichen auch, zu erfahren, welchen persönlichen Blick der Fotograf und DDR-Bürger Riemann auf die DDR hatte. Und zweifelsohne hängen die Fotos ganz unmittelbar mit Riemanns Biografie zusammen, insbesondere jene der Berliner Mauer, die er selbst zu überwinden suchte. Denn Riemann stellte bereits im Jahr 1986 einen Ausreiseantrag, dem 1989 stattgegeben wurde. Drei Monate vor dem Mauerfall konnte er die DDR verlassen. In den Jahren zuvor hatte Riemann nach einer Fotografenlehre und einem Grafik- und Buchkunststudium in Leipzig freiberuflich fotografiert. Seine Mauerfotos entstanden unter hohem persönlichen Risiko – immer wieder musste er vor Beobachtern in einen Bus flüchten, wie seine Frau erzählt.

Riemanns persönlicher Blick auf die DDR wartet mit einer ihm ganz eigenen Komik auf. Das zeigen nicht nur die Fotos von den Schaufenstern, deren Widerspruch zwischen Anspruch und Realität implizit etwas Komisches hat. Ebenso bergen die Aufnahmen aus einem Pflegeheim für alte Menschen immer wieder eine spezifische Komik: beispielsweise, wenn ein Mann beim Austausch von Zärtlichkeiten mit einer Frau einzuschlafen scheint, wenn zwei Frauen die Schallplatte „Der fröhliche Ostpreuße“ mustern oder eine andere Dame fröhlich mit einem Ball spielt. Diese eingefangenen komischen Momente bedeuten übrigens nicht, dass Riemann seine Porträtierten nicht ernst genommen hätte. Im Gegenteil lassen uns die Fotos spüren, wie wichtig es ihm war, eine Beziehung zu den Abgebildeten herzustellen und zu dokumentieren, was ist. Und gewesen ist viel, wie uns die Fotos zeigen: Fürsorge und Vernachlässigung, Tristesse und Fröhlichkeit, Tod und Leben, alles nebeneinander, häufig in ein und demselben Foto.

Frauen sitzen auf Stühlen

Warten – Fotografien aus dem Pflegeheim St. Elisabeth-Stift Berlin, 1984-85 © Situation Kunst / Dietmar Riemann

Dietmar Riemanns Aufnahmen behandeln Themen, die immer aktuell sind, egal wann und in welchem politischen System. In seinen Fotografien geht es um den Umgang mit Menschen, die häufig unsichtbar oder am Rand bleiben – Menschen mit Behinderungen oder Pflegebedürftige. Es geht um Beziehungen zwischen Menschen, um das Leben an sich, um Begrenzungen und Freiheit, kurz – um Themen, die uns alle betreffen und beschäftigen. Und so beschreibt Riemanns Frau die Fotografien am besten, wenn sie sagt: „Letztendlich sind die Fotos immer aktuell“, da ihre Themen heute wie damals dieselben seien.

An diese Worte anknüpfend sollten wir Riemanns Fotos vielleicht auch weniger als historische Quelle betrachten, sondern als Kunst. Kunst, die ihren Betrachter:innen Interpretationsspielräume lässt und ihnen erlaubt, in den Fotografien zu sehen, was für sie gerade wichtig ist. Gerade deshalb sind Dietmar Riemanns Fotos relevant – heute wie vor fünfzig Jahren.

Drei Kinder sitzen auf Stühlen

Was für eine Insel in was für einem Meer – Menschen in den Samariteranstalten Fürstenwalde, 1979–80 © Situation Kunst / Dietmar Riemann

 

Dietmar Riemann. Innere Angelegenheiten

Fotografien 1975 – 89

 

  1. Februar bis 28. April 2024

Willy-Brandt-Haus

Wilhelmstraße 140, 10963 Berlin

Alle Infos zur Ausstellung auch auf der Website.

 

 

 
 

 

Zitation


Tobias Eder, Ausstellung: Dietmar Riemann. Innere Angelegenheiten, Fotografien 1975-89, in: Visual History, 20.03.2024, https://visual-history.de/2024/03/20/eder-ausstellung-dietmar-riemann/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2738
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