You Look All the Same to Me
Perspektiven auf die Diane-Arbus-Ausstellung im Berliner Gropius Bau
War Diane Arbus eine Visionärin der pluralen Gesellschaft? Oder, wie Susan Sontag meinte, eine Ideologin der Verzweiflung, die es vermochte, „jedem Sujet Angst, Schrulligkeit oder Geistesverwirrung an[zu]dichten“? Anlässlich einer Ausstellung in Berlin vergleicht der Essay aktuelle und historische Perspektiven und stellt fest, dass die visuellen Erfahrungen der Zeitgenossen der Gegenwart nicht mehr zugänglich sind.
Der Blick
Mit weit aufgerissenen Augen schaut uns das Mädchen an. Aus seinem Blick spricht eine Ernsthaftigkeit, vielleicht auch Traurigkeit, die irritiert, weil das Kind kaum älter als zehn Jahre sein kann. Woher, fragt man sich beim Betrachten der Fotografie, rührt dieser Ernst, welchen traumatischen Erfahrungen mag er geschuldet sein? Was weiß das Mädchen, was der im Bildvordergrund als Schemen erkennbare, unbekümmert lachende Junge nicht weiß, und was ihm alle Illusionen geraubt zu haben scheint? Fast wirkt es so, als schaue es weniger in die Kamera als in die Zukunft, und man wüsste nur allzu gerne, was aus ihm geworden und wie die Geschichte weitergegangen ist.
Geschossen hat das Bild die amerikanische Fotografin Diane Arbus (1923-1971), die gerade mit einer großen Retrospektive im Berliner Martin-Gropius-Bau geehrt wird. Arbus gilt seit ihrem Freitod als Ikone der modernen Fotografie, bereits in den 1970er Jahren wurde ihr eine epochale Wirkung attestiert.[1] Ihr Werk besteht zu einem großen Teil aus Schwarz-Weiß-Porträts von Unbekannten, die frontal in die Kamera blicken, so ungeheuer eindringlich und melancholisch, dass man sie nicht mehr aus dem Kopf bekommt. „Girl in a Watch Cap“, 1965 aufgenommen auf einer Straße in New York, ist insofern einerseits ein typisches Arbus-Bild, auch wenn es nicht zu den bekanntesten ihrer Arbeiten zählt. Andererseits ist das traurige Mädchen mit der Mütze kein „Freak“. Und ihre Bilder von „Freaks“ sind es gewesen, die Arbus berühmt gemacht haben.
Aufgewachsen in einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus in New York, schlug Arbus eine erfolgreiche Karriere als Modefotografin für Magazine wie Esquire oder Harper’s Bazaar ein. Doch ihr eigentliches Interesse, so geht die oft erzählte Geschichte,[2] galt nicht den Schönen und Prominenten, sondern den Menschen jenseits der gesellschaftlichen Norm, den „Freaks“, wie Arbus sie nannte: hässlichen Menschen, dicken Menschen, behinderten Menschen; Dreibeinigen, Zwergen und Riesen; Prostituierten, Dominas, Homosexuellen und Transvestiten; Artisten, Nudisten, Menschen mit seltsamen Hobbys und Einsamen aller Art (sehr viele dieser Bilder finden sich hier: https://www.metmuseum.org/art/collection/search?q=Diane+Arbus&searchField=ArtistCulture). Auch diese Bilder entstanden teilweise im Auftrag von Magazinen, und Arbus war bereits zu ihren Lebzeiten bekannt und bei Kollegen wie Richard Avedon hochgeschätzt. Zum Star wurde sie aber erst posthum mit der Präsentation ihrer Bilder auf der Biennale in Venedig (1972) und, im gleichen Jahr, einer spektakulären Werkschau im Metropolitan Museum of Modern Art.[3]
Allein die Aufzählung der Bild- und Faszinationsgegenstände verdeutlicht das problematische Potenzial von Arbus’ Fotografie. Geht es hier um die Inklusion und Normalisierung derjenigen, die als anders markiert, diskriminiert und ausgeschlossen wurden? Oder werden Menschen hier zu Anderen gemacht, werden Abweichung und Differenz in der Tradition der „Freak Shows“ ausgestellt und visuell reproduziert? Diese Fragen mögen „zeitgeistig“ klingen, doch sie sind nicht ganz neu. Bereits in den siebziger Jahren bot das Werk von Diane Arbus Anlass zu intensiven Auseinandersetzungen, die sich zwar an anderen Wahrnehmungen und Begriffen orientierten, in denen die Fragen der Gegenwart aber durchaus eine Rolle spielten, und die vor allem mit einer Kritikerin assoziiert sind, die heute, obwohl erst vor wenigen Jahren verstorben, einer längst verblichenen Vergangenheit anzugehören scheint.[4]
Tod einer Kritikerin
Die aktuelle Arbus-Ausstellung („Konstellationen“) wurde bereits in etlichen Zeitungen und Magazinen besprochen, nicht nur in Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten, wo sie im Sommer 2025 in New York zu besichtigen war („Constellation“). Wenn man diese Texte nebeneinanderlegt, fällt auf, wie ähnlich sie sich sind. Das betrifft nicht nur das Urteil über die Bilder und ihr Arrangement, das einhellig – mit einer Ausnahme, auf die noch zurückzukommen sein wird – positiv ausfällt. Es betrifft auch die Art und Weise, wie beziehungsweise gegen wen dieses Urteil entwickelt wird. Alle Rezensionen kommen früher oder später auf Susan Sontag (1933-2004) zu sprechen.
In „On Photography“ (1977), einem Essayband, der gemeinhin als bildethisches Standardwerk gilt,[5] hatte Sontag ihre Skepsis gegenüber dem Medium Fotografie auch mit einer scharfen Kritik an den Arbeiten von Diane Arbus begründet und deren Bildern eine „antihumanistische Botschaft“ bescheinigt: „Ihre Fotos zeigen Menschen, die sowohl rührend und bemitleidenswert als auch abstoßend sind, aber sie erregen kein Mitgefühl.“ Als Fotografin sei Arbus eine Art „Supertourist“, vergleichbar mit einer Anthropologin, die „Eingeborene besucht und Nachrichten von ihrem exotischen Treiben und ihrer sonderbaren Aufmachung mit nach Hause bringt“. Diese Perspektive nennt Sontag naiv, weil sie „auf das Gefühl gründet, daß das, was der Betrachter sich ansehen soll, tatsächlich anders ist“. Indes werde jeder, der sich von ihr fotografieren ließ, zum Anderen gemacht, zum „Exzentriker“, da es Arbus’ Blick vermöge, „jedem Sujet Angst, Schrulligkeit oder Geistesverwirrung an[zu]dichten“. Daraus leitet Sontag „ein scharfsichtiges, geistreiches Programm der Hoffnungslosigkeit“ und die „unausgesprochene Absicht“ ab, „Amerika als Abnormitätenschau“ und als „Grab des Abendlandes“ zu zeigen.[6]
Knapp 50 Jahre später ist diese Kritik obsolet geworden, wenn man den Rezensent:innen Glauben schenken mag. Alle referieren sie – mehr oder weniger fair, mehr oder weniger vollständig – Sontags Position, um diese im Anschluss als fragwürdig, falsch, unfair oder boshaft darzustellen. In der Summe liest sich das wie eine Abrechnung. Höfliche Zurückweisungen („Man kann es auch ganz anders sehen“, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung[7]) ergänzen sich mit wüsten Attacken wie derjenigen im New Yorker, deren assoziative Perfidie es erforderlich macht, das Zitat in seinem Zusammenhang wiederzugeben:
„Her most notorious detractor was Susan Sontag, who, in a 1973 essay that drips with personal animus, accused Arbus – daughter of a department-store executive – of having a privileged girl’s prurient interest in the illicit and obscene, along with an unacceptably bleak view of America as one big ‚idiot village‘. Sontag failed to mention the less-than-glamorous photographs Arbus made, possibly for an Esquire piece, of the writer and her son, David Rieff. One is included in ‚Constellation‘; it hangs above ‚The House of Horrors, Coney Island, N.Y. 1961,‘ a picture that shows how absurd bogeymen look when the lights are on. Sontag inaugurated an ad-feminam tradition that has continued ever since, and every Arbus show needs, somehow, to clear the air.”[8]
Sontag habe ihre Kritik also aufgrund gekränkter Eitelkeit und aus Rachsucht formuliert, weil sie sich im Spiegel von Arbus’ Bildern selbst nicht gefiel. Warum diese Bilder besonders unvorteilhaft sein sollen, erschließt sich genauso wenig wie die Motivation des Verfassers, der Sontag beiläufig, scheinbar unbeabsichtigt in die Nähe der „bogeymen“ rückt, also indirekt als eine Art Schreckgespenst bezeichnet, und sie zugleich der Lächerlichkeit preiszugeben versucht („how absurd“). So etwas traut sich nur, wer keine Gegenwehr mehr zu befürchten braucht. Zwar steht der Text in methodischer Hinsicht alleine inmitten des gesichteten Textkorpus dar;[9] doch im Urteil über den (vermeintlichen) Irrtum der Kritikerin ist man sich grundsätzlich einig.
Das liegt vermutlich schlichtweg daran, dass sich Sontags Kälte-Kritik nicht mit der heutigen Wahrnehmung der Bilder verträgt. Der Rezensent der Welt etwa hat „Bilder, die von Würde erzählen, nicht von Zurschaustellung“[10] gesehen; der Rezensent der Jungen Welt „ein Archiv der Würde der Unangepassten“ besichtigt[11]; die Rezensentin des Tagesspiegel hatte „das schöne Gefühl, hier Menschen eher kennenzulernen als sie nur anzustarren“[12]; und in der Kunstzeitschrift Monopol heißt es, Arbus habe „Menschen am Rand der Gesellschaft mit unerhörter Offenheit, Intimität und Empathie ins Bild“[13] gesetzt. Am humanistischen Mitgefühl der Fotografin herrscht also kein Zweifel mehr; und insofern überrascht es nicht, dass den Bildern allenthalben die historische Leistung bescheinigt wird, „die Akzeptanz des Andersseins vorweggenommen“ (Welt) und „die Außenseiter als Teil der Vielfalt begriffen und die Ränder in die Mitte und ins Bewusstsein geholt“[14] (Morgenpost) zu haben.
„Es gibt keine Ecke für die Nackten und keine für Menschen mit Behinderung, für die Reichen und die Armen. Alles existiert gleichberechtigt nebeneinanderher“, schreibt die Rezensentin der F.A.S. Diese „egalitäre Inszenierung“ oder „radikale Gleichbehandlung“ (Welt) lassen Arbus als Visionärin der „pluralen Gesellschaft“ erscheinen, die jedes Individuum so sein lässt, wie es ist oder sein mag: „Arbus zeigt in ihrer Fotografie keine Gruppen mit besonderen Merkmalen, sondern Einzelne. So ist die Gesellschaft.“ (Tagesspiegel)
Die gleichwertige Inszenierung von Normalität und Anomalität und die Frage danach, ob die Bilder zur Akzeptanz von Differenz und Devianz beitragen oder nicht, hatte allerdings auch Sontag im Blick. Doch die „diffuse Legitimität“, die die Kunst der 1960er und 70er Jahre sogenannten Freaks verleihe, schaffe in Wahrheit „nur noch mehr Distanz“[15]; und gerade die auch von Sontag konstatierte Herstellung von „Gleichwertigkeit“ zwischen den Sujets ist es, die sie dazu bringt, Arbus als verkappte Ideologin der Verzweiflung, der Düsternis und der Hoffnungslosigkeit zu entlarven.
Um diese Perspektive zu verstehen, lohnt sich die Rückschau auf zeitgenössische Reaktionen auf die Fotografien von Diane Arbus. Hier zeigt sich einerseits, dass die hegemoniale Lesart der Gegenwart, die in Arbus eine menschenfreundliche Verfechterin von Diversität und Gleichberechtigung erkennt, keineswegs anachronistisch ist. Insbesondere der einflussreiche Kunstkritiker der New York Times, Hilton Kramer (1928-2012), hat Arbus in den frühen 1970er Jahren wiederholt als Abenteurerin porträtiert, die sich in Räume und Milieus vorgewagt habe, die der Kunst bis dahin verschlossen gewesen seien, deren „Liebe“ für ihre verfemten Sujets aber in all ihren Bildern zu verspüren sei. Die „Freaks“ seien bei ihr nie „reine Objekte“, sondern „participants, who face the camera with patience and interest and dignity. […] She made us see these ‚aristocrats‛ in a way they had never been seen before. It was at once an artistic and a human triumph.“[16] Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung erfährt im Jahr 1976 anlässlich einer Arbus-Ausstellung, „[d]aß der Mensch trotz aller Deformationen seine Humanität dennoch nie völlig unterdrücken kann, daß sie sich durch alle Entstellungen hindurch äußern will“.[17]
Andererseits dominiert in den Zeitungsartikeln jener Jahre eine Interpretation, die grundsätzlich eher der Lesart Sontags entspricht (wenn auch nicht ihrem kritischen Urteil). In der Los Angeles Times wird Arbus 1972 als „the chronicler of hidden desperations in a desperate world“[18] gefeiert; die Zeit bezeichnet sie 1973 als „Künstlerin der Verzweiflung“[19] und charakterisiert ihre Bilder wenige Jahre später als „menschliche Schreckensvisionen vom Untergang der Kultur und inhumanen Wucherungen der Gesellschaft“[20]; im Spiegel heißt es 1974, Arbus habe „eine deprimierende Mustersammlung grotesker Spießer, Außenseiter und Kranker“[21] hinterlassen; und Le Monde assoziiert ihr Werk 1973 mit „Leid“ und „Zerrissenheit“, „Hässlichkeit“, Grausamkeit“ und „Einsamkeit“:
„Cette femme plus que sensible, meurtrie par un sentiment tragique de l’existence, […] a dressé un horrible constat de la realité, dont elle a traqué les zones les plus ingrates, les plus troublantes, photographiant des ‚monstres‛, des ‚nains‛, des ‚géants‛, des êtres ‚difformes‘. […] Le lecteur qui ouvrira ce livre [An Aperture Monograph; N. W.] sera aggressé, violenté. Une verité qu’il s’acharne à voiler lui sautera à la face. Ces belles images s’enfonceront dans ses yeux comme des lames de couteaux.“[22]
Arbus’ Bilder – hierüber bestand damals Einigkeit – bewirken Schmerz und lassen ihre Betrachter:innen verstört zurück; und sie weisen, zumindest aus Sicht der Mehrzahl der Kritiker:innen, über ihre Gegenstände hinaus. Das eigentliche Thema dieser Bilder sind (aus zeitgenössischer Perspektive) nicht die „Freaks“, sondern die amerikanische Normalgesellschaft, die sich hier in einem Zerrspiegel selbst erkennt – als „Amerika, das bevölkert ist von Monstern und Ungeheuern, das nichts mehr zu tun hat mit dem optimistischen Ton, der noch im Jahrzehnt zuvor die Reportagen der Illustrierten bestimmte“[23].
Es ist hier nicht der Ort, um diese Lesarten historisch zu kontextualisieren und zu erklären zu versuchen. Doch es lässt sich zumindest festhalten, dass Sontags Interpretation eingebettet ist in ein kollektives Empfinden und vor diesem diskursiven Hintergrund verstanden werden muss; dass also, wer Sontag heute leichtfertig des Irrtums oder der Boshaftigkeit bezichtigt, ein Urteil über eine Generation von Kritiker:innen und Ausstellungsbesucher:innen fällt; dass sich die wohlmeinende Deutung, Arbus habe mit ihren Bildern einen Beitrag zur Normalisierung von Außenseitern geleistet, im Lichte dieser Texte – und unabhängig von den Intentionen der Urheberin – als mindestens fragwürdig erweist; und dass die visuellen Erfahrungen und Deutungsmuster der Zeitgenossen für heutige Betrachter:innen nicht mehr ohne Weiteres zugänglich sind. Was sich damals wie eine „Messerklinge“ in die Augen des Publikums gebohrt hat, verursacht heute allenfalls ein sanftes Unbehagen.
Unsichtbare Materie
Warum das so ist, kann dieser Text nicht beantworten. Der freundliche Eindruck, den Arbus’ Bilder bei den Kritiker:innen der Gegenwart hinterlassen hat, ist allerdings, so würde ich jedenfalls vermuten, auch auf das Ordnungsprinzip zurückzuführen, nach dem die Bilder im Gropius Bau arrangiert worden sind. Es gibt nämlich keins. Das Arrangement der 454 Fotografien „folgt weder einer chronologischen noch einer thematischen Ordnung“, liest man auf der Website der Berliner Festspiele. „Stattdessen lädt sie Besucher*innen ein, frei zwischen den Bildern umherzuwandern und Beziehungen und Resonanzen zwischen den Motiven zu entdecken.“[24] Diese Resonanzen zu verspüren, ist indes nur denjenigen vergönnt, die über ein Sensorium für das Hypothetische verfügen. Denn der Stoff, aus dem die Beziehungen gemacht sind, besteht den Ausstellungsmachern zufolge aus „unsichtbarer Materie“ oder, auf Englisch, „dark matter“, die in der Kosmologie postuliert, aber nicht nachgewiesen werden kann.[25]

Diane Arbus: Konstellationen, Installationsansicht, Gropius Bau, 2025. © Gropius Bau, Foto: Rosa Merk. Alle Kunstwerke © The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation
Die Kritiker:innen haben diese flüchtigen Umstände nachweislich wenig gestört. Auf eine kurze Phase der Orientierungslosigkeit und Überforderung folgt die Freude am Entdecken von verborgenen Relationen und an einer Ausstellung, die ihre Besucher:innen weder zu lenken noch mit Informationen zu belästigen versucht: „Was für eine tolle Ausstellung – wie ein begehbares Labyrinth, ganz undidaktisch“[26] (taz). Und so steht alles einfach nebeneinander, die Bilder von den Behinderten, den Deformierten und den Dicken (die im Booklet sensibel „Dickmann“ oder „Dickmadam“ genannt werden) neben denen der Prominenten und Reichen, die Arbus für die Hochglanzmagazine fotografiert hat. In der Unordnung soll sich, um ein letztes Mal die Sprache des Kunstbetriebs zu zitieren, „die verborgene Architektur […], die allem Schaffen zugrunde liegt: Zufall, Chaos und Erkundung“ spiegeln; tatsächlich drängt das Arrangement ein bestimmtes Bild von Arbus auf, das Bild der egalitären Künstlerin, die keine Unterschiede zwischen den Menschen gemacht haben soll. Interessant ist übrigens, dass, wenn ich es richtig sehe, keine Rezension länger als einen Satz bei einem der Bilder verweilt – ganz so, als hätten die Journalist:innen durch einen „Instagram-Feed [gescrollt], bei dem man 454 Fotos nebenbei zum Frühstück verschlingt“.[27]
Im meines Wissens einzigen Verriss der Ausstellung, der nicht in einer der großen Zeitungen, sondern in einem (gleichwohl sehr populären) Online-Magazin erschienen ist, wird die Unordnung der Präsentation und die Verweigerung jeglicher Information zur Geschichte der Bilder[28] als gezieltes Manöver gedeutet, um das Publikum zu verwirren und Kritik an den Arbeiten von Arbus im Keim zu ersticken:
„This is either lazy, ahistorical curation or an intentional attempt to disorient viewers and distract them from inconvenient questions about Arbus’s art. It’s hard to form a critical opinion about a body of work when you’re overwhelmed by hundreds of photos without a morsel of context […].“[29]
Hakim Bishara, der Autor dieses lesenswerten Artikels, beschreibt sein Unbehagen angesichts von Arbus’ klassistischem Blick, der die Armen in ihrem privaten Elend ausstelle und die Reichen mit solchen Peinlichkeiten verschone (eine Tendenz, die ich auch wahrgenommen habe, die aber vielleicht weniger auf die Perspektive der Fotografin als auf die Entstehungsbedingungen der Bilder zurückzuführen ist). Bishara wirft den Ausstellungsmachern im Anschluss„obfuscation tactics“ vor, die, so lässt es sich jedenfalls verstehen, der Steigerung des Marktwerts der Bilder dienen sollen. Der Effekt, den Bishara beschreibt, die Konfusion und die Abwesenheit von Kritik, lässt sich nicht von der Hand weisen. Ob dies auf dunkle Absichten des Kurators und der Eigentümerin der Bilder zurückzuführen ist, erscheint allerdings fraglich: Was nützte dem Wert von künstlerischen Artefakten mehr als eine hitzige Kontroverse?

Diane Arbus, Lady bartender at home with a souvenir dog, New Orleans, La. 1964.
© The Estate of Diane Arbus, Collection Maja Hoffmann/LUMA Foundation
Dem Gropius Bau gegenüber lässt sich der Vorwurf jedenfalls nicht erheben. Denn das Bild, das die Organisator:innen ausgewählt haben, um die Ausstellung zu bewerben und mit dem sie die Stadt plakatiert haben, ist offensichtlich ein Witz auf Kosten der Porträtierten, der die Tristesse mediokrer Existenz verspottet. Die Komik der Aufnahme entsteht durch die Ähnlichkeit der Frisur der kleinbürgerlichen jungen Frau mit der Gestalt des geschmacklosen Zierhunds. Die Darstellung scheint insofern kaum dazu geeignet, Arbus als Leuchtturm der Menschenfreundlichkeit auszuweisen und Kritik von vornherein zu unterbinden. „Wissen sie, wie grotesk sie wirken? Anscheinend nicht.“[30]
Diane Arbus, Konstellationen, ist noch bis zum 18. Januar 2026 im Gropius Bau zu besichtigen.
Weitere Informationen finden sich unter: https://www.berlinerfestspiele.de/gropius-bau/programm/2025/ausstellungen/diane-arbus.
[1] Vgl. z.B. Hilton Kramer, From Fashion to Freaks, in: New York Times, 5.11.1972, online: https://www.nytimes.com/1972/11/05/archives/from-fashion-to-freaks-the-camera-eye-of-diane-arbus-focused-on-the.html?searchResultPosition=29 [17.11.2025]. Der Zusammenhang von Selbstmord und Legendenbildung wird bereits in nahezu allen mir bekannten zeitgenössischen Artikeln thematisiert.
[2] Vgl. z.B. Patricia Bosworth, Diane Arbus – Eine Biographie, München 1984.
[3] Doon Arbus/Marvin Israel (Hg.), Diane Arbus. An Aperture Monograph, New York 1972.
[4] Zur Unzeitgemäßheit Susan Sontags vgl. Johanna Hedva, Sie, etc. Zu Benjamin Mosers Susan-Sontag-Biografie. Übers. v. Birthe Mühlhoff, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 851 (April 2020), S. 5-21, online: https://www.merkur-zeitschrift.de/artikel/sie-etc-a-mr-74-4-5/ [17.11.2025].
[5] Vgl. zur Bildethik die Beiträge des Themenschwerpunkts auf Visual History: Christine Bartlitz/Sarah Dellmann/Annette Vowinckel, Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, in: Visual History, 20.07.2020, https://visual-history.de/2020/07/20/bildethik/ [12.11.2025]; sowie Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert. Göttingen 2016, S. 288-306.
[6] Sämtliche Zitate aus Susan Sontag, Amerika im düstern Spiegel der Fotografie, in: dies., Über Fotografie. Übers. v. Mark W. Rien u. Gertrud Baruch, Frankfurt a.M. 2008 [amerik. 1977/dt. 1980], S. 31-52. Erstmals erschienen ist Sontags Essay unter dem Titel „Freak Show“ in: New York Review of Books, 15.11.1973, online: https://www.nybooks.com/articles/1973/11/15/freak-show/ [17.11.2025].
[7] Laura Helena Wurth, Ins Dunkel getaucht, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 19.10.2025.
[8] Max Norman, Diane Arbus and the Too-Revealing Detail, in: The New Yorker, 13.06.2025
[9] Neben den im Folgenden aufgeführten deutschen Rezensionen vgl. auch Veronica Esposito, ‚A Reflection of Who She Was‘: Major Diane Arbus Exhibition Hits New York, in: The Guardian, 03.06.2025, online: https://www.theguardian.com/artanddesign/2025/jun/03/diane-arbus-exhibition-new-york [17.11.2025]; Joanna Solotaroff, A Return to Diane Arbus’s New York, in: Vogue, 11.06.2025; Will Heinrich, Diane Arbus, Everything Everywhere All at Once, in: New York Times, 12.6.2025.
[10] Marcus Woeller, Fotografin Diane Arbus: Wie der Gropiusbau an eine alte Stärke anknüpft, in: Welt, 17.10.2025, online: https://www.welt.de/kultur/article68eccf80096e7c49e6b1bb32/fotografin-diane-arbus-wie-der-gropiusbau-an-eine-alte-staerke-anknuepft.html [17.11.2025].
[11] Josh Regitz, Das unbequeme Bild, in: Junge Welt, 15.11.2025 (Wochenendbeilage), online: https://www.jungewelt.de/artikel/512437.fotografie-das-unbequeme-bild.html [17.11.2025].
[12] Birgit Rieger, Foto-Ikone Diane Arbus. Sie wollte wissen, wer die Menschen wirklich sind, in: Tagesspiegel, 18.10.2025, online: https://www.tagesspiegel.de/kultur/foto-ikone-diane-arbus-im-gropiusbau-sie-wollte-wirklich-wissen-wer-diese-menschen-sind-14569880.html [17.11.2025].
[13] Jens Hinrichsen, Dunkles Geheimnis, in: Monopol. Magazin für Kunst und Leben 11/2025, S. 100.
[14] Uta Raifer, Aus dem Dunkel ans Licht, in: Berliner Morgenpost, 20.10.2025
[15] Sontag, Amerika im düstern Spiegel, S. 48.
[16] Kramer, From Fashion to Freaks; vgl. auch ders., Arbus Photos, at Venice, Show Power, in: The New York Times, 17.06.1972, online: https://www.nytimes.com/1972/06/17/archives/arbus-photos-at-venice-show-power.html?searchResultPosition=24; ders., 125 Photos of Arbus on Display, in: The New York Times, 08.11.1972, online: https://www.nytimes.com/1972/11/08/archives/125-photos-by-arbus-on-display.html?searchResultPosition=31 [beide 17.11.2025].
[17] Wilfried Wiegand, Die Feier der Person und die mühsame Menschlichkeit. Porträtfotografen aus drei Epochen: Franz Hanfstaengl, August Sander, Diane Arbus. Eine Ausstellung in Frankfurt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.04.1976, S. 25.
[18] Henry J. Seldis, Photographer Diane Arbus – Enlighten and Reveal, in: Los Angeles Times, 30.12.1972.
[19] Stanley Kauffmann, Die Entdeckung heißt Antoon. New York spricht über Foreman, Arbus, Trilling, in: Zeit, H. 3, 12.01.1973.
[20] Norbert Denkel, Die Sprache der Augen. Eine kleine Bibliothek der Photographie, in: Zeit, H. 36, 01.09.1978.
[21] Anon., Kunstmarkt: Neue Ware Photographie, in: Spiegel, H. 43, 20.10.1974, online: https://www.spiegel.de/kultur/kunstmarkt-neue-ware-photographie-a-de88c062-0002-0001-0000-000041599109 [17.11.2025].
[22] Anon., Diane Arbus, in: Le Monde, 11.12.1973.
[23] Anon., Fasziniert vom Häßlichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.1987.
[24] Website der Berliner Festspiele, https://www.berlinerfestspiele.de/gropius-bau/programm/2025/ausstellungen/diane-arbus [17.11.2025].
[25] Text der Infotafel im Eingangsbereich der Ausstellung.
[26] Stephanie Grimm, Kälte, Kruschteltag, Krautrock und Kopfkino, in: taz, 28.10.2025 (Sammelrezension), online: https://taz.de/Drummerin-Valentina-Magaletti-in-Berlin/!6124715/ [17.11.2025].
[27] Timo Feldhaus, 454 Bilder von Diane Arbus in Berlin: Labyrinth der Randständigen, in: Berliner Zeitung, 17.10.2025. Der Fairness halber sei angemerkt, dass der Kritiker der Berliner Zeitung durchaus ein diffuses Unbehagen an der Ausstellungsmachart artikuliert.
[28] Denn wenn man wollte, könnte man die Geschichte dieser Bilder anhand der Notizen rekonstruieren, die Arbus – einem Bericht von Le Monde (1985) zufolge – auf der Rückseite der Bilder hinterlassen hat. „Mais les sujets d’Arbus ne sont pas anonymes comme la plupart de ceux de Sander: ils ont un nom et même une identité que la photographe peut s’appliquer à préserver, laissant des photos au dos desquelles il est écrit qu’on ne doit en aucun cas les rendre publiques avant l’an 2014, sorte de pythie qui garderait en réserve de sa notoriété quelques miroirs déformants à tendre encore au monde.“ Hervé Guibert, Diane Arbus. Le Sacre de Miss Catastrophe. In: Le Monde, 06.06.1985.
[29] Hakim Bishara, A Massive Diane Arbus Exhibition Does So Little, in: Hyperallergic, 23.06.2025, online: https://hyperallergic.com/1022003/massive-diane-arbus-park-avenue-armory-exhibition-does-so-little/ [17.11.2025].
[30] Sontag, Amerika im düstern Spiegel, S. 40.
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