Geschichte in Bildern – Barbara Yelins „Irmina“ und Geschichtsschreibung im Comic
Mitunter helfen falsche Aussagen viel besser, das Wesentliche zu verstehen. „Nichts ist verloren – wenn Du es erzählst“, titelt ein Flyer des „Jugendforum denk!mal 2016“;[1] Deutsche Jugendliche sind aufgefordert, Projekte zur Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus zu entwickeln. Ohne hier auf das Vorhaben selbst einzugehen, ist augenfällig, dass diese Behauptung nicht stimmt. Das Leben der ermordeten Jüdinnen und Juden, die Jugend und Gesundheit der Zwangsarbeiter_innen, die von den Deutschen niedergebrannten Dörfer und zerstörten Städte – das alles ist verloren, unabhängig davon, ob Jugendliche heute darüber sprechen oder nicht. Ohne es zu wollen, fasst der Slogan das Paradigma einer Gedenkkultur zusammen, in der nicht das (Ver-)Schweigen, sondern das Reden Gebot der Stunde ist: nicht als Trauer oder Nachdenken über das Verlorene, sondern als Strategie zur Harmonisierung des Jetzt-Zustands.
Das gilt auch für ein in den letzten Jahren populär gewordenes Genre: die Familienerzählung. Man erinnere sich an die Wellen, die noch in den 1990er-Jahren die erste Wehrmachtsausstellung schlug, die es wagte, in aller Öffentlichkeit einen Zusammenhang zwischen den bundesdeutschen Familiengeschichten und dem Nationalsozialismus zu benennen. Es ist nicht so, als hätten die Täter in den Jahren vorher geschwiegen: Im Familienkreis, auf Veteranentreffen und in der Dorfkneipe hatten Geschichten aus dem Krieg – befreit vom Ballast der Schuld und des Verbrechens – immer einen festen Platz. Mit dem Tod der Kriegsgeneration könnte nun doch der Weg frei sein für eine offene Auseinandersetzung mit den Taten der (Ur-/Groß-)Eltern. Nimmt man aber viele aktuelle Beiträge genauer in den Blick, etwa den 2013 ausgestrahlten und hierzulande beinahe durchweg bejubelten Fernsehfilm „Unsere Mütter, unsere Väter“, wird deutlich, dass die Auseinandersetzung oft eher zu einer Verschleierung und Verklärung der Zusammenhänge beiträgt, als dass sie Aufklärung leisten würde.[2]
Die Kluft zwischen den beim Sonntagsessen erzählten Geschichten und den historischen Fakten ist offensichtlich, denn das Mahnen und Erinnern an die Verbrechen, die im Zeichen des Nationalsozialismus begangen wurden, sind heute allgegenwärtig. So stehen, wie Harald Welzer es formuliert, Lexikon und Erinnerungsalbum der Großeltern „gleichsam nebeneinander im Wohnzimmerregal, und die Familienmitglieder haben die gemeinsame Aufgabe, die sich widersprechenden Inhalte beider Bücher in Einklang zu bringen“.[3] Dazu dienen sinnstiftende Geschichten vom angeblichen Widerstand, vom erlebten Leiden[4] oder, wie es der oben genannte Film exerziert, von der Einheit der Beteiligten – Opfern wie Tätern – in einer schicksalhaften Gemeinschaft. Geschichte wird so zum Mythos: in sich geschlossen, befreit von Widersprüchen. Sie gibt Antworten, wo es gälte, Fragen zu stellen, und funktioniert letztlich als Schutzpanzer gegen eine Verunsicherung in der Gegenwart, die sich angesichts des Geschehenen eigentlich einstellen müsste.
Auch der 2014 veröffentlichte Comic „Irmina“, um den es hier gehen soll, entworfen und gezeichnet von der Berliner Comic-Autorin Barbara Yelin, behandelt eine Familiengeschichte im Deutschland der 1930er- und 40er-Jahre.[5] „Irmina“ basiert auf Tagebüchern und Briefen ihrer Großmutter, auf die die Autorin vor einigen Jahren gestoßen ist. Wie nah die Geschichte sich an diesen Aufzeichnungen orientiert, bleibt offen, deutlich wird aber, dass dem Buch ausführliche historische Recherchen zugrunde liegen. Dabei nutzt Yelin, wie ich darlegen möchte, genau jene Potenziale des Comics, die das Medium für die Geschichtsschreibung bereithält. Schon dass eine Frau im Mittelpunkt steht, ist kein unwichtiges Detail, weil auch die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus trotz einiger bemerkenswerter Veröffentlichungen[6] nach wie vor zutiefst androzentristisch geprägt ist. Die Historikerin Wendy Lower schreibt: „Im Bereich der Holocaust and Genocide Studies besteht Konsens darüber, dass die Systeme, die Massenmord möglich machen, ohne die breite Beteiligung der Gesellschaft nicht funktionieren würden. Gleichwohl lassen so gut wie alle Geschichten des Holocaust die Hälfte dieser Bevölkerung außen vor, so als hätte sich die Geschichte der Frauen anderswo abgespielt […].“[7]
Yelins Arbeit ist dabei Teil einer Entwicklung hin zu einer vermehrt historisch fundierten Auseinandersetzung mit Geschichte in Comics, sei es (auto-)biografisch oder fiktiv. Ob es möglich ist, solche „ernsten“ Stoffe in Form von Bildgeschichten zu erzählen, soll hier nicht diskutiert werden. Es gibt inzwischen eine Reihe von Beispielen, mittels derer jeder sich überzeugen lassen kann, dass dies möglich ist.[8] Anhand von „Irmina“ möchte ich im Sinne einer historisch fundierten Bildkunde das Verhältnis von Historizität und Nacherzählung betrachten, wie es im Comic zutage tritt, und herausarbeiten, welche Potenziale, aber auch Probleme dem Medium innewohnen.
Zunächst will ich aber einen groben Überblick darüber geben, in welch unterschiedlichen Spielarten „Geschichte“ in den verschiedenen Genres des Comics eine Rolle spielt und diesen als Gegenstand grade für die Visual History interessant macht.
Geschichte im Comic
Eine historische Dimension besitzen nicht nur solche Comics, die sich explizit einer geschichtlichen Begebenheit annehmen. So sind die Horrorcomics der 1950er-Jahre aus den USA ein gutes Beispiel dafür, wie unscharf die Grenze zwischen trivialen Erzählungen und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und geschichtlichen Themen verläuft. Weitab der Form, in der sich heutige sogenannte Graphic Novels historischen Themen annähern, lassen sich die blutrünstigen Geschichten, die dort regelmäßig zu lesen waren, auch als Gegenbild zu einer Gesellschaft verstehen, die nach den immensen Gewalterfahrungen des Zweiten Weltkriegs versuchte, einfach wieder zur Normalität überzugehen. Auch Comics, deren bewusste Intention nicht die Darstellung eines historischen Stoffes ist, lassen sich in diesem Sinne geschichtswissenschaftlich lesen.[9]
Daneben kommt im oft selbstreferenziellen Bilduniversum des Comics historischen Symbolen eine große Bedeutung zu, die im kollektiven Gedächtnis starke Assoziationen hervorrufen. Mike Mignola, Schöpfer der Serie „Hellboy “ zum Beispiel, scheut nicht davor zurück, untote Nazis in einen Pakt mit okkulten Kräften und Dämonen treten zu lassen – sie alle streben schließlich der Zerstörung der Welt entgegen und sind letztlich die symbolisierte Verkörperung des Bösen schlechthin. Geschichte wird dabei in ein popkulturelles Zeichensystem überführt, das nicht nur für Comics essenziell ist. Dies pauschal als Trivialisierung oder Verharmlosung zu brandmarken, wäre m.E. ein Fehlschluss, soll hier aber nicht weiter verhandelt werden.
Als weiteres großes Genre lassen sich Abenteuer- oder Kriminalgeschichten ausmachen, die historische Orte als Kulisse nutzen. Das Setting ist dabei vor allem die Fassade, vor deren Hintergrund sich die Erzählung vollzieht. Hal Fosters „Prinz Eisenherz“ ist ein früher Vertreter dieses Genres und gleichzeitig die erste Comicserie, in der die historische Dimension eine tragende Rolle spielt.[10] Auch solche Werke lassen sich, wie alle Texte, mit Erkenntnisgewinn lesen. Denn auch Comics sind die historischen, sozioökonomischen und politischen Bedingungen eingeschrieben, unter denen sie entstehen. So sagen die Abenteuergeschichten des tapferen Prinzen weit mehr über das Verhältnis seines Schöpfers Hal Foster zu Macht und Herrschaft zu seinen Lebzeiten aus als über die Verhältnisse im 5. Jahrhundert.[11]
Form und Inhalt sind selbstverständlich nie unberührt von dem Ort, der einer Kunstform in der Gesellschaft zugesprochen wird. Heute, da Comics zumindest als „Graphic Novels“ einen Platz in den Feuilletons und im Schulunterricht gefunden haben, entsteht folglich auch ein Raum für andere Themen und Erzählformen, als es in den 1950er-Jahren der Fall war – nicht zuletzt, weil es eine größere Nachfrage nach anderen, „erwachseneren“ Stoffen gibt.[12]
Auf dieser Grundlage konnte sich in den letzten Jahren ein Genre etablieren, das sich bewusst mit historischen Themen auseinandersetzt und versucht, diese mit den Mitteln des Comics darzustellen. Hier sind es vor allem biografische und autobiografische Stoffe, die sich gut verkaufen: angefangen von den Lebenswegen großer (Pablo Picasso, Tina Modotti, Che Guevara) oder vergessener Persönlichkeiten (Hertzko Haft, Matthew Henson) bis hin zu gerade in letzter Zeit populär gewordenen (auto-)biografischen Erzählungen (als vermutlich bekanntestes Beispiel Art Spiegelmans „Maus“). Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus[13] nimmt dabei – zumindest hierzulande – nach wie vor einen herausragenden Platz ein. Die thematische Bandbreite ist heute aber schier unüberschaubar und reicht von der Französischen Revolution über den Ersten Weltkrieg bis hin zur Geschichte der DDR, des Kolonialismus oder der Ukraine im Zeichen des Stalinismus.
Was und wie erzählen Comics?
Die Frage, inwiefern Comics historisches Geschehen reflektieren können, berührt einen grundsätzlichen Punkt in der Geschichtswissenschaft: die Frage nach dem Verhältnis von objektiven Fakten und Poesie, methodologisch abgesicherter Erkenntnis und ästhetischer Verarbeitung. Dabei ist es wichtig festzustellen, dass Geschichtsschreibung, geht sie über eine bloße Faktensammlung hinaus, immer eine Verdichtung der Vergangenheit zu einer Erzählung voraussetzt. Beschreibungen dessen, „was war“, verfahren zwangsweise selektiv, sind Interpretationen, in denen sich nicht zuletzt heutige Weltanschauungen, Interessen und Wahrnehmungen widerspiegeln.
Man spricht heute von Narrativität und meint damit die Art und Weise, einen Gegenstand zu einem bestimmten Inhalt zu formen. Dieser notwendigen „Überformung“ Rechnung zu tragen, heißt nicht, einer Beliebigkeit der Interpretation das Wort zu reden, sondern ein Bewusstsein hinsichtlich der Bedingungen von Aussagen zu entwickeln. Georg Seeßlen formuliert es so: „Geschichtsschreibung ist nur als permanente Bearbeitung der eigenen Widersprüche denkbar, nicht als Annäherungsprozess an eine ‚objektive‘ Wahrheit, sondern als ständige selbstkritische Neuformulierung eines Sinnsystems.“[14] Historische Erzählungen sollten also immer darum bemüht sein, sich selbst auf die eigenen Grundlagen zu befragen bzw. diese Fragen zuzulassen.
Im Gegensatz zu schriftlichen Abhandlungen besitzt der Comic dabei eine weitere Ebene der Narration, nämlich die der Bilder. Scheint ein Text vergleichsweise zielgerichtete Aussagen zu produzieren, gilt für das Bild im Comic – wie Siegfried Kracauer hinsichtlich der Fotografie feststellt –, dass es stets von einem „Saum undeutlicher und vielfältiger Bedeutungen umgeben“ ist.[15] Relevant kann dabei nicht nur das sein, was gezeigt wird, sondern auch wie: in der Perspektive, Farbgebung oder Anordnung und Größe der Panels. Ein Bild, sei es nun eine historische Aufnahme oder das einzelne Panel eines Comics, stellt immer nur einen Ausschnitt des Geschehens dar. Im Falle einer einzelnen Fotografie ist es dann die Aufgabe der Historiker_in, es in das Wissen um die Situation der Aufnahme und den geschichtlichen Kontext einzuordnen.
Auch im Comic erzählt kein Bild für sich allein die Geschichte. Im einzelnen Panel sind zwar Möglichkeiten angelegt, und es wird gegebenenfalls durch den Text erläutert, bleibt aber „unvollständig“. Erst in der Bildfolge werden die einzelnen Elemente bedeutsam, das erste Bild wird erst durch das folgende verständlich. Diese Ungewissheit beim Betrachten ist es auch, die Spannung beim Lesen erzeugt. Gleichzeitig stehen damit, wie Fritz Breithaupt bemerkt, Bilder in Comics unter dem Zeichen von „Wandelbarkeit und Nicht-Identität“,[16] weil alle Indizien später bedeutsam werden, also über ihr Erscheinen hinausweisen können.
Der Comic ist stets darauf angewiesen, auf bildliche Verdichtungen zurückzugreifen, auf Symbole und visuelle Metaphern einer der Allgemeinheit zugänglichen Bildsprache. Ohne Frage kann das auf eine Reproduktion von Klischees hinauslaufen; geschickt eingesetzt, lassen Comics aber auch Raum zur Reflexion auf die Bildwelten, in denen wir uns bewegen und nicht zuletzt Geschichte wahrnehmen. Art Spiegelman lieferte mit „Maus“ ein in diesem Zusammenhang gern zitiertes Beispiel. So tragen die jüdischen Protagonist_innen Masken in Form von Mäuseköpfen, eine Referenz auf die letztendlich real gewordene Bildpropaganda der Nazis. Denn Jüdinnen und Juden wurden nicht nur als „Schädlinge“ dargestellt, sondern ebenso entmenschlicht und als solche behandelt. Die Stärke des Comics liegt hier grade in der Absage an den Versuch einer visuell möglichst authentischen Darstellung der Vergangenheit. Im Gegenteil ist es gerade die Verfremdung, die den Blick für eine Reflexion auf die eigene Erzählung und den Umgang mit gesellschaftlich wirkmächtigen Bildern eröffnet.
Sofern sie nicht einfach geschriebenen Text illustrieren, vollziehen Comics ihre Handlung dabei zwangsweise auf der Makroebene von Geschichte. Anschaulich wird die Vergangenheit als Geschichte von Menschen, ihren Motivationen, Affekten, handlungsleitenden Emotionen etc. Das birgt einerseits die Gefahr, dass sich Leser_innen allzu leicht mit den auftretenden Charakteren identifizieren, was die Möglichkeit und gleichzeitig Gefahr in sich trägt, dass die historische Erzählung in Beliebigkeit umschlägt. Zum anderen aber, „Irmina“ ist dafür ein herausragendes Beispiel, kann gerade die Auseinandersetzung mit handelnden Akteur_innen illustrieren, dass es keine automatische Notwendigkeit des Geworden-Seins der Gegenwart gibt, wie es die „großen Erzählungen“ bürgerlicher wie auch realsozialistischer Entwicklungsmodelle behaupten. In diesem Sinne wohnt dem Comic auch das Potenzial inne, jener Harmonisierung von Geschichte entgegenzuwirken, wie sie weiter oben problematisiert wurde. Exemplarisch lässt sich dies an Barbara Yelins Werk sehr gut nachvollziehen.
Irmina
Es ist das Jahr 1942, Irminas Freundin Gerda ist zu Besuch, ihr Mann Gregor an der Front. Die Freundin erzählt schockiert davon, dass sie miterlebt habe, wie ein jüdischer Junge durch einen SS-Mann totgeprügelt worden sei. Irmina entgegnet nichts, versucht ein Glas Marmelade – das letzte – vom Schrank zu fischen. Als Gerda von den Deportationen nach Osten berichtet, entgleitet ihr das Glas und zerspringt. Der leuchtend rote Inhalt verteilt sich auf dem Boden und zerfließt im ansonsten vorherrschenden Grau des Zimmers. Irmina kommentiert: „So ein Unglück!“ Das Gespräch ist beendet.
Es ist einer der Momente, in denen man von Abscheu ergriffen ist. Gegen ihre Person, die fehlende Empathie und ihre Borniertheit. Möchte man die Szene metaphorisch und das Missgeschick psychoanalytisch nicht als Zufall verstehen, steht das Geschehen für ein wiederkehrendes Motiv in „Irmina“. Man erkennt das Bild eines Menschen und einer Gesellschaft, die sich vermeintlich auf sich selbst konzentriert, dabei aber eher ihre eigene Hoffnung auf Glück zu zerschlagen bereit ist, als den Mut aufzubringen, sich mit der Grausamkeit und dem Unrecht zu konfrontieren, das ihnen begegnet. Der Zorn, den man der Protagonistin gegenüber verspürt, rührt dabei auch aus dem Wissen, dass sie einmal ganz anders war. Als die junge Irmina von Behdinger 1934 für einen Sprachkurs nach London reist, wirkt sie aufgeschlossen und interessiert. Sie gehört zur ersten Generation von Frauen aus Deutschland, die in einer gesellschaftlichen Atmosphäre aufwuchsen, die ihnen die Möglichkeit auf persönliche Erfüllung abseits von Familie und Haushalt versprach, dieses Versprechen – und auch das wird in der Geschichte deutlich – aber nie einlösen konnte. Irmina möchte Karriere machen und, so erfährt man, träumte schon als Kind davon, einmal „Captain“ zu werden. Auf einer Party trifft sie Howard, der aus Barbados stammt und dank seiner guten Leistungen ein Stipendium in Oxford ergattern konnte. Die Liebesbeziehung, die sich zwischen den beiden entwickelt – einer weißen Frau und einem schwarzen Mann –, ist auch im England der 1930er-Jahre keine Normalität, und so ist der Rassismus, der Howard von Fremden und Bekannten entgegenschlägt, ein ständiger Begleiter. Gewissermaßen haben hier zwei Außenseiter zusammengefunden. Sie, als moderne Frau, Ausländerin zumal, beständig mit der vorherrschenden Geschlechterordnung konfrontiert – er, trotz seiner Bildung, seiner Klugheit und seines Fleißes, aufgrund von Hautfarbe und Herkunft niemals voll akzeptiert.
Die Autorin macht aber klar, dass diese Gemeinsamkeit ihre Grenzen findet, steht Irmina doch trotz allem ein Platz in der von den Nazis propagierten „Volksgemeinschaft“ offen – und das lässt sie Howard auch spüren, wenn sie ihm in einem Moment großen Ärgers seinen Erfolg vorwirft und die Hässlichkeit rassistischen Sozialneids aus ihr herausbricht. Überhaupt bleibt Irmina trotz aller Sympathien, die man für sie aufbaut, in sich widersprüchlich, was eine große Stärke der Geschichte ist. Sie ist gewillt, ihren Weg zu gehen, begreift sich, wie viele Frauen (und Männer) dieser Generation, als „unpolitisch“. Auf die Geschehnisse in Deutschland angesprochen, reagiert sie defensiv, unfähig, aber auch unwillig, sich dazu zu verhalten: „Ich bin ich, das muss reichen.“ Und dennoch hält sie lange an der Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens fest und ist zunächst sogar bereit, ihr Glück zu verteidigen, etwa wenn sie bei einem Kinobesuch Howard gegen rassistische Anfeindungen in Schutz zu nehmen versucht.
Die Beziehung der beiden beginnt zu zerbrechen, als Irmina nach Deutschland zurückkehren muss. Noch schreiben sie sich Briefe, deren Inhalt man im unteren Teil der Panels lesen kann, während Irmina den Alltag in Deutschland erlebt, der immer mehr von der faschistischen Propaganda durchdrungen ist. Doch der Kontakt reißt ab, ihr Traum von der Rückkehr nach London löst sich auf. Sie bleibt zurück. Unglück und Hoffnungslosigkeit stehen ihr von nun an buchstäblich ins Gesicht geschrieben.
Im Folgenden heiratet sie Gregor Meinrich, einen SS-Mann und Architekten. Unentwegt propagiert dieser die Ernsthaftigkeit und Strenge der Architektur der neuen Welt (und seiner Gemahlin). Der Mann tritt auf, weniger als Person – von sich selbst redet er praktisch nur durch die Chiffre „Deutschland“ –, denn als Platzhalter für das Kollektiv, von dem ein Teil zu werden er Irmina anbietet. Die Liaison mit Gregor ist ein Bruch in der Geschichte, inhaltlich und zeichnerisch, wenn auch einer, der sich schon lange vorher angebahnt hat. Gemeinsam besichtigen sie das Olympiastadion, das riesige graue Bauwerk scheint die beiden winzigen Figuren beinahe zu verschlucken. Zitierte Howard noch Shakespeare, spult Gregor politische Traktate ab. Nicht die im Übrigen unglaublich eindrucksvoll gezeichnete Mimik und Gesichter der Protagonist_innen sind es, die hier bildlich im Vordergrund stehen, vielmehr wirken die beiden wie Fremde in einer übermächtigen Umgebung.
Der Raum der Möglichkeiten schließt sich mehr und mehr, und auch der Platz zwischen den einzelnen Panels wird immer kleiner, die dargestellte Stimmung erscheint klaustrophobisch.
Politisch bleibt Irmina distanziert, lehnt es ab, in die Frauenschaft einzutreten, möchte lieber wieder arbeiten – und bekommt stattdessen dann doch ein Kind. Erfüllung findet sie auch in der nationalsozialistischen Gesellschaftsordnung nicht, hängt aber an deren Versprechen. Vom Fenster aus beobachtet sie schließlich, wie im November 1938 das jüdische Geschäft auf der anderen Straßenseite zerstört, der Besitzer abtransportiert wird. Ihr Blick wirkt betroffen, schließlich scheint es aber doch mehr ihre Einsamkeit zu sein, die ihr zusetzt, denn Gregor ist selbstverständlich mit den anderen unterwegs. Auch am nächsten Tag, als Jüdinnen und Juden auf die Straße gezerrt werden und die Synagogen brennen, bleibt sie dem Geschehen gegenüber distanziert und verlässt das Szenario schließlich, um sich ihren Einkäufen zuzuwenden: nicht wie gewohnt im „jüdischen“ Kaufhaus „Frank“, sondern bei Hertie. Die folgenden Ereignisse bringen Gregor an die Front, wo er schließlich umkommen wird, während sie sich um ihren Sohn kümmert und mehr und mehr die Härte und die Parolen annimmt, die der nun abwesende Gatte stets vertreten hat. Schließlich ist sie es dann, die ihrem Sohn auf die Frage, was Juden seien, im Jargon des NS antwortet: „Juden sind unser Unglück.“
Die Bilderwelt des Comics ist dabei zum einen gekennzeichnet von einer Nahperspektive auf das historische Szenario. Die Handlungsorte sind, wenn auch verfremdet durch den skizzenhaften Zeichenstil, detailliert nachempfunden und atmosphärisch dicht. Yelin greift aber auch auf jene ikonografischen Vorlagen zurück, durch die der Blick auf den Nationalsozialismus geprägt ist: die „Kauft nicht bei Juden“-Schilder, die brennende Synagoge und die gaffende Menge oder die Scherben der eingeschlagenen Fensterscheiben zur Reichspogromnacht. Allzu oft scheint sich diese Welt an Irmina vorbeizubewegen, mehr als dass sie sich selbst in ihr bewegt. Durch das Spiel mit den zwei Ebenen, dem historischen Szenario und jener der handelnden Charaktere, wird aber klar, dass Irmina dabei nicht nur Getriebene der Verhältnisse ist, sondern ihre eigenen Entscheidungen trifft. Damit nutzt „Irmina“ das Potenzial von Comics für historische Darstellungen, Geschichte auf mehreren Ebenen erzählen zu können.
Das Buch lässt sich so auch verstehen: als eine Reflexion auf das Problem von Handlungsmöglichkeiten und Ohnmacht im Angesicht historischer Prozesse.[17] So muss sie sich in einer Welt zurechtfinden, in der sie als Frau noch immer weniger wert ist als die Männer – im Gegensatz zu ihren Brüdern durfte sie nie studieren –, die von Rassismus geprägt ist und nicht zuletzt von materiellen Nöten. Und dennoch, sie hätte sich anders entscheiden und nicht zuletzt aus ihren Erfahrungen mit Howard andere Schlüsse ziehen können.
Dieses Nachdenken über die Widersprüchlichkeit historischer Situationen und die Brüchigkeit von Erfahrungen kann helfen, den Blick um eine andere Ebene zu erweitern. Der Nationalsozialismus war nicht alternativlos, wie es auch kein anderes Gesellschaftssystem ist, sondern Ergebnis von handelnden Menschen. Insofern ist „Irmina“ tatsächlich aufklärerisch, und in der Traurigkeit ihres Scheiterns liegt auch eine Trauer um etwas Größeres – was aufscheint, ist der Abstand zwischen dem, was ist, und dem, was möglich gewesen wäre. Entlang dieser Kluft bewegt sich dann schließlich auch das letzte und kürzeste Kapitel. Auf Einladung Howards, inzwischen „Governor General“ von Barbados, reist Irmina – sie selbst arbeitet seit 1947 als Sekretärin an einer Schule in Stuttgart (wohin sie niemals zurückwollte) – doch noch auf die ferne Insel. Nur liegt in diesem Wiedersehen kaum etwas Versöhnliches. Howard und seine Familie begrüßen sie als die „mutige Irmina“, die sie, wie die Leser_in weiß, viel zu selten war. Und so reagiert sie auch hier, als Howards Tochter sie im Gespräch mit der deutschen Geschichte konfrontiert, letztendlich hilflos. Gleichzeitig tut Irmina aber etwas, was ein großer Teil der Kriegsgeneration vermutlich niemals zugelassen hat: Sie schämt sich ihrer selbst, angesichts einer Vergangenheit, die eben nicht wiedergutzumachen ist.
Was die Erzählung auszeichnet, ist – und das führt zur eingangs erwähnten These zurück – die schmerzliche Einsicht darin, dass mit dem Nationalsozialismus etwas unwiederbringlich verloren gegangen ist. Genau dies gälte es stark zu machen, entgegen den Tendenzen hin zu Musealisierung und Harmonisierung der deutschen Geschichte, wie sie sich heute nicht zuletzt in zahlreichen Beiträgen aus dem Genre der Familienerzählung zeigt. Comics können einen Beitrag dazu leisten, vielleicht schon, weil sie als nach wie vor unkonventionelle Form des Erzählens zum Nachdenken über die Form anregen, wie Geschichte geschrieben und vermittelt werden kann.
Barbara Yelin, Irmina. Reprodukt-Verlag, Berlin 2014, 288 S., 39 Euro
Leseempfehlungen
– Chloé Cruchaudet, Das falsche Geschlecht, Berlin 2014
– Ángel De la Calle, Modotti. Eine Frau des 20. Jahrhunderts, Berlin 2011
– Michel Dufranne/ Milorad Vicanovic/ Christian Lerolle, Rosa Winkel, Berlin 2012
– Will Eisner, Das Komplott: Die wahre Geschichte der Protokolle der Weisen von Zion, München 2005
– Rutu Modan, Das Erbe, Hamburg 2013
– Jaroslav Rudis/Jaromir 99, Alois Nebel, Dresden/Leipzig 2012
– Art Spiegelman, Die vollständige Maus, Frankfurt a.M. 2008
– Florent Silloray, Auf den Spuren Rogers, Berlin 2013
– Jacques Tardi, Ich René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB, Zürich 2013
[1] http://denkmal-berlin.de/2016/.
[2] Siehe dazu: Johannes Spohr, Unsere Täterinnen, unsere Täter, http://www.rosalux.de/news/39370/unsere-taeterinnen-unsere-taeter.html.
[3] Harald Welzer/Sabine Moller/Karolina Tschuggnall, „Opa war kein Nazi“: Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt a.M. 2002, S. 10.
[4] So berichten in Welzers vielzitierter Studie zwei Drittel der Befragten davon, dass ihre Angehörigen wahlweise Opfer der Nazis gewesen seien oder (im Alltag) Widerstand geleistet hätten.
[5] Wenn ich im Folgenden von „Comics“ und nicht von „Graphic Novels“ schreibe, dann vor allem deshalb, weil die Trennlinie ohnehin unscharf ist und allzu oft die „Graphic Novel“, wie es der Comiczeichner Alan Moore einmal formuliert hat, „einfach die Bedeutung ‚teurer Comic‘ angenommen“ habe, letztendlich also vor allem Marketingstrategie ist.
[6] Vgl. u.a. Kathrin Kompisch, Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus, Köln 2008; Leonie Treber, Mythos Trümmerfrauen. Von der Trümmerbeseitigung in der Kriegs- und Nachkriegszeit und der Entstehung eines deutschen Erinnerungsortes, Essen 2014; Sybille Steinbacher (Hrsg.), Volksgenossinnen. Frauen in der NS-Volksgemeinschaft, Göttingen 2007.
[7] Wendy Lower, Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust, München 2014, S. 28.
[8] Eine (natürlich höchst subjektiv gefärbte) Liste von Leseempfehlungen findet sich am Ende des Artikels.
[9] Eine ausführliche Kategorisierung historischer Comics findet sich bei: Gerald Munier, Geschichte im Comic. Aufklärung durch Fiktion? Über Möglichkeiten und Grenzen des historisierenden Autorencomics der Gegenwart, Hannover 2000.
[10] Der erste Strip erschien 1937 in verschiedenen amerikanischen Sonntagszeitungen. Seither sind zahlreiche Reprints und Sammelbände der bis heute fortlaufenden Serie erschienen, in Deutschland zuletzt als sehr gelungene restaurierte Farbversion beim Bocola Verlag: Prinz Eisenherz. Hal Foster-Gesamtausgabe, Band 1-18, Bonn 2006ff.
[11] Als plakatives Beispiel mag hier auch Rolf Kauka („Fix und Foxi“) herhalten, der im Deutschland der frühen 1960er-Jahre die Rechte an „Asterix“ erwarb und aus den Galliern Germanen, aus den Römern amerikanische Besatzer machte.
[12] Zweifelsohne haben Feuilleton und Wissenschaft heute ihre Liebe zur grafischen Erzählung entdeckt. Weit weniger gerne beschäftigt man sich allerdings mit den miserablen Bedingungen, unter denen jene, die sie produzieren, hierzulande in der Regel nach wie vor leben und arbeiten müssen.
[13] Prägend hier und für das Historiencomic überhaupt die Kurzgeschichte „Master Race“, erschienen 1955 im Comic-Magazin „Impact“. Nachzulesen unter https://cacb.wordpress.com/2008/12/03/ec-comics-master-race/.
[14] Georg Seeßlen, Gerahmter Raum, gezeichnete Zeit, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comics, Berlin 2002, S. 71-89, hier S. 72.
[15] Siegfried Kracauer, Theorie des Films, in: ders., Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1964, S. 47.
[16] Fritz Breithaupt, Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hrsg.), Ästhetik des Comics, Berlin 2002, S. 37-49, hier S. 41.
[17] Mit Karl Marx gesagt: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“ Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Friedrich Engels/Karl Marx, Werke Bd. 8, Berlin 1960, S. 111-207 [1. Auflage 1852], S. 115.
Zitation
Mathis Eckelmann, Geschichte in Bildern. Barbara Yelins „Irmina“ und Geschichtsschreibung im Comic, in: Visual History, 16.02.2016, https://www.visual-history.de/2016/02/16/geschichte-in-bildern-barbara-yelins-irmina-und-geschichtsschreibung-im-comic/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1578
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