„Gastarbeiter“ im eigenen Land
Péter Korniss‘ Fotoreportage über Arbeitsmigration im sozialistischen Ungarn der 1970er- und 1980er-Jahre
Eine Grundfrage der von Péter Korniss erstellten fotografischen Arbeiten war stets die nach den Möglichkeiten der transgenerationalen Weitervermittlung von Werten innerhalb einer Gemeinschaft. Geht die „alte Welt“, gehen die ländlichen Traditionen in unserer modernen Zeit unwiederbringlich verloren? Werden die Bräuche vom Neuen überlagert? Oder gibt es Spuren des Vergangenen, die erfolgreich mit in die Zukunft übernommen werden können? Bei der Beschäftigung mit Korniss‘ fotografischem Werk fällt auf, dass er im Zuge seiner Arbeit eine Bindung, teilweise sogar Freundschaften, zu den fotografierten Menschen aufbaute und dass er sie über längere Zeiträume hinweg begleitete.
Die ersten Bilder der hier vorgestellten Fotoreihe hat der Fotograf Ende der 1970er-Jahre aufgenommen. Das Konzept des Projekts entwickelte sich im Laufe der Arbeit, wobei zu Beginn keineswegs klar war, ob und in welcher Form das Ergebnis später präsentiert werden würde. „Der Gastarbeiter“ entstand im eigenen Auftrag.
Der Titel „A vendégmunkás“ („Der Gastarbeiter“) stammt von Korniss selbst und wurde für die große Schau in der Budapester Kunsthalle 1988 und das im gleichen Jahr veröffentlichte Buch ebenfalls verwendet. Der Fotograf wählte diesen Titel, der nicht zuletzt auf die Entwicklungen in Westeuropa seit den 1960er-Jahren verwies, bewusst aus. Mit diesem Begriff wollte er darauf hindeuten, dass in Ungarn zwischen den Arbeitsmigranten sowie der Bevölkerung am Arbeitsort enorme kulturelle Unterschiede, große Differenzen in der Sozialisation sowie in der Bildung bestehen, obwohl in diesem Fall keine einzige Staatsgrenze überquert werden musste.
Das Phänomen des „schwarzen Zuges“ (fekete vonat) bot und bietet auch noch heute einen zentralen Referenzpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Staatssozialismus, mit der Gesellschaft und der Arbeitswelt in den 1970er- und 1980er-Jahren. Bei den sogenannten schwarzen Zügen handelt es sich um die visuelle Verdichtung eines Phänomens der Arbeitsmigration in Ungarn: Pendler, meist Männer, nutzten diese Sonderzüge der Ungarischen Staatseisenbahn, um die Strecke zwischen ihren Wohnorten in kleineren Dörfern und ihren Arbeitsplätzen, die sich in den Fabriken der größeren Industriestandorte befanden, zurückzulegen. Viele waren unter der Woche in Arbeiterwohnheimen untergebracht und besuchten die Daheimgebliebenen im Dorf nur am Wochenende. Die Fahrzeit konnte pro Strecke zwischen fünf und zehn Stunden betragen.
Seit den 1950er- und 1960er-Jahren verließen immer mehr Menschen die Landwirtschaft, um als ungelernte Aushilfskräfte in der Industrie Geld zu verdienen. Sie fanden in verschiedenen Unternehmen eine Beschäftigung, wobei den meisten Bedarf an Arbeitskräften das Baugewerbe, der Bergbau und die Textilindustrie zu verzeichnen hatten.1970 waren 320.000, 1980 immerhin noch 270.000 Menschen (meist Männer) als „Wanderarbeiter“ beschäftigt. Bis ca. Anfang der 1980er-Jahre wuchsen die Zahlen stetig. Die Pendler waren schlechter qualifiziert als die ortsansässigen Arbeitnehmer, zudem verrichteten sie häufig schwere körperliche Arbeit.[1]
Weshalb wurden aber die Pendlerzüge als „schwarzer Zug“ bezeichnet? „First of all because of the dreadful conditions on them, and secondly because a good deal of the passengers were gypsies. At the beginning of the seventies film director Pál Schiffer made a memorable documentary about the black trains. There was even a pop song on the subject which went, ‚Dear, oh dear, the black train / took away my love again …‘“[2] – so Korniss über die Entstehung des Namens.
Mit der nach 1945 in immer größeren Zahlen auftretenden, gesellschaftlich relevanten Figur des „Wanderarbeiters“ (vándormunkás) setzten sich die Zeitgenossen – Parteifunktionäre, Soziologen, Filmemacher usw. – seit den 1960er-Jahren aus unterschiedlichen Blickwinkeln auseinander. Korniss wählte die fotografische Perspektive, wobei er für seine Fotoreihe 1985 international Anerkennung erntete. Seine Bilder wurden mit dem World Press Photo Award in der Kategorie Daily Life Stories ausgezeichnet.
Korniss‘ Arbeitsweise der allmählichen Annäherung zeigt sich auch in der Reportage über den „Gastarbeiter“ András Skarbit. Zu Beginn des Fotoprojekts entstanden allgemeine Aufnahmen von den „schwarzen Zügen“ sowie den Arbeiterwohnheimen.
Erst allmählich schärfte sich der Fokus: Im Mittelpunkt stand nun eine Gruppe von sechs Männern aus Tiszaeszlár, eine Hilfsarbeiter-Brigade, die ihr Brot mit körperlicher Arbeit bei den Budapester Gaswerken verdiente. Schließlich konzentrierte sich die Reportage auf die Geschichte eines Mannes.[3] Die Unterschiede zwischen den zwei Leben von András Skarbit in der Hauptstadt auf der einen (Arbeit, Wochentage, Wohnheim, die Straßen von Budapest, Baustellen) und Tiszaeszlár auf der anderen Seite (Familie, Wochenenden und Feiertage, Haus und Garten, die dörfliche Gemeinschaft) wurden mit jedem neuen Bild deutlicher. Skarbit erlaubte es dem Fotografen, die Abendessen im Arbeiterwohnheim, die tägliche Arbeit unterhalb der Erdoberfläche, aber auch die Zugfahrten oder die kleinen Erfolge der Gartenarbeit abzulichten.
Das Projekt zielte – laut Korniss – nicht darauf ab, Missstände aufzudecken oder die Unzulänglichkeiten des sozialistischen Systems zu entlarven. Korniss‘ Motivation war sein Interesse am Menschen. Er wollte mehr über das Leben des Pendlers erfahren. Auf die Frage hin, ob es Tabuthemen in der Kádár-Zeit[4] gab, antwortete Péter Korniss in einem Interview Anfang 2013: „Solche Themen gab es für mich nicht, denn wenn ich dieses Projekt über den Gastarbeiter realisieren konnte … Da war doch alles Mögliche drin: die schwarzen Züge und auch die Arbeiterwohnheime!“[5]
Ein Charakteristikum des Mediums Fotografie ist seine Uneindeutigkeit. Korniss’ Bilder können allein für das stehen, was sie zeigen: das Leben eines ungarischen Arbeitsmigranten mit all seinen Facetten. Sie können aber auch als Ankerpunkt für weiterführende Fragen betrachtet werden: Was ist der Grund für die Arbeitsmigration? Warum finden die Männer keine Arbeit in ihrer Heimatregion? Was bedeutet ihr unstetes Leben für das Familiengefüge und die Gemeinschaften daheim? Welche historischen und gesellschaftlichen Veränderungen beschleunigen den Zerfall der dörflichen Gemeinschaften und die Entwurzelung in Ungarn?
Ob die Fotos mit einem explizit politischen oder unpolitischen Vorzeichen erstellt wurden, ist insofern unerheblich, als sie in jedem Fall auf die gesellschaftlichen Umwälzungen verweisen. Sie stellen die Folgen des forcierten Ausbaus der Schwerindustrie während des Sozialismus, die Auflösung der traditionellen bäuerlichen Welt und die Veränderung von Gemeinschaften gut sichtbar ins Rampenlicht.
Auch nach den politischen Veränderungen 1989/1990 kann die Fotoreportage von Korniss auf verschiedene Arten gedeutet werden. Der Fotograf berichtete in dem Gespräch Anfang 2013 darüber, wie er vor wenigen Jahren zwei identisch strukturierte Präsentationen mit den Motiven aus „Der Gastarbeiter“ hielt, aber die Reaktionen des Publikums vollkommen unterschiedlich ausfielen. Bei dem einen Vortrag betonte jemand aus dem Publikum, dass diese Bilder die dunklen Seiten des Sozialismus zeigen würden – die schlechten Arbeitsbedingungen und die Vereinzelung –, weshalb die Erstellung der Reihe als eine oppositionelle Handlung zu deuten sei. Im Anschluss an den anderen Vortrag interpretierte dagegen jemand die Aufnahmen ganz eindeutig als einen Hinweis dafür, dass während der Ära Kádár für die meisten Menschen die Möglichkeit bestand, eine Arbeitsstelle zu finden und solides Geld zu verdienen. Schließlich hätte András Skarbit mit dem Pendeln ein Haus für seine Familie finanziert.
Korniss‘ „Der Gastarbeiter“ ist eine der bedeutendsten ungarischen Fotoserien aus der Zeit des Sozialismus. Für die Deutung der Aufnahmen sollte der zeitgenössische kulturelle und wissenschaftliche Kontext mit bedacht werden. Der von Korniss erwähnte Dokumentarfilm von Pál Schiffer (1939-2001), die soziologischen Untersuchungen von István Kemény (1925-2008), Keménys Auseinandersetzung mit Armut und Ungleichheit, weisen auf weitere zeitgenössische Reflexionen über die Arbeitsmigration hin. Sowohl der 1970 gedrehte Schiffer-Film als auch die in der ersten Hälfte der 1970er-Jahre generierten Forschungsergebnisse von Kemény waren sehr explizit in der Thematisierung von Problemen, die in Verbindung mit der Arbeitsmigration auftraten.[6] Ein kurzer Blick (siehe die Minuten 20 bis 23) auf die Lebensumstände der im Schiffer-Film porträtierten Arbeiter und ihrer Familien zeigt, dass die Darstellung des „Wanderarbeiters“ unmöglich allein mit den Korniss’schen Fotografien abzudecken war. Korniss zeigt weder die Schnapsleichen noch das Erbrochene im Zug, er richtet seine Kamera nicht auf beengte Wohnverhältnisse in undichten Häuschen oder auf verwahrloste Kinder.
Allerdings war die Rezeption der Arbeitsergebnisse von Schiffer und Kemény stark eingeschränkt, während Korniss‘ Bilder 1988 in der Kunsthalle in Budapest gezeigt wurden und dadurch einem breiten Publikum zugänglich waren. Mehr Sichtbarkeit für das Thema war im (noch) sozialistischen Ungarn kaum möglich.
[1] Vgl. Tibor Valuch, Magyarország társadalomtörténete a XX. század második felében [Die Sozialgeschichte Ungarns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts], Budapest 2005, S. 224-229 und Eszter Zsófia Tóth, A fekete vonat, Cséplő Gyuri, A pártfogolt. Ingázók a dokumentumfilmekben [Der schwarze Zug, Gyuri Cséplő und Der Schutzbefohlene. Wanderarbeiter in den Dokumentarfilmen], in: Eszmélet (2008), H. 77, S. 1-5.
[2] Péter Korniss, Attachment. 1967-2008, Budapest 2008, S. 275.
[3] Korniss beschreibt den langen Prozess der allmählichen Schärfung seines Blicks für die Geschichte seiner Hauptfigur wie folgt: „After two years I came to realize that from among the increasing number of pictures, those of András Skarbit stood out. He was relaxed and natural while I photographed him – and though he wasn’t a great talker, he opened up to me through the camera.“ Péter Korniss, Attachment. 1967-2008, Budapest 2008, S. 114.
[4] Gemeint sind die Jahre zwischen 1957 und 1989, in denen der kommunistische Politiker János Kádár das Land prägte.
[5] Interview der Autorin mit Péter Korniss am 4. Januar 2013 in Budapest.
[6] Unter anderem: die unzureichende Qualifizierung der sogenannten Wanderarbeiter, niedrigere Löhne für die ausgeübten Tätigkeiten, eine geringere Anerkennung sowie Vorurteile der Stammbelegschaft am Arbeitsplatz, familiäre Probleme wegen des Pendelns, Armut, Alkoholmissbrauch.
„Der Gastarbeiter“ 1978-1988
Zitation
Eszter Kiss, „Gastarbeiter“ im eigenen Land. Péter Korniss‘ Fotoreportage über Arbeitsmigration im sozialistischen Ungarn der 1970er- und 1980er-Jahre, in: Visual History, 12.06.2014, https://www.visual-history.de/2014/06/12/gastarbeiter-im-eigenen-land/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1283
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