Rezension: Sarah Dellmann, Images of Dutchness
Popular Visual Culture, Early Cinema and the Emergence of a National Cliché, 1800-1914
Das Titelbild, ein Standfoto aus dem Film Mooi Holland von 1915, zeigt eine junge Frau in Tracht mit der weißen Haube, die bei Leser*innen in Deutschland wahrscheinlich Assoziationen an die Werbefigur Frau Antje und deren Karikatur wachrufen. Auf welchen historischen Grundlagen solche Klischees basieren, hat Sarah Dellmann auf der Basis von (Bewegt-)Bildern aus dem langen 19. Jahrhundert untersucht.
Dafür hat sie mehr als 3000 Bilder verteilt über elf Formen visueller Medien gesichtet – illustrierte Zeitschriften, touristische Reiseführer, Werbematerial für potenzielle Tourist*innen, Serien von Drucken, sogenannte catchpenny prints (Lockmittel), perspektivische Drucke, Werbe-Visitenkarten, stereoskope Fotografien, Serien von Diapositiven für Laterna magica, Bildpostkarten und frühe Kinofilme – sowie weitere nicht-illustrierte Quellen wie Zeitungsartikel, Handelskataloge und Vortragsmaterial (S. 23). Diese in Europa und Nordamerika hergestellten bzw. vorhandenen Medien behandelt sie als Non-Fiction, als Teil eines bestimmten Diskurses über die Niederlande und Niederländer*innen, und untersucht die Bedingungen, unter denen ein Bild als Verteiler realistischen und vertrauenswürdigen Wissens verstanden wurde (S. 14f.) und als „supposed common knowledge“ im „Westen“ angesehen werden kann (S. 16).
Methodisch greift sie auf die Medienarchäologie nach Erkki Huhtamo zurück, um die Herstellung von Bedeutung zu analysieren, zunächst mit Schwerpunkt auf der visuellen Analyse und dann erweitert um die Funktionen der gegebenen Medienformation (S. 17). Für die visuelle Analyse kombiniert sie eine semiotische Perspektive mit der Ikonographie-Geschichte der vorhandenen Medien und historisiert sowohl die Kategorien/Funktionen von Beschreibungen wie auch die Motive/Bilder von Niederländer*innen (S. 19f.). In ihrem Korpus identifiziert sie die drei einflussreichsten Diskurse für die Verbreitung von Wissen über Menschen und Orte im 19. Jahrhundert, nämlich Anthropologie, Geographie und Tourismus. In diesen Diskursen wiederum findet sich jeweils ein deskriptiver Aspekt bezogen auf „partiality and comprehensiveness“, ein definierender in „the typical and the general“ sowie ein bewertender gegenüber „authenticity and artificiality“ (S. 26f.).
Der weitere kumulative Aufbau der Studie lehnt sich eher an sozialwissenschaftliche denn an geschichtswissenschaftliche Konventionen an, indem die ersten drei Kapitel sich noch einmal eingehend mit Methoden, Untersuchungsgegenständen und Vorgeschichte auseinandersetzen, bevor die Autorin diese Zwischenergebnisse auf die drei Diskurse Anthropologie, Geographie und Tourismus anwendet.
Im ersten Kapitel „Analysing Images of Dutchness: From Stereotype to National Cliché“ steht der semiotische Prozess im Mittelpunkt: von der Zuschreibung von Bedeutung an kulturelle Artefakte, die zu „supposed common knowledge“ führt, und, als ein Teil davon, in Klischees über Nationen. Das zweite Kapitel „Spectacularly Dutch: Popular Visual Media from Print to Early Cinema“ liefert Hintergrundinformationen zu den Arten populärer visueller Medien, die in den folgenden Kapiteln analysiert werden, einschließlich ihrer Technologien. Mit den Konzepten von mediality, affordances und dispositif wird die jeweilige Rolle dieser Medien in der Verbreitung von Wissen untersucht. Das dritte Kapitel „Images of People and Places Before 1800: A Prehistory of National Clichés“ rekonstruiert, wann und wie Technologien (reproduzierbare Bilder), Epistomologie (Objektivitätsanspruch) und Politik (Nationaldiskurs) sich zu den späteren Klischees verbanden.
Im inhaltlichen Kern untersucht das vierte Kapitel „Authentical Dutch: Images in Anthropological Discourse“ die verschiedenen Funktionen nationaler Kategorien in Bildunterschriften und Kommentaren zu Bildern von Menschen. Dellmann unterscheidet hier zwischen drei Modi: einer „bracketing function“ – die Niederlande als eine Nation ethnischer Varietät –, der Präsentation einer einzigen Figur als Beispiel für alle Niederländer*innen sowie dem Verschmelzen der Kategorie („the Dutch“) mit einem besonderen Fall (Menschen in den Dörfern Marken und Volendam an der damaligen Zuiderzee und auf Zeeland) zu einem festen Motiv, das zum Klischee wurde.
Das fünfte Kapitel „Typically Dutch: Images in Popular Geography and Armchair Travel Media“ bezieht sich auf bewegliche Medien, die an verschiedenen Orten der Erziehung und Bildung dienten. Dabei ergeben sich drei Muster von Bild-Text-Kombinationen, die über Zeitraum, Medien, Publikum und Modi des Nationalen stabil blieben, nämlich das enzyklopädische, das Panorama- und das virtuelle Reise-Muster. Anders als in den anthropologischen und touristischen Diskursen, die fast ausschließlich auf ländliche Regionen und deren Traditionen abheben, spielen in diesen Quellen auch Modernität und Urbanität eine Rolle. „Dutch“ wird hierin nicht eingesetzt, um auf das Typische und das Authentische Bezug zu nehmen, stattdessen nehmen Verallgemeinerungen die Form eines Prototypen an.
Das sechste Kapitel „Selling a ‚Dutch Experience‘: Images in Tourism and Consumer Culture“ konzentriert sich auf Bilder in Verbindung mit textuellen Topoi, in denen die Information mit Werbung für oder Kauf einer Dienstleistung oder Ware verbunden ist, zum Beispiel einem Reisearrangement, einer Postkarte oder einem Souvenir. Diese Waren dienten als Mittler für die Erfahrung des besuchten Landes, also der Niederlande, und führten dort um 1900 zu einer Diskussion über die Vor- und Nachteile von Generalisierungen für Wirtschaft und Gesellschaft. Vor diesem Hintergrund regt Dellmann an, die übliche Trennung von Selbstbild und Fremdbild zu überdenken. Die in diesem Kapitel zitierten Textquellen sind in den Endnoten auch im niederländischen Original ausführlich dokumentiert.
Im Fazit zeigt die Autorin Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei analysierten Diskurse auf. In Bezug auf den Aspekt „comprehensiveness und partiality“ fällt auf, dass Bilder von Orten beinahe durchweg Städte zeigen (und kaum Dörfer), Bilder von Menschen hingegen Leute vom Dorf (und kaum Städter*innen) . Über alle Diskurse hinweg hat „das Typische“ (im Gegensatz zum Allgemeinen) eine positive Konnotation und kristallisiert nostalgische Empfindungen. Was schließlich „Authentizität“ angeht, unterscheiden sich Bilder und Aussagen im touristischen Diskurs von denen im anthropologischen oder geographischen weniger dem Inhalt nach, sondern vielmehr in der Funktion. Hier dient beispielsweise die Beschreibung einer Tracht nicht der wissenschaftlichen Untersuchung von Traditionen und Kulturen, sondern als Teaser für eine außergewöhnliche und visuell erfreuliche Erfahrung (S. 354-356).
Im Ausblick entwirft Dellmann ein Vier-Phasen-Modell der Entwicklung der „nationalen Klischees“. In der vierten Phase waren Klischeees so verbreitet, dass sie als Zeichen für die Kategorie „the Dutch“ funktionierten: „the motifs could be used to signify Dutchness in any possible context (from advertising for coffee to settings of a theatre play).“ (S. 360) Außerdem kontextualisiert sie Strategien des „Othering“ im touristischen Diskurs über die Dörfler*innen an der Zuiderzee, in denen Differenzkonstruktion vor allem dazu diente, visuelle Attraktion herzustellen, und nicht dazu, eine kulturelle oder moralische Hierarchie zu installieren – aber eben doch als epistemologische Struktur vorhanden war.
Von den mehr als 3000 Bildern, die Sarah Dellmann gesichtet hat, war nur ein Bruchteil digitalisiert und öffentlich zugänglich. In der Erschließung durch „elaborate descriptive engagement with historical material“ (S. 364), unterstützt von 131 teils farbigen Abbildungen und einem detaillierten Index (Historical Persons, Production Companies and Associations, Locations, Film Titles and Media Titles, Keywords), liegt damit ein Verdienst der Studie und ein Nutzen als eine Art Repositorium für Historiker*innen, die sich mit Technologien des Sichtbarmachens, materialen Eigenschaften visueller Medien und mit Räumen der Wissensvermittlung im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert befassen.
Dabei befindet sich das Buch im Spannungsfeld von analogem und digitalem Informationsmanagement. Während Dellmann in Recherche und Auswertung anscheinend kaum Werkzeuge der digitalen Geisteswissenschaften genutzt hat – in der Einleitung findet sich im Abschnitt nur ein kurzer Hinweis darauf, dass bei mehr Quantität einer bestimmten Quellenart die zeitgenössische Beliebtheit den Ausschlag für die Auswahl gegeben habe und nicht die Außergewöhnlichkeit (S. 23) –, erleichtert die Präsentation der Ergebnisse, zum Beispiel die Gliederung mit Angabe von DOI und Abstracts zu Beginn jedes Kapitels sowie die zahlreichen Zwischenüberschriften, den Zugang zu ausgewählten Themen auch in der Papierversion.
Sarah Dellmann, Images of Dutchness. Popular Visual Culture, Early Cinema and the Emergence of a National Cliché, 1800-1914, Amsterdam: Amsterdam University Press 2018, 421 Seiten, ISBN 978 94 6298 300 7, € 39,95, DOI 10.5117/9789462983007
Zitation
Esther Helena Arens, Rezension: Sarah Dellmann, Images of Dutchness. Popular Visual Culture, Early Cinema and the Emergence of a National Cliché, 1800-1914, in: Visual History, 19.11.2019, https://www.visual-history.de/2019/11/19/rezension-dellmann-images-of-dutchness/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1709
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