Die Revolution als Wandschmuck

Rezension zu: Wolfgang Hesse, Der rote Abreißkalender. Revolutionsgeschichte als Wandschmuck

Cover: Wolfgang Hesse, Der rote Abreißkalender. Revolutionsgeschichte als Wandschmuck, Eigenverlag, Lübeck 2019

Der Dresdner Kunst- und Fotohistoriker Wolfgang Hesse forscht seit vielen Jahren zur proletarischen Amateurfotografie. Seine hier vorliegende Internet-Publikation befasst sich mit dem „Roten Abreißkalender“ der KPD der Weimarer Republik.

Sowohl die Arbeiter- wie die Abreißkalender gehen in ihrer Tradition auf das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts zurück. Die ersten Arbeiterkalender sind 1867 in Budapest und 1868 in Berlin nachweisbar. Die wichtigsten inhaltlichen Änderungen gegenüber dem traditionellen „Volkskalender“ bestanden darin, dass die geschichtlichen Teile statt der bisherigen „Heldengeschichtsschreibung“ Daten der allgemeinen Weltgeschichte, der demokratischen und der deutschen Arbeiterbewegung enthielten. Um 1880 tauchten in Deutschland die ersten (nicht-politischen) Abreißkalender auf, die, dem englischen Vorbild der date blocks folgend, literarische, religiöse oder Texte aus dem Alltagsleben auf den Kalenderblättern anboten. Sie inspirierten, unter neuem Vorzeichen, auch Unternehmungen wie das hier vorgestellte.

Von 1923 bis 1933 erschienen im Neuen Deutschen Verlag, einer Gründung Willi Münzenbergs, jährliche Arbeiter-Abreißkalender. Die Sächsische Landesbibliothek in Dresden hat die insgesamt 1750 Abreißblätter aller elf Jahrgänge (der Jahrgang 1933 blieb fragmentarisch) digitalisiert;[1] die fotogeschichtlich orientierte Arbeit Wolfgang Hesses ist die dazu ebenso nötige wie willkommene Handreichung – und ist zugleich mehr, nämlich die Vorstellung eines bedeutenden Teils des Münzenbergschen Netzwerkes. Auch dieser Kalender dokumentiert das enorme organisatorische Geschick Münzenbergs und seine Fähigkeit, Menschen unterschiedlichster Herkunft in gemeinsame Projekte zu integrieren.

Der aus ärmlichen Verhältnissen in Thüringen stammende Münzenberg verkörperte den Typus des sogenannten organischen oder Arbeiter-Intellektuellen, der sich seine hohe Bildung selbst erarbeitet hatte. Er verband in selten anzutreffender Weise eine plebejische Bodenhaftung mit einem breiten internationalen Horizont. Bemerkenswert war seine Fähigkeit, politisch der Arbeiterbewegung fernstehende, doch mit einem Gespür für soziale Probleme ausgestattete Bürgerinnen und Bürger für das Anliegen der KPD einzunehmen. Nach dem Urteil seines Freundes Arthur Koestler brachte er „Komitees zustande, wie ein Zauberkünstler Kaninchen aus einem Hut zieht […]“.[2]

Wolfgang Hesse beruft sich auf Willi Münzenberg (S. 9): „Die Fotografie ist ein unentbehrliches und hervorragendes Propagandamittel im revolutionären Klassenkampf geworden. Die Bourgeoisie hat bereits vor 30 und 40 Jahren verstanden, dass das fotografische Bild eine ganz besondere Wirkung auf den Beschauer ausübt“ – und von ihr müsse der Kommunist in propagandistisch-aufklärerischem Sinn lernen.[3]

Neben Münzenberg selbst war für das Netzwerk seines Unternehmens wohl am wichtigsten der 1886 in Lemberg geborene Jakow Reich, der als „J. Thomas“, „Genosse Thomas“ und unter zahlreichen weiteren Pseudonymen meist hinter den Kulissen wirkte (für die Universum-Bücherei, dem Buchklub der KPD, spielte Otto Katz alias André Simone eine ähnlich wichtige Rolle). Zunächst leitete Reich das Westeuropäische Sekretariat der Kommunistischen Internationale, das eine Reihe von Presse- und Propagandamaterialien herausgab und Gelder aus Moskau an die jungen kommunistischen Parteien im Ausland weiterleitete. Dort fand auch Elfriede Friedländer, unter dem Namen Ruth Fischer als Kommunistin und später als Antikommunistin berühmt geworden, eine Zeitlang ihr Auskommen.

Abb. Hesse, Abreißkalender, S. 16: Mihály Biró. Riese Proletariat, nach Plakat für das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Ungarn, 1912. Arbeiter Wandkalender Schmuckblatt nach 8.-10. November 1923. Sächsisches Staatsarchiv – Staatsarchiv Chemnitz

Als Leiter des Neuen Deutschen Verlags gab Reich noch – als diese aus der KPD bereits ausgeschlossen waren – die Arbeiten von Stalin-kritischen Kommunisten wie Paul Frölich, Albert Fuchs und August Thalheimer heraus, folgte ihnen dann selbst in die KPD-Opposition und ging 1931 zur Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP). Bis 1930 gab er noch den „Roten Abreißkalender“ heraus. Darin und in der Leitung des Neuen Deutschen Verlages folgten ihm Paul Dietrich und August Creutzburg, die später beide Opfer Stalins wurden. Reich selbst gelang 1933 die Flucht aus Deutschland. Zuletzt lebte er als politischer Publizist unter dem Namen Arnold Thomas Rubinstein in New York, wo er 1955 verstarb.

Mit dem Neuen Deutschen Verlag war die Verlagsbuchhandlung Carl Hoym Nachf. Louis Cahnbley verbunden, in der die deutschsprachigen Dokumente der Komintern ebenso hergestellt und vertrieben wurden wie der „Abreißkalender“. Geschäftsführer der Verlagsbuchhandlung war von 1921 bis 1925 Karl Gröhl, später unter dem Namen Karl Retzlaw bekannt, der zugleich (und vor allem) Leiter des Geheimapparats der KPD war. Seine Nachfolgerin als Verlagsgeschäftsführerin wurde Babette Gross, Münzenbergs Frau.

Von diesen Einzelheiten, gar von Gröhls eigentlicher Tätigkeit, mochte der allergrößte Teil der Leserschaft des „Abreißkalenders“ nichts ahnen, dessen Titelblätter in den Anfangsjahren von der Ungarin Jolán Szilágyi gestaltet wurden. Der Kalender enthielt Grafiken, Zeichnungen, aber auch Fotografien mit hohem Unterhaltungswert. Die Abbildungen suchten satirische Polemik mit politischer Schulung zu verbinden.

„Alle Ausgaben des Arbeiterkalenders“, so Hesse, „waren in aufwändigen Recherchen zusammengestellt, redigiert und gedruckt, vorderseitig illustriert, mit Verweisen auf Gedenktage in den Datumskästen versehen sowie mit Textrückseiten ausgestattet“ (S. 28). Hesse zitiert das Lob Kurt Tucholskys: „Der Kalender enthält in klarem Druck auf schönem Papier: Auf der Rückseite jedes Blattes gut ausgewählte Stellen aus der politischen Literatur; Abdrucke von Zeitungsausschnitten; Blamagen der Gegner; Mahnungen, Rufe, Erinnerungen – sehr schätzenswerte und notwendige Erinnerungen. Auf der Vorderseite das deutliche Datum, kommunistische Gedenkdaten und eben das, weswegen er hier angezeigt werden soll: auf jedem Blatt ein Bild.“[4]

Abb. Hesse, Abreißkalender, S. 70: Honoré Daumier: Bismarck und die Opfer seiner Henkerdienste an der Pariser Kommune, Arbeiterkalender Blatt 2.-4. Juni 1924. Deutsche Nationalbibliothek Leipzig

So enthielt z.B. der Kalender des Jahres 1926 literarische Beiträge u.a. von Baboeuf, Bakunin, Bebel, Bucharin, Heine, Herwegh, Liebknecht, Luxemburg, Marx, Radek, Scheidemann, Sinowjew, Tolstoi, Trotzki, Voltaire, Weitling, Wilhelm II., Wilson, Zetkin sowie zeichnerische Beiträge u.a. von Honoré Daumier, Thomas Theodor Heine, Boris Jefimow, Käthe Kollwitz, Frans Masereel, Dmitri Moor, Rudolf Schlichter und sogar von Hitler, doch wird nicht gesagt, um welchen Text des faschistischen Politikers es sich dabei handelt (vgl. das auf S. 26 abgedruckte Deckblatt).

Lilly Korpus, die künftige Ehefrau Johannes R. Bechers, die ab 1926 im Neuen Deutschen Verlag die „Arbeiter-Illustrierte Zeitung“ und den Abreißkalender lektorierte, schrieb rückerinnernd über die Schwierigkeiten beim Finden geeigneten Fotomaterials (S. 33): „Wir halfen uns, indem wir aus den Fotos der bürgerlichen Agenturen Serien ‚bauten‘, oft in monatelanger, geduldiger, mühsamer Arbeit. Wir entdeckten die packende und aktuelle Wirkung, die von historischen Bildern, alten Kupferstichen, vergessenen Dokumenten, Reiseberichten der Vergangenheit ausgehen kann. Wir wälzten Folianten, durchstöberten Archive, unsere Köpfe sprühten Ideen, die eine Umsetzung in die unseren Lesern leichtverständliche Bildsprache erlaubten.“[5]

Abb. Hesse, Abreißkalender, S. 107: 89: Unbekannter Grafiker: N. Lenin 1870-1924. Arbeiterkalender 1925, Vorsatzblatt. Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
90: Unbekannter Grafiker: Doch kommt der Tag, da wir uns rächen! / Dann werden wir die Richter sein! Arbeiterkalender Blatt 1.-3. Januar 1925. Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
91: Unbekannter Fotograf: Barrikade in Hamburg. Arbeiterkalender Blatt 24. Oktober 1925. Deutsche Nationalbibliothek Leipzig
92: Unbekannter Fotograf: Aus den Barrikadenkämpfen in Hamburg. Arbeiterkalender Blatt 25.-27. Oktober 1925. Deutsche Nationalbibliothek Leipzig

Die Gestaltung des Abreißkalenders war innovativ; so nahmen John Heartfields Fotomontagen einen großen Raum ein. Mit dem Beginn der 1930er Jahre griff die Präsentation der Bilder Elemente filmischer Erzählweise auf, „hatte doch die Integration des Films in die Alltagskultur nicht zuletzt zu anderen Erzählformen wie der Bildreportage und zu neuen Leseformen geführt“. (S. 93)

Ein spannender, ganz aus den Akten heraus gearbeiteter Abschnitt des Buches befasst sich mit „Zensur und Bildkritik“. Wie andere linksradikale Unternehmen geriet auch der Verlag Carl Hoym Nachf. ins Visier des Reichskommissars für Überwachung der Öffentlichen Ordnung. Dieser stellte fest, „dass die Sowjetunion über ihn an den Behörden vorbei Druckschriften zu importieren wie umgekehrt deutsche Militärliteratur für die Rote Armee zu beschaffen suchte“. (S. 103) So hieß es in einem Bericht des Reichskommissariats Anfang 1924, kurz nach dem verfassungswidrigen Sturz der SPD-KPD-Regierungen in Thüringen und Sachsen, dort habe Moskau regiert „und nach dessen Befehl und dessen Direktiven die ‚Minister‘ der K.P.D. […] Diese Tatsachen ergeben sich aus den Ausführungen der im Verlage der kommunistischen Internationale Carl Hoym, Nachf. Hamburg 8, unter der Überschrift ,Die Lehren der deutschen Ereignisse’ erschienenen Broschüre (nicht im Buchhandel erhältlich), in der über die im Januar ds. Js. stattgehabte Sitzung des Präsidiums des Exekutivkomitees der kommunistischen Internationale zur deutschen Frage berichtet wird.“ (ebd.)

Dem Reichskommissariat für Überwachung der öffentlichen Ordnung waren offenbar die in der „Roten Fahne“ und anderen KPD-Zeitungen äußerst kontrovers debattierten Fragen entgangen, die sich aus der Teilnahme von Kommunisten an Arbeiterregierungen ergaben, und ebenso die in der Presse veröffentlichten, nicht weniger kontroversen Haltungen innerhalb der Komintern-Zentrale in Moskau dazu, die keine eindeutigen Direktiven zuließen.

Über vieles mehr wäre zu berichten. Hier soll abschließend die Feststellung genügen, dass die auch technisch sehr überzeugend im Internet präsentierte Untersuchung eine Buchausgabe verdient hätte.

Abb. Hesse, Abreißkalender, S. 121: 101: Erich Meinhold: Familie am Kaffeetisch, um 1930. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek
102: Erich Meinhold: Lesende Arbeiter, 1928-1932. SLUB Dresden / Deutsche Fotothek

 

Wolfgang Hesse, Der rote Abreißkalender. Revolutionsgeschichte als Wandschmuck, Eigenverlag, Lübeck 2019, 157 S., mit Illustrationen, Open Access online unter https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-346911

 

 

[1] Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB): Arbeiterkalender der Jahre 1923 und 1924 online unter https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/174375/1/  sowie von 1925 bis 1933 https://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/172696/1/

[2] Arthur Koestler im Vorwort zu: Babette Gross, Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, München 1967, S. 8.

[3] Willi Münzenberg, Aufgaben und Ziele der internationalen Arbeiter-Fotografen-Bewegung, in: Der Arbeiter-Fotograf 5 (1931), H. 5, S. 99-100.

[4] Kurt Tucholsky, Abreißkalender, in: Die Weltbühne 21 (1925), H. 50, S. 891, und in: Gesammelte Werke, Bd. 4, Reinbek 1975, S. 284.

[5] Zit. nach: Vorwort zu: Heinz Willmann, Geschichte der Arbeiter-Illustrierten Zeitung, Berlin 1974, S. 9.

 

 

Zitation


Mario Keßler, Die Revolution als Wandschmuck. Rezension zu: Wolfgang Hesse, Der rote Abreißkalender. Revolutionsgeschichte als Wandschmuck, in: Visual History, 16.03.2020, https://www.visual-history.de/2020/03/16/revolution-als-wandschmuck-rezension-der-rote-abreisskalender/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1737
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