Die Kopräsenz des Erlebens, Erinnerns, Erzählens
Zur Ausstellung „9/11: Vom Ereignis zum Gedächtnis“ an der Universität des Saarlandes
Die Terroranschläge des 11. September 2001 stellen die wohl radikalste Zeitenwende der jüngeren Globalgeschichte dar – eine Epochenschwelle, die (in Anlehnung an das in den Geschichtswissenschaften von 1789 bis 1914 reichende „lange 19. Jahrhundert“) das zweite Jahrtausend gewissermaßen erst 620 Tage später eröffnet.
Damit schien sich allerdings auch Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“[1] nicht zu erfüllen und vielmehr Samuel Huntingtons ausgerufener „Clash“ der Kulturen[2] anzudeuten: Wohl kaum ein anderes Ereignis der Moderne hat den „Westen“ so sehr selbst konstruiert und vom „Rest“ abgegrenzt, wie die Dichotomisierung von Freiheit gegen Fundamentalismus, Zivilisation gegen Barbarei. Denn nahezu unmittelbar als „eine Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt“[3] verstanden, war auch die Antwort darauf, 60 Jahre nach Pearl Harbor, schnell klar: „When America responded to these attacks, it would be deliberate, forceful, and effective.“[4]
Doch die Reaktionen auf diese Terroranschläge gehen weit über die politischen und militärischen Machtzentralen des Westens hinaus und umfassen neben philosophischen Deutungen (von Jean Baudrillard bis Slavoj Žižek) unzählige künstlerische Interventionen, die sich in Lyrik und Roman, Film und Comic, Kunst und Performance mit jenem Dienstag im September 2001 auseinandersetzen, mit dem kaum vorstellbaren Schrecken des Ereignisses und den drastischen Bildern, die daraus hervorgingen.
9/11 und die Visualität des Terrors
Inzwischen sind bereits zwei Jahrzehnte seit der meist als „9/11“ abgekürzten Terrorattacke vergangen – zwei Jahrzehnte, seit die Live-Bilder der verheerenden Anschläge über die Mattscheiben unzähliger Fernsehapparate auf der ganzen Welt flimmerten: Die brennenden Türme des World Trade Centers in New York City, das beschädigte Pentagon in Washington D.C. und der rauchende Krater auf einem Feld in Pennsylvania haben sich in das kulturelle Gedächtnis eingebrannt, allem Schrecken zum Trotz – oder gerade deswegen.
Denn auch ohne soziale Netzwerke und einem erst entstehenden globalen Breitbandinternet verbreiteten sich die Aufnahmen in bisher kaum gekannter Geschwindigkeit: Bereits kurz nach dem Einschlag eines ersten Flugzeugs in den Nordturm (Ortszeit 08:45 Uhr) unterbrechen die ersten Fernsehsender ihr Frühstücksprogramm, und den Crash der zweiten Maschine in den Südturm (09:03 Uhr) verfolgen dann bereits unzählige Menschen weltweit in Echtzeit.
Damit stehen die Anschläge als globales Medienereignis bereits in gewisser Weise paradigmatisch für die Epoche, die sie einleiteten:[5] unser hyperreales Zeitalter mit einer ständig nach Aufmerksamkeit heischenden 24/7-Berichterstattung, die sich mit Live-Tickern und Eilmeldungen immer wieder selbst überbieten muss und damit eher zur Boulevardisierung von Nachrichten („soft news“) denn zur gründlichen Investigativrecherche beiträgt; speziell in den USA eine zunehmende Polarisierung des US-amerikanischen Mediensystems vom linksliberalen bis zum rechtskonservativen Spektrum (etwa mit MSNBC auf der einen und Fox News auf der anderen Seite), wodurch Nachrichtenlagen unweigerlich politisch eingeordnet und ideologisch aufgeladen werden und so gesellschaftliche Spaltungen befördern.[6]
In Deutschland ist es am 11. September bereits Nachmittag, als die ersten Sondersendungen in Radio und Fernsehen über den Anschlag berichten und dabei versuchen, die kaum vorstellbare Ereigniskette zu rekonstruieren. Bald schon werden die präzisen Planungen der Terrororganisation „Al Qaida“ deutlich, mit ihrer keinesfalls zufälligen Wahl der Anschlagsorte als ohnehin ikonische Gebäude der USA – nämlich das Welthandelszentrum stellvertretend für den westlichen Turbokapitalismus, das Pentagon als Symbol der militärischen Stärke des „American Exceptionalism“ und das politische Washington offenbar als Ziel des vierten Flugzeugs[7] –, wie auch die zeitliche Chronologie, die erwartbare Abfolge der sich überschlagenden Nachrichtenmeldungen mit kontinuierlich in ihrer Dramatik ansteigenden Bildern: eine regelrechte „Choreographie“, die etwa beim Komponisten Karlheinz Stockhausen nur wenige Tage nach den Anschlägen den Eindruck hinterlässt, er habe „das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat“,[8] gesehen – er zog die reichlich unsensible Aussage kurz darauf wieder zurück.
Doch tatsächlich reicht die Augenzeugenschaft weit über Manhattan oder die USA hinaus: Es dürfte wohl kaum Menschen in Mitteleuropa gegeben haben, die an jenem Septemberdienstag nicht von den Anschlägen gehört und diese über Fernsehen oder (in Sonderausgaben am Abend oder am nächsten Morgen) über Zeitungen auch gesehen haben.[9] Und gerade diese Visualität des Ereignisses – die radikale Unmittelbarkeit, mit der die Aufnahmen in den Alltag einbrechen, wie auch die Drastik des Geschehens mit Bildern, die bisher lediglich aus dem Hollywood-Kino bekannt sind[10] – ging weit über eine passive Beobachtungsperspektive hinaus.
So steht 9/11 schließlich auch für eine in dieser Form wohl einmalige Kopräsenz der Rezeption, wenn das eigentliche Ereignis über dahinterstehende Bildmedien in (relativer) Echtzeit global kollektiv erfahrbar und auch erfahren wurde.[11] Und da sich auch die Nachrichtenlage erst allmählich und über Stunden hinweg entwickelte, scheinen die Anschläge als kopräsent erlebtes Live-Ereignis über Kontinente und Zeitzonen hinweg eine nachhaltig prägende Wirkung entfaltet zu haben: Bis heute existiert die persönliche Verortung „Ich weiß noch genau, wo ich damals war“, die bislang für die Mondlandung oder große Live-Sportereignisse reserviert war, als identitätsverbindendes Narrativ.
9/11 ausstellen
Der zwanzigste Jahrestag der Terroranschläge von 9/11 wird in Deutschland tatsächlich kaum in Sonderausstellungen, sondern vielmehr (von der Atlantischen Akademie Rheinland-Pfalz bis zum Amerikahaus München) durch Vortrags- und Diskussionsreihen thematisiert – was möglicherweise auch an der coronabedingten Planungsunsicherheit der vergangenen Monate liegt. So stellen die wenigen hierzulande realisierten Projekte mal die vom Künstler Fritz Koenig 1971 für das World Trade Center geschaffene Bronzeskulptur „Große Kugelkaryatide N.Y.“, die bei den Anschlägen 2001 stark beschädigt wurde, in den Mittelpunkt, [12] zeichnen in einer audiovisuellen Installation die mediale Reizüberflutung nach[13] oder entwerfen ein gigantisches 360°-Panorama von Manhattan.[14]
Aber ohnehin stellt sich die Frage, wie – über das „National September 11 Memorial & Museum“ in New York City hinaus – eine Ausstellung zu und über die Terroranschläge aussehen könnte. So mag die Visualität und mediale Bekanntheit der ikonischen Aufnahmen wohl Fluch und Segen zugleich sein, wenn diese Fotografien und Filmausschnitte nicht über ihre rein dokumentarische Funktion hinausgehen. Vielmehr kann beispielsweise die Kopräsenz des Ereignisses selbst als Grundlage genommen werden, um dessen politische und militärische Konsequenzen und gesellschaftliche Folgen, um die künstlerischen Verarbeitungen unterschiedlichster Medien und das popkulturelle Nachwirken von 9/11 als „modernen Mythos“[15] zu reflektieren.
Diese Ausgangslage galt auch für die Ausstellung „9/11: Vom Ereignis zum Gedächtnis“, die von Juli bis September 2021 im Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Saarländischen Universitäts- und Landesbibliothek (SULB) zu sehen ist. Die parallel zu Projektseminaren in den kunst- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen entwickelte Schau konnte in Kooperation mit dem Deutsch-Amerikanischen Institut Saarland (DAI) stattfinden und wurde inhaltlich von der Juniorprofessur für Medienkomparatistik an der Universität des Saarlandes betreut. Zu den weiteren Kooperationspartnern des Rahmenprogramms zählten die Professur für Amerikanistik, das Zentrum für lebenslanges Lernen (ZelL), das Saarländische Staatstheater sowie die Stiftung Saarländischer Kulturbesitz mit dem Deutschen Zeitungsmuseum.[16]
Die Saarbrücker Ausstellung beginnt zunächst mit der nüchternen Dokumentation der Anschläge: Auf Bild- und Texttafeln findet sich die minutiöse Chronik des Geschehens anhand ausgewählter Pressefotos; QR-Codes verlinken darüber hinaus (coronakonform) zu Ausschnitten aus Fernsehnachrichten. Ähnlich eindrucksvoll zeugen in den folgenden Vitrinen die aus mehreren Privatsammlungen zusammengetragenen Zeitungen der Folgetage von den mittelbaren Reaktionen: So sind die Schlagzeilen vom 12. September noch von ungläubigem Schock, von Fassungslosigkeit und Trauer geprägt: Die „Bild“-Zeitung titelt: „Großer Gott, steh uns bei!“, in der „New York Times“ lautet eine Unterüberschrift „A creeping Horror“, und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ macht sogar mit Fotos auf der Titelseite auf – damals noch eine verlegerische Ausnahme.
Und auch die deutschen Nachrichtenmagazine erschienen rasch in Sonderausgaben,[17] sodass etwa eine Woche nach den Anschlägen kaum noch Zeitschriften und Illustrierte am Kiosk zu finden waren, die auf ihren Titeln nicht die rauchenden Zwillingstürme oder die Trümmer und den Staub um Ground Zero herum zeigen. Auffällig dabei ist, dass – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit[18] – immer wieder die identischen Bilder, die gleichen Headlines und ein auffällig ähnliches sprachliches Framing verwendet wurden, was die kollektiv-kopräsente Wahrnehmung des Ereignisses unterstreichen dürfte.
Doch gleichzeitig wirft diese über Vitrinen verteilte „Presseschau“, die Übersicht zahlreicher Titelseiten unterschiedlicher Zeitungen und Magazine, auch Fragen der Bildstrategie oder der Macht von visuellen Inszenierungen auf: Denn die längst ikonisch gewordenen Aufnahmen scheinen nicht selten von jeglicher schicksalhaften Zufälligkeit befreit und wirken teilweise eher wie sorgfältig komponierte Hochglanzfotos: Dem traumatischen Schrecken einer völlig staubbedeckten Frau steht in der weltweit als Symbolbild gedruckten Aufnahme von Stan Honda eine faszinierende Eindringlichkeit gegenüber; die unvorstellbare Verzweiflungstat der aus den brennenden Türmen springenden Menschen bekommt in Richard Drews Fotos des unbekannten „Falling Man“ eine akrobatische Leichtigkeit; und das von Thomas E. Franklin aufgenommene Hissen der amerikanischen Flagge auf den Trümmerresten scheint das in jedem Geschichtsbuch zu findende Kriegsereignis auf Iwo Jima nachzustellen.
Doch sind es die eher unbekannten Blickwinkel, die im Gegensatz dazu auch dann noch neue Perspektiven auf jenen Tag liefern, wenn sich die immer gleichen Aufnahmen aus Manhattan (in deutlich untergeordneter Weise auch Bilder der Attacke auf das Pentagon sowie von der Absturzstelle eines vierten Flugzeugs in Pennsylvania) längst in das kollektive Bildgedächtnis eingebrannt haben. So erinnert die Ausstellung – etwa neben fotojournalistischen Dokumentationen von Joel Meyerowitz und James Nachtwey oder fotokünstlerischen Projekten von Nathan Lyons oder Jonathan Hyman – auch an das Kollektivprojekt „Here is New York“: Unzählige Fotos von Anwohner*innen, Pendler*innen und Tourist*innen, von Betroffenen und Augenzeugen, wurden zunächst in einer eilig eingerichteten Galerie in Soho gesammelt, später auch online und in Museen weltweit ausgestellt sowie in einer Auswahl als monumentales Buch veröffentlicht.[19] Diese Schnappschüsse gehen über die bekannten Bildmotive hinaus, stellen Momente still, die vom fotojournalistischen Auge so vielleicht nicht gesehen wurden. Die daraus entstandene beeindruckende Sammlung Tausender von Aufnahmen zeigt Trauer und Verzweiflung, Leere und Zerstörung und immer wieder die Zettel und Plakate an Bushaltestellen und Zäunen, mit denen nach Vermissten gesucht wurde. „Here is New York“ mit dem Untertitel „A Democracy of Photographs“ erschafft ein „analoges“ Bildgedächtnis, wie dies heute wohl bei einem vergleichbaren Ereignis in sozialen Netzwerken entstehen würde, und spiegelt damit das ganz persönliche Erfahren: So geht das kopräsente Wahrnehmen der Anschläge nahezu augenblicklich auch mit einem kollektiven Verarbeiten, einem gemeinsam erfahrenen Erinnern einher.
Dies gilt aber auch für andere künstlerisch-mediale Verarbeitungen von 9/11, die einen weiteren Schwerpunkt der Saarbrücker Ausstellung ausmachen: Nahezu augenblicklich und weit über Nordamerika hinaus haben Kunstschaffende begonnen, ganz unterschiedliche Themen zu verhandeln und Perspektiven einzunehmen. Dies zeigt sich exemplarisch etwa anhand der Gedichte von Durs Grünbein oder Adam Zagajewski, der Gemälde von Gerhard Richter oder Denise Green, von Filmen wie dem internationalen Projekt 11’09’01 – September 11 (2002) mit Episoden von Ken Loach und Samira Makhmalbaf, Sean Penn und Alejandro González Iñárritu, anhand der Erzählungen von Kathrin Röggla oder Ulrich Peltzer, von Comics wie Art Spiegelmans „In the Shadow of No Towers“ (2002-2004) oder dem legendären schwarzen „Spiderman“-Cover, den Theaterstücken von Neil LaBute und Ayad Akhtar oder schließlich bei den Romanen von Frédéric Beigbeder und Jonathan Safran Foer, Siri Hustvedt und Mohsin Hamid.
Indem alle diese Medien und Texte ästhetisch neue Bilder oder fiktionale Erzählungen entwickeln, die im Experimentalraum der Literatur von exemplarischen Einzelschicksalen handeln oder alternative Möglichkeiten ausprobieren, wird das (Medien-)Ereignis ein weiteres Mal dargestellt. Doch nun werden den bekannten Bildern die Möglichkeiten der Künste entgegengestellt, und das unsagbare Trauma des Geschehenen kann visuell aufgearbeitet oder versprachlicht werden: So wird der 11. September 2001 etwa in der Literatur zum Tag der Handlung, mal werden die Anschläge eher beiläufig inszeniert, und mal erscheinen sie als Metapher – die künstlerische Auseinandersetzung überschreibt gewissermaßen das originäre und einmalige Ereignis, die Bilder und Narrative überlagern sich in der intertextuellen „relation de coprésence“.[20]
Ob die große kulturelle Zäsur tatsächlich literaturgeschichtlich Bestand haben wird, wie es Paul Auster in der Oktober-Ausgabe des „Kultur Spiegel“ und andere Schreibende in Anthologien wie dem wenige Wochen später bei Rowohlt erschienenen Buch „Dienstag, 11. September 2001“ vermutet haben[21] oder es sich in der Kategorie der „post-9/11 novel“[22] inzwischen bereits ausdrückt, wird jedoch erst die Zukunft zeigen.
Was vielmehr zwei Jahrzehnte nach den Anschlägen an Nachwirkungen sichtbar ist, versucht ein letzter Teil mit Texttafeln, Bildern und ausgewählten Objekten aufzuzeigen: Hier befasst sich die Ausstellung mit dem Phänomen des Terrorismus und den Folgen der Anschläge in den USA, zeichnet die starke Polarisierung des (sozialen und medialen) Diskurses bis zum Trumpismus nach, nimmt anhand kurioser Ausstellungsstücke die Formen und Funktionen von patriotischer Erinnerungskultur und alternativen Verschwörungstheorien in den Blick, reflektiert die gesellschaftlichen Konsequenzen von den Einschränkungen im Reiseflugverkehr bis zur „If You See Something, Say Something“-Kampagne des neu gegründeten „Department of Homeland Security“ und thematisiert die inzwischen schon fast selbstverständlich gewordene urbane Sicherheitsarchitektur mit den in Großstädten allgegenwärtigen Überwachungskameras, Pollern und Zäunen.
Augenzeugen-Fotografien von Reinhard Karger
Das Herzstück der Saarbrücker Ausstellung aber bilden 26 Fotografien von Reinhard Karger, der im September 2001 bei einem Besuch in New York City unfreiwillig zum Augenzeugen der Anschläge wurde: Seine zufälligen Bilder reihen sich damit einerseits in ein kollektives Archiv unzähliger „Schnappschüsse“ ein, wie sie schon bald in Projekten wie „Here is New York“ gesammelt wurden. Doch andererseits haben die Aufnahmen eine unmittelbare Eindringlichkeit und strahlen auch heute noch eine intensive Authentizität aus: Kargers Fotos sind nicht zuletzt auch deswegen besonders, weil er als einer von nur wenigen Deutschen als Augenzeuge tatsächlich in unmittelbarer Nähe war und die Anschläge auf das World Trade Center vom nahezu immer gleichen Standort aus aufnehmen konnte – von einer Segelyacht, die an der Manhattan gegenüberliegenden Seite des Hudson River an der Liberty Landing Marina festgemacht war.[23]
In den von Reinhard Karger für die Ausstellung eigens ausgewählten Bildern zeigt sich die Kopräsenz des Fotografen als Tourist, Augenzeuge und Chronist: Denn sind die ersten beiden Aufnahmen noch, wie er es selbst nennt, „the next very touristic photos“, also Bilder der New Yorker Skyline, wie sie seit der Eröffnung des WTC-Komplexes 1973 bereits unzählige Male zuvor bereits gemacht worden waren, wird er am Vormittag des 11. September 2001 schlagartig zum „ersten Zuschauer“ eines globalen Ereignisses.[24]
Die Rauchwolke über den Türmen ist weithin sichtbar, doch sieht es zunächst lediglich nach einer Brandkatastrophe aus: Reinhard Karger wird über den gesamten Tag hinweg zahlreiche Bilder von der Anlegestelle in New Jersey aus machen. Erst mit dem Einsturz des Südturms wird ihm klar, dass er dabei unfreiwillig einer Zeitenwende beiwohnt. So scheint das Fotografieren in diesem Moment auch wie eine hilflose Kompensation, und Karger wechselt die Filme seiner Contax-Kamera offenbar reflexhaft, sobald eine Rolle voll ist – zumal es ein „Zurückblicken“ in der analogen Fotografie ohnehin nicht gibt. Der Fotograf nimmt den Einsturz des World Trade Centers, begleitet von einem „fundamental hässlichen Geräusch“, wie in Zeitlupe wahr und wird sich dabei später wie in der „ersten Reihe“ fühlen: Teil der Katastrophe, aber doch in Sicherheit.[25]
Am Ende des spätsommerlichen Septembertags, mit dem Untergang der Sonne auf der anderen Horizontseite, liegt noch immer eine Staub- und Rauchwolke über Downtown Manhattan, doch die ikonische Silhouette des Welthandelszentrums ist verschwunden. Und gerade die seriell immer von der (ver)gleich(bar)en Stelle aufgenommenen Bilder – in ihrer fast schon daumenkinoartigen Abfolge – lassen das Fehlen der Zwillingstürme eklatant werden: Die konstante Räumlichkeit hebt das Vergehen der Zeit umso mehr hervor, gibt der abgebildeten „Wirklichkeit“ damit aber durch den scheinbar unbestechlichen, an eine statische Überwachungskamera erinnernden Blickwinkel auch eine unbedingte Authentizität.
So erzählen Kargers eindrückliche Aufnahmen die Terroranschläge mit einer anderen Bildmotivik als die Fernsehnachrichten nach: Den voyeuristischen Großaufnahmen der TV-Helikopter wird die zuverlässige Supertotale, die überblickende Weitwinkelperspektive, entgegengesetzt. Die in aller Unschuld von einem Bootsanleger aufgenommenen Fotografien stellen sich dabei unaufgeregt der tatsächlichen Zufälligkeit des nicht vorstellbaren Schreckens: Als die Zwillingstürme im Abstand von etwa einer halben Stunde um 09:59 Uhr (Südturm) und 10:28 Uhr (Nordturm) in sich zusammenstürzen, wird dabei mehr als eine Konstruktion aus Stahl, Beton und Glas pulverisiert, denn es ist ein Symbol, und es wird mehr als ein Gebäude zerstört, denn es begräbt Tausende von Menschen unter sich.
Die Einmaligkeit dieses Augenblicks, der medial stillgestellt und so (im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit) unendlich wiederholt werden kann,[26] ist den beeindruckenden Fotografien heute noch inhärent: Bild und Ereignis verschmelzen untrennbar,[27] konnten augenblicklich und in Echtzeit in medialer Kopräsenz erfahren werden[28] und wirken auch zwanzig Jahre später noch erschreckend aktuell.
Weitere Informationen zur Ausstellung „9/11: Vom Ereignis zum Gedächtnis“
Ausstellung: Literaturarchiv Saar-Lor-Lux-Elsass der Saarländischen Universitäts- und Landesbibliothek (SULB), 7. Juli bis 14. September 2021
Inhaltliche Konzeption: Jonas Nesselhauf, gemeinsam kuratiert mit Janina Willrich und Nora Benterbusch in Kooperation mit dem Deutsch-Amerikanischen Institut Saarland (DAI) und unterstützt durch Mittel des Auswärtigen Amtes (AA)
Partner des interdisziplinären Gesamtprojekts „9/11 – 20 Jahre danach“:
- Deutsch-Amerikanisches Institut Saarland (DAI)
- Professur für Amerikanistik und Juniorprofessur für Europäische Medienkomparatistik an der Universität des Saarlandes
- Zentrum für lebenslanges Lernen (ZelL)
- Saarländisches Staatstheater
- Stiftung Saarländischer Kulturbesitz
- Deutsches Zeitungsmuseum
Website: www.uni-saarland.de/fakultaet-p/911
[1] Francis Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992.
[2] Samuel Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996.
[3] So der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder in einer ersten Stellungnahme am Nachmittag des 11. September 2001; zitiert nach Gerhard Schröder, Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Hamburg 2006, S. 164f.
[4] George W. Bush, Decision Points, London 2010, S. 135. – Dabei war für den republikanischen US-Präsidenten die militärische Überlegenheit des Westens offenbar schon früh klar, wenn er nicht unbedingt „a million-dollar missile on a five-dollar tent“ (zitiert nach ebd.) schießen wollte.
[5] Vgl. dazu etwa Thomas Schmidtgall, Traumatische Erfahrung im Mediengedächtnis. Zur Struktur und interkulturellen Rezeption fiktionaler Darstellungen des 11. September 2001 in Deutschland, Frankreich und Spanien, Würzburg 2014, S. 69.
[6] Vgl. etwa Celine Koch, Die Infodemie, in: Forum Magazin vom 16. April 2021, S. 34-36; Artikel online: https://magazin-forum.de/node/21848#article [31.08.2021].
[7] Auch der deutsche Philosoph Jürgen Habermas weist auf die „Symbolkraft der monströsen Tat“ hin, die „eine Ikone im Bilderhaushalt der amerikanischen Nation“ zerstört habe. Zit. nach: Giovanna Borradori, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, Darmstadt 2004, S. 52.
[8] Zit. nach: Matthias N. Lorenz, Nach den Bildern – 9/11 als „Kultur-Schock“, in: ders. (Hg.), Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg 2004, S. 7-16, hier S. 9.
[9] Vgl. zu den Bildmotiven in der Presseberichterstattung die gründliche Untersuchung von Clément Chéroux, Diplopie. Bildpolitik des 11. September, Konstanz 2011.
[10] Der französische Philosoph Jean Baudrillard verweist in diesem Zusammenhang auf die Nähe der Nachrichtenbilder zu den „Phantasien“ („phantasme“) der Action- und Katastrophenfilme als regelrechten Einbruch des Realen in eine Welt filmisch vorgeprägter Bilder; vgl. Jean Baudrillard, L’esprit du terrorisme, Paris 2002, S. 13f. Vgl. dazu beispielsweise auch das Projekt „Just Like the Movies“ (2006) des polnischen Filmemachers Michal Kosakowski, der die Anschläge des 11. September 2001 mit einer Collage aus Actionfilmen „nachstellt“.
[11] Vgl. Anthony Giddens, The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration, Berkeley, CA 1986, S. 70.
[12] Die Ausstellung im Museum der Stadt Landshut läuft von September 2021 bis Februar 2022 und wird von einem Rahmenprogramm begleitet.
[13] Die von Christian M. Fischer und Guido Kühn geschaffene Installation „9/11“ wird im Rahmen der Ausstellung „Paarweise“ des Hohenloher Kunstvereins von Juli bis Oktober 2021 gezeigt.
[14] Die 360°-Panoramaausstellung des Künstlers Yadegar Asisi im Panometer Leipzig ist für 2022 unter dem Titel „New York 9/11“ angekündigt.
[15] Vgl. Sascha Seiler, 9/11, in: Stephanie Wodianka/Juliane Ebert (Hg.), Metzler Lexikon moderner Mythen. Figuren Konzepte, Ereignisse, Stuttgart 2014, S. 281-285.
[16] Im Deutschen Zeitungsmuseum im saarländischen Wadgassen findet von September bis November 2021 die Ausstellung „9/11: Revolution und Terror“ statt, die sich neben der Zeitungsberichterstattung zu 9/11 auch dem 9. November als einem deutschen „Schicksalstag“ zuwendet und ausgewählte Titelseiten der Jahre 1918 (Novemberrevolution), 1923 (Hitler-Ludendorff-Putsch), 1938 („Reichspogromnacht“) und schließlich 1989 (Fall der Berliner Mauer) in vergleichender Perspektive zusammenbringt.
[17] Der „Stern“ legte seiner regulären Ausgabe vom 13. September noch ein Sonderheft bei und erschien bereits am 17. September mit einem erneuten Heft; sowohl der „Focus“ wie auch „Der Spiegel“ zogen ihre Ausgaben auf den 15. September 2001 vor.
[18] Vgl. dazu etwa die Übersicht in: Die erste Seite. Internationale Schlagzeilen nach dem 11. September 2001, Köln 2002.
[19] Vgl. den von Alice Rose George, Gilles Peress, Michael Shulan und Charles Traub herausgegebenen Fotoband „Here is New York: A Democracy of Photographs“, Zürich 2002.
[20] Gérard Genette, Palimpsestes. La littérature au second degré, Paris 1982, S. 8. – Dieses Bild greift etwa auch der beobachtende Ich-Erzähler in Teju Coles Roman „Open City“ aus dem Jahr 2011 auf: „The site was a palimpsest, as was all the city, written, erased, rewritten.“ (Teju Cole, Open City, London 2011, S. 59)
[21] Vgl. etwa Dienstag 11. September 2001, Reinbek 2001.
[22] Vgl. etwa John N. Duvall, Fiction and 9/11, in: ders. (Hg.), The Cambridge Companion to American Fiction after 1945, Cambridge 2012, S. 181–192.
[23] Alle Fotografien von Reinhard Karger können auf seiner Website http://september-2001.net sowie auf Flickr eingesehen werden: https://www.flickr.com/photos/september-2001 [31.08.2021].
[24] Gespräch mit Reinhard Karger vom 5. Juli 2021, das als Interview einer Begleitbroschüre beigegeben ist, die im Anschluss an die Ausstellung erscheinen wird.
[25] Gespräch mit Reinhard Karger vom 5. Juli 2021.
[26] Vgl. Roland Barthes, La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1984, S. 15.
[27] Vgl. Baudrillard, L’esprit du terrorisme, S. 36.
[28] Vgl. zur Weiterführung von Giddens etwa die Studie von Christian Morgner, Weltereignisse und Massenmedien: Zur Theorie des Weltmedienereignisses. Studien zu John F. Kennedy, Lady Diana und der Titanic, Bielefeld 2009, S. 165f.
Zitation
Jonas Nesselhauf, Die Kopräsenz des Erlebens, Erinnerns, Erzählens. Zur Ausstellung „9/11: Vom Ereignis zum Gedächtnis“ an der Universität des Saarlandes, in: Visual History, 10.09.2021, https://visual-history.de/2021/09/10/die-kopraesenz-des-erlebens-erinnerns-erzaehlens-zur-ausstellung-9-11-vom-ereignis-zum-gedaechtnis-and-der-universitaet-des-saarlandes/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2311
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