Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden
Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel im Interview
Janine Funke: Du hast kürzlich ein Buch geschrieben „Wie wir die Welt sehen. Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“ (Kösel Verlag, München 2022). Darin beschreibst du unter anderem, dass der Konsum von ausschließlich negativen Nachrichten unsere Sicht auf die Welt massiv beeinflusst. Mich hat dieses Buch sehr inspiriert – gerade auch für die wissenschaftliche Arbeit: Wie erzählen wir eigentlich unsere Geschichten? Das Portal Visual History beschäftigt sich ja mit der Bedeutung von Bildern in der Geschichte, daher wird es in diesem Gespräch hauptsächlich um Bilder gehen. Aber vorab möchte ich gerne von dir wissen: Wie ist das Buch entstanden? Was war deine Intention?
Ronja von Wurmb-Seibel: Das war ein Prozess, der ungefähr zehn Jahre gedauert hat. Ich habe von 2013 bis 2014 in Afghanistan gelebt und als Reporterin gearbeitet. Schon während der ersten Wochen habe ich gemerkt, dass die Geschichten, die ich selbst produzierte, solch eine negative Wirkung auf mich hatten, dass ich glaubte, meine Arbeit nicht mehr machen zu können. Von konstruktivem Journalismus hatte ich damals noch nichts gehört. Aber mir wurde klar, dass ich für mich selbst einen neuen Fokus brauchte, bei jeder von mir erzählten Geschichte auch einen Aspekt zu zeigen, der mir Mut machte. Das bedeutet nicht, die Realität zu verharmlosen oder alles positiv zu sehen. Es geht darum, Möglichkeiten aufzuzeigen, wie wir etwas verändern können. Das mögen einzelne Menschen sein, die ich vorstelle, oder auch Orte, an denen bestimmte Dinge schon umgesetzt worden sind. Ich habe dann damit begonnen, solche Perspektiven in meine Reportagen mit aufzunehmen. Das tat mir persönlich gut, aber meine Geschichten wurden auch besser, handwerklich besser, vollständiger.
Als ich 2015 nach Deutschland zurückgekehrt bin, habe ich in den nächsten Jahren damit begonnen, meinen eigenen Konsum von Nachrichten zu verändern. Das fiel in die Zeit von Trump, die AfD zog in den Bundestag ein, und in Großbritannien wurde der Brexit vorbereitet. Der häufige Nachrichtenkonsum führte nicht nur zu schlechter Laune bei mir, sondern mein Horizont verengte sich so sehr, dass ich mir gar nicht mehr vorzustellen vermochte, dass all diese Probleme irgendwann einmal gelöst werden könnten.An dem Punkt wurde mir plötzlich klar: Wenn ich das so empfinde, ändern sich meine Wahrnehmungen, meine Entscheidungen und auch mein Handlungsspielraum. Und da es mir immer sehr wichtig war und ist, dass ich handlungsfähig bleibe, habe ich entschieden, auf den Konsum von Nachrichten zu verzichten. Ehrlich gesagt hatte ich am Anfang schon Bedenken, da ich ja als Journalistin arbeite und informiert sein muss. Aber weil ich in meinem Beruf Zeit zum Recherchieren habe, kann ich eben auch Sachbücher lesen, Dokumentarfilme ansehen oder auch eine Studie genau analysieren. Insofern war ich schließlich in den Bereichen, die für meine Arbeit wesentlich oder entscheidend sind, trotzdem sehr gut informiert, vielleicht sogar besser, weil mein Wissen mehr Hintergrund hatte.
Auf diesem Weg bin ich dann auf das Konzept des konstruktiven Journalismus gestoßen. Ich habe viele Studien darüber gelesen, was der Konsum von ausschließlich negativen Nachrichten zwangsläufig mit uns macht. Irgendwann habe ich damit begonnen, Seminare zu dem Thema zu geben, davon zu erzählen und letztendlich dieses Buch zu schreiben. Denn solche Fragen werden aktuell in vielen Redaktionen diskutiert. Das hat mit Corona begonnen und sich mit dem russischen Angriff auf die Ukraine verstärkt. Viele Journalist:innen haben mir erzählt, dass sie sich selbst überfordert fühlten bei diesen Themen und nicht mehr abschalten könnten. Und sie fragen sich: Wenn das mit uns schon so viel macht, wie geht es dann unseren Konsument:innen?
Umfragen und Studien zeigen, dass sich immer mehr Menschen lösungsorientierte Nachrichten wünschen. Einige haben es so gemacht wie ich und ihren Nachrichtenkonsum stark eingeschränkt, weil der Fokus so negativ ist. Die Diskussionen finden auf jeden Fall statt. Das heißt aber nicht, dass alle Journalist:innen solch ein Konzept sofort umsetzen wollen. Im Frühjahr 2022 wurde das Bonn Institute für konstruktivem Journalismus gegründet. Ziel ist es, einzelne Journalist:innen in dem Bereich fortzubilden, aber auch, und das ist strukturell noch entscheidender, auf Wunsch in die Redaktionen vor Ort zu kommen und beratend zur Seite zu stehen: Wie können wir das umsetzen? Welche neuen Sendungen und Formate könnten geplant werden? Da tut sich gerade was, gleichzeitig ist die Medienbranche eher behäbig – aber diskutiert wird zumindest aktuell sehr viel darüber.
Wie angekündigt, möchte ich jetzt zu den Bildern kommen. Du konsumierst keine täglichen Nachrichten mehr, aber bist du auf Social Media aktiv? Soziale Netzwerke, Instagram zum Beispiel, funktionieren ja über Bilder. Wie gehst du damit um, wenn Leute dir Fotografien zuschicken und du auf diese Weise doch mit tagesaktuellen Nachrichten konfrontiert wirst?
Ich bin auf Social Media aktiv, folge aber nur ganz wenigen Redaktionen, die auch nicht täglich ununterbrochen News veröffentlichen. Aber natürlich werden auf Social Media aktuelle Nachrichten von allen möglichen Leuten geteilt, daher bin ich schon informiert. Manchmal schalte ich die Accounts auch phasenweise für ein paar Tage oder Wochen stumm. Als die Taliban im August 2021 die Herrschaft in Afghanistan übernommen haben, bekam ich von Hunderten von Menschen Videos und Fotos, teilweise auch Folter-Bilder. Natürlich musste ich einen Weg finden, damit umzugehen, weil ich auch nicht wegschauen wollte und teilweise konkret mit diesen Fällen in meiner Arbeit zu tun hatte. Ich habe mir daher einen visuellen Ausgleich geschaffen und diesen Fotos andere Bilder entgegengesetzt.
Grundsätzlich versuche ich, auch wenn ich mich selbst informiere, sehr gewaltvolle Bilder zu vermeiden. Ich habe die Erfahrung bei meiner eigenen Berichterstattung gemacht, dass Gewalt per se uns in den meisten Fällen nichts beibringt. Manchmal muss Gewalt gezeigt werden, aber viele Menschen machen oft dicht, wenn sie solche Bilder sehen, sodass die Komplexität eines Problems gar nicht mehr verstanden werden kann, weil wir so stark auf das Emotionale reagieren. Ich habe einen Dokumentarfilm gemacht über einen Selbstmordanschlag in einem Theater in Kabul („True Warriors“, DE 2018). Der Anschlag ist komplett gefilmt worden, jedes Detail. In dem Dokumentarfilm darüber haben wir aber ganz bewusst darauf verzichtet, diese Bilder zu verwenden. Sie helfen uns nicht dabei, zu verstehen.
Es gibt aber auch die andere Perspektive: Ist es nicht gerade wichtig, genau solche Bilder zu zeigen? Bilder von Gewalt, von Missbrauch, von Tod. Bezogen auf den Krieg in der Ukraine stellt sich die Frage aktuell, ob das Zeigen von gewaltvollen Fotografien notwendig ist, um klar zu machen, wie grauenvoll dieser Krieg ist und welches Ausmaß an Gewalt dort gerade stattfindet.
Zuerst einmal finde ich es total wichtig, dass Journalist:innen diese Bilder machen und damit das Verbrechen dokumentieren. In Konfliktgebieten sind Fotografien oftmals die einzigen Beweise dafür. Früher war der Beweischarakter eines Bildes ja sogar noch stärker. Durch die Möglichkeit, Fotos zu bearbeiten und zu verändern, verlieren sie heute ja leider teilweise an Beweiskraft.
Die Frage, welche Bilder ich in den Medien zeige, stellt sich nicht nur bei Kriegsverbrechen, sondern zum Beispiel auch bei Unfällen oder Naturkatastrophen. Man muss keine Leichen abbilden, denn auch tote Menschen haben ihre Würde. Ich muss nicht das grausamste Bild auswählen. Persönlich stelle ich mir vor jeder Veröffentlichung die Frage, ob ich Menschen in einer Situation zeigen will, in der sie maximal vulnerabel sind, also zum Beispiel, wenn sie gerade vor einem Bombenangriff fliehen oder nach einem Selbstmordattentat in Todesangst davonrennen. Das ist ein ganz schmaler Grat und eine sehr feine Grenze.
Ich treffe meine Entscheidung meist, indem ich viel mit anderen über die Bildmotive spreche und verschiedene Varianten ausprobiere. Was genau zeigt mir dieses Bild?, frage ich mich. Muss ich zum Beispiel das Foto einer Blutlache zeigen oder gibt es einen anderen Weg? Wenn ich dann zu dem Schluss komme, ja, an diesem Punkt braucht es genau dieses Bild, um das Geschehen zu vermitteln, dann zeige ich es auch. Das ist bei mir ein sehr langwieriger Prozess; ich berichte natürlich auch nicht tagesaktuell. Wenn ich ein solches Bild benutze oder veröffentliche, dann habe ich an mich den Anspruch, dass ich den Grund dafür benennen kann, warum ich in diesem Fall genau das Bild gewählt habe. Das ist der Punkt.
Auf der anderen Seite gibt es auch bestimmte Symbolbilder, die für die Kriegsberichterstattung genutzt werden. Solche Bilder wie z.B. von Soldaten mit Gewehren, von Panzern etc., also von Standardsituationen, die für Krieg stehen, sollen schon vorab bestimmte Assoziationen auslösen. Ist das eine Methode, die du auch einsetzt? Oder siehst du das eher kritisch?
Ja, das sehe ich persönlich ziemlich kritisch. Die meisten von uns haben ja sowieso diese Bilder schon im Kopf. Symbolbilder sind sehr oft stereotypisch. Mein Anspruch ist daher ein anderer: Wie kann ich die Bildsprache nutzen, damit auch das Bild eine neue Erfahrung, eine neue Erkenntnis, ein Brechen von Klischees, von Stereotypen, von Symbolen bringt und mich eigentlich eher überrascht, als die erwarteten Motive zu bringen?
In der Kriegsberichterstattung geht es oft um die Abbildung von Menschen. Unabhängig vom Bildaufbau gibt es Porträtfotos, auf denen Menschen als Opfer abgebildet werden, und andere, die Menschen als Menschen zeigen. Das ist ein ganz wichtiger Unterschied, unabhängig davon, was passiert ist. Der Einsatz von Symbolbildern ist natürlich auch dem eng getakteten Redaktionsalltag geschuldet. Dennoch ist es immer die schlechteste Möglichkeit. Symbolbild kann aber auch Archivbild heißen, das bewusst gebrochen wird. Aber einen Soldaten zu zeigen, wenn es um Krieg geht, trägt zu einer Heroisierung bei. Und das ist nicht das, was Krieg macht. Krieg zerstört, er macht keine Helden.
Gehen wir noch einmal zurück zu Social Media. Bilder dienen auch als Mittel, um Leser:innen auf einen Inhalt zu lenken. Sie werden als Clickbait eingesetzt. Bilder sind also auch ökonomisch relevant und entscheiden, ob Texte gelesen werden oder nicht. Das erlebe ich auch in der historischen Arbeit. Oft wird ein stereotypisches Bild für ein Thema gewählt, um dadurch mehr Aufmerksamkeit für den Beitrag zu finden.
Ja, das ist immer eine unbefriedigende Lösung. Denn wir erzeugen das Stereotyp immer wieder neu, da wir schon in der Bildersuche die Stereotypen wieder aufrufen. Einige Redaktionen auf Social Media lösen das Problem, indem sie zum Beispiel Zeichnungen einsetzen oder den Beitrag mit Grafiken bebildern. Im besten Fall kommt ein Bild nicht illustrativ zu einem Text hinzu, sondern es hat eine eigene Sprache, eine eigene Message, einen eigenen Tonfall. Ich kann mich an kein Beispiel erinnern, wo das mit einem Symbolbild gelungen ist.
Ist es überhaupt möglich, in der täglichen journalistischen Arbeit, die extrem schnelllebig ist, genau diesen Prozess zu reflektieren? Ist Redaktionen bewusst, was für Möglichkeiten es gibt, stärker über die Bildauswahl nachzudenken?
Mir sind diese Fragen erst in Kabul so richtig bewusst geworden. Und das hatte gar nicht unbedingt mit dem Krieg zu tun, sondern ich habe vor Ort berichtet und gemerkt, was diese Berichterstattung mit den Menschen macht. Da habe ich begonnen, mir Fragen zur Bildauswahl zu stellen. Gerade der Dokumentarfilm lebt ja davon, dass wir die „richtigen Bilder“ benutzen, die Bilder, die eben wirklich etwas erzählen. Das macht wirklich einen Unterschied und ist nicht nur ein Nebeneffekt.
Auf Social Media finden sich natürlich die kuratierten journalistischen Inhalte, aber auch eine schiere Masse von Bildern, die eingespielt werden, ohne dass es irgendeine Schranke gibt. Was macht das mit den Menschen? Wird dieses Gefühl der Machtlosigkeit noch verstärkt?
Wir können auf Social Media mittlerweile relativ gut kuratieren, was uns angezeigt wird. Wir entscheiden, welchem Account wir folgen und welchem nicht, ob wir uns Bilder mit Triggerwarnung ansehen wollen oder nicht. Aber klar, negative Informationen haben diesen Effekt grundsätzlich, dass wir uns hilflos fühlen. Und je mehr wir davon konsumieren, desto mehr haben wir dieses Gefühl der Ohnmacht. Bei Bildern kommt noch hinzu, dass sie sich quasi einen direkten Weg in unser Gehirn und in unsere Emotionen bahnen, weil sie viel stärker wirken als Texte oder Audio.
Welches Bild hast du im Kopf, wenn du an den Krieg in der Ukraine denkst?
Leider sehr gewaltvolle: zerbombte Häuser und das Porträt Putins. Er wird viel zu häufig abgebildet, er ist viel zu präsent. Das sind meine größten Kritikpunkte bei der Bild-Berichterstattung über den Ukraine-Krieg: Es werden die angerichteten Zerstörungen gezeigt und Bilder der Angreifer, also von Putin und Co. Das verstärkt ihre Macht und die Angst vor ihnen – und erfüllt damit genau das Ziel von Putin. Daher sollte bei Konflikt-Berichterstattungen nicht nur die Gewalt abgebildet werden, sondern auch der Widerstand dagegen. Kann ich Menschen zeigen, die weitermachen, die nicht aufgeben, die sich zusammentun, die sich helfen. Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden.
Auf der anderen Seite stehen der Krieg und seine Auswirkungen für die Menschen vor Ort nicht mehr im Zentrum unserer Berichterstattung, wie es noch im März dieses Jahres der Fall war. Könnte es sein, dass deswegen wieder mehr starke Bilder eingesetzt werden, um die Gewalt zu vermitteln, den gewaltvollen Krieg wieder in Erinnerung zu rufen?
Bestimmt gibt es einige Redaktionen, die das so machen. Bei all diesen Fragen ist es ja schwer, pauschale Antworten zu geben. Ich habe mir in den ersten drei Wochen nach Beginn des Krieges, Ende Februar, Anfang März, die „Spiegel“-Cover angeschaut. Das waren genau solche Motive: bombardierte Häuser, eine Explosion in Großaufnahme und Putins Porträt, alles ziemlich militärisch. Das bildet aber nicht die komplette Realität eines Krieges ab. Auch in der Ukraine sieht es jetzt nicht überall so aus. Gedanklich können wir uns eine bombardierte Stadt nur schwer vorstellen. Wenn wir jetzt nur solche Bilder zeigen, entsteht irgendwann das Gefühl, dass das alles ganz weit entfernt von unserem Alltag ist und wir nichts damit zu tun haben.
Wenn es aber gelingt, die Situation von Alltag im Krieg zu zeigen – es gibt immer noch Supermärkte, wo die Menschen einkaufen gehen –, dann verbindet uns das wieder viel mehr mit unserer eigenen Realität. Das hilft uns mitzufühlen. Bilder von Panzern, Raketen und Soldaten schaffen dagegen eine Distanz: Das kennen wir nicht aus unserem Alltag in Deutschland. Die richtige Auswahl der Bilder ist also entscheidend: Der Krieg wird abgebildet und gleichzeitig der Alltag. Das ist ja das Brutale an einem Krieg, dass ihn nicht nur Soldaten führen, sondern dass er in den Alltag hineinplatzt und alle betrifft.
In einem Interview im Berliner „Tagesspiegel“ hat der Kriegsfotograf Christoph Bangert gesagt, dass im Krieg zu 90 Prozent eigentlich gar nichts passiere. Da sei viel Langeweile, und die werde eigentlich nie dargestellt. Krieg bedeute auch immer, auf etwas zu warten.
Während meiner Zeit in Afghanistan gab es eine Streitfrage mit fast jeder Redaktion. In meine Texte wurde irgendwann immer ein Satz hineinredigiert, dass sich die Afghan:innen an die Gewalt gewöhnt hätten, der Krieg Alltag geworden sei. Ich fand diese Sätze so schlimm und habe dafür gestritten – und es auch geschafft –, dass sie wieder rausgenommen werden. Denn genau das wollte ich eben nicht vermitteln: dass es in einem Krieg irgendwann normal ist, dass Bomben fliegen und Menschen getötet werden. Gewalt ist niemals normal. Vielleicht führt ein Übermaß an Gewalt zu einer Abstumpfung, aber das macht sie ja nicht normal, sondern zeigt ja nur, dass viele Menschen davon traumatisiert sind.
Wenn wir nur Bilder vom Militärischen zeigen, dann passiert genau das irgendwann. Der Krieg in der Ukraine wird noch nicht so lange geführt, aber in ein, zwei Jahren werden die meisten das Gefühl haben – wie bei der Berichterstattung über Syrien –, bombardierte Häuser sind doch normal. Nein, wir müssen mit den Bildern vermitteln, auch in Syrien ist es immer noch schlimm, und es ist immer noch dramatisch, wenn eine Bombe einschlägt. Das gelingt halt nicht, wenn wir immer nur die Bombardierungen zeigen.
Wenn wir das Wort Krieg hören, entstehen bestimmte Assoziationen. Denn wir haben zu den historischen Kriegen genau diese Bilder im Kopf. Beim Zweiten Weltkrieg zum Beispiel denken wir an zerbombte Städte, Soldaten, Flugzeuge etc.
Das sind meistens Assoziationen von Menschen, die noch nie einen Krieg erlebt haben. Das geht nach meiner Erfahrung an der Realität vorbei. Wenn in den Redaktionen nun Menschen sitzen würden, die selbst einen Krieg erlebt hätten, dann würde die Entscheidung sicherlich oft anders ausfallen. Bestimmt nicht immer, aber häufig. Das Problem stellt sich ja nicht nur bei Kriegen, sondern bei vielen anderen Themen auch. Die Bilder werden von Menschen ausgewählt, die zumeist eine Außensicht haben. Sie suchen unter bestimmten Schlagworten wie „Panzer“, „Soldaten“, „Bomben“ entsprechend ihrer Klischees und Stereotype in den Suchmaschinen und Datenbanken der Agenturen – und bekommen eben die entsprechenden Bilder.
Wie ließe sich das verändern?
Es anders machen! Es gibt ja gute Bild-Redaktionen, die es anders machen. Das Bild darf nicht als Beiprodukt angesehen werden, so nach dem Motto: Der Artikel ist fertig, und wir klatschen noch schnell ein Bild dazu. Ein Bild sollte für sich stehen, als eine Message, es sollte eine Geschichte haben und so Aufmerksamkeit hervorrufen. Teilweise ist das natürlich auch eine Geldfrage: Es ist viel günstiger, ein Symbolbild von einer Agentur zu kaufen, als einen Fotografen oder eine Fotografin zu beauftragen. Aber es gibt natürlich auch Redaktionen, die das hervorragend machen. Das ist eine Frage des Willens, der entsprechenden Ausbildung und natürlich dem Bewusstsein, sich immer wieder zu hinterfragen: Wie wirken die Bilder eigentlich?
Du hast ja gesagt, Bilder brennen sich ein, je öfter man sie sieht. Gibt es Bilder, die dich verfolgen oder nicht loslassen? Und wie gehst du damit um, auch privat? Und kann uns der Konsum von Nachrichtenbildern tatsächlich aus der Ferne traumatisieren?
Ja, es gibt Dinge, die mich nicht mehr loslassen. Das sind aber selten Bilder, sondern mehr Situationen, bei denen ich vor Ort war. In einem solchen Fall ist es absolut wichtig, sich Unterstützung zu holen. Denn es gibt ja Wege, damit umzugehen. Das kann ich nicht ersetzen durch irgendeinen Tipp. Grundsätzlich würde ich sagen: Wenn ich merke, es gibt konkrete Bilder, die sich bei mir eingebrannt haben, mich nicht mehr loslassen, sodass ich das Gefühl habe, meine Lebensqualität ist eingeschränkt, dann würde ich mir auf jeden Fall therapeutische Unterstützung holen.
Wenn es eher etwas Grundsätzliches ist, und ich merke, „die“ Bilder tun mir nicht gut, ich fühle mich ausgebrannt und ohnmächtig, dann lautet mein Tipp: Reduktion. Es muss nicht bedeuten, gar keine Nachrichten mehr zu konsumieren, aber auf jeden Fall sollte ich mein Verhalten reflektieren: Wie häufig am Tag konsumiere ich, wo konsumiere ich sie, wie fühle ich mich dabei? Welche Bilder machen mir besonders zu schaffen? Die Idee ist, dass wir uns längere Phasen schaffen, in denen wir keine Nachrichten oder Bilder konsumieren, damit dieses Ohnmachtsgefühl nicht unseren Alltag durchlöchern kann. Ich will besser unterscheiden können: Das eine ist „mein“ Alltag, und das andere ist das, was in der Welt gerade schief läuft.
Kann es sein, dass diese Masse an negativen Nachrichten auch ein Grund dafür ist, warum Fake News und Desinformationen so gut laufen? Weil sie einfache Erklärungen für Ohnmachts-Situationen liefern?
Ich bin überhaupt keine Expertin für Fake News, deswegen kann ich nur wenig dazu sagen. Ich denke aber, es ist anders herum. Redaktionen und Konsument:innen profitieren sehr davon, wenn es gelingt, Sachverhalte in ihrer Komplexität darzustellen. Also eben nicht zu sagen, es ist so und so, basta! In der Berichterstattung könnten zum Beispiel die Probleme bei der Recherche benannt werden, die Wissenslücken, das Scheitern. Wenn Menschen erfahren, wie komplex eine Sache ist, steigt die Glaubwürdigkeit einer Reportage grundsätzlich – so habe ich es jedenfalls erlebt. In den Redaktionen gibt es oft Zweifel, ob die Leser:innen mit so viel Komplexität überhaupt umgehen können. Meine Erfahrung ist genau umgekehrt: Viele Konsument:innen wünschen sich diese Komplexität. Das ist natürlich kein Zaubermittel gegen Fake News, aber es würde bestimmt helfen.
… und Transparenz …
… und Transparenz. Es ist auch wichtig, die Grenzen der Berichterstattung zu zeigen. Bei (fast) jeder guten Recherche gibt es irgendwas, eine Person, eine Information, an die man nicht herankommt. Genau dies sollte transparent gemacht werden, auch die Recherche selbst kann zum Thema werden. Das hängt natürlich vom Einzelfall ab und muss auch gar nicht so ausführlich sein, aber hier und da mal ein Satz dazu erhöht die Transparenz ungemein. Ich kann auch mal sagen, dass ich etwas nicht weiß. Das ist absolut nicht unprofessionell. Ganz im Gegenteil. Es ist natürlich, dass wir nicht alles wissen und auch nicht alles herausfinden können. Und wenn wir das transparent machen, ist das deutlich besser als die vielen Floskeln, die leider oft stattdessen verwendet werden.
Hast du zum Schluss noch einen Tipp oder würdest du verraten, wo du Nachrichten konsumierst oder allgemein dich beliest? Welche Plattformen kannst du empfehlen für positiven Journalismus, konstruktiven Journalismus?
In vielen Redaktionen gibt es einzelne Journalist:innen, die konstruktiv berichten, und viele, die es nicht tun. Wenn mir ein Text oder Beitrag gefällt, folge ich der Autorin/dem Autoren auf Social Media, um zu erfahren, worüber sie noch so berichten. Ansonsten kann ich die Website des Bonn Institute für konstruktivem Journalismus empfehlen. Dort werden Journalist:innen vorgestellt, die es sich zum Prinzip gemacht haben, konstruktiv zu berichten. Für Einsteiger:innen gibt es verschiedene Arten von Newslettern oder Apps, wo jeweils aus mehreren Redaktionen die konstruktiven Beiträge ausgewählt werden. Das geht manchmal ein bisschen stärker in Richtung Good News, mehr, als ich persönlich für mich den Anspruch habe. Aber es ist ein guter Einstieg. Ich kann nur empfehlen, gleichzeitig immer mal wieder andere Quellen auszuprobieren. Je mehr Quellen wir konsumieren, desto umfassender ist unser Wissen zu einer Sache.
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Interview fand am 13. Juli 2022 per Zoom statt.
Ronja von Wurmb-Seibel arbeitet als Autorin, Filmemacherin und Journalistin. Sie studierte Politikwissenschaften in München und arbeitete als Redakteurin im Politik-Ressort der „Zeit“. Im Jahr 2013 zog sie für zwei Jahre nach Kabul, um von dort für die „Zeit“ und andere Medien zu berichten. Zusammen mit Niklas Schenck produzierte Ronja von Wurmb-Seibel Dokumentarfilme über Afghanistan. Ihre Arbeiten wurden mehrfach ausgezeichnet. Im Jahr 2022 erschien ihr Buch „Wie wir die Welt sehen. Was negative Nachrichten mit unserem Denken machen und wie wir uns davon befreien“.
Janine Funke arbeitet als freie Historikerin, Redakteurin und Podcast-Host für verschiedene Bildungs- und Wissensformate. Zur Zeit arbeitet sie als Redakteurin für das ZDF-Format „Terra X Geschichte – der Podcast“, schreibt für Spiegel-Online und GEO Epoche und co-hostet den Podcast des Leibnitz-Zentrums für Zeithistorische Forschung. Als assoziierte Doktorandin schreibt sie am ZZF ebenfalls ihre Doktorarbeit zur Computerisierung der Bundeswehr und NVA.
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: Bilder des Krieges in der Ukraine,
hg. v. d. Visual History-Redaktion
Zitation
Janine Funke, Es geht darum, ein Gleichgewicht zu finden. Die Journalistin Ronja von Wurmb-Seibel im Interview, in: Visual History, 20.09.2022, https://visual-history.de/2022/09/20/funke-wurmb-seibel-es-geht-darum-ein-gleichgewicht-zu-finden/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2415
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