„Ich dachte, wenn ich die Umstände zeige, helfe ich, sie zu beseitigen …“
Erinnerungen an den „Stern“-Fotoreporter Mihály Moldvay (1938-2024)

Abb. 1: Mihály Moldvay. Porträt gezeichnet von Bettina Bexte für die Ausstellung „Anne und Miša“, westend | kultur.werkstatt Bremen, 4.3.2022-1.4.2022, © Bettina Bexte mit freundlicher Genehmigung
Mihály Moldvay ist 1962 als „Gastarbeiter“ aus Jugoslawien in die Bundesrepublik gekommen. Statt – wie gedacht – nach einiger Zeit mit dem als Autoschlosser verdienten Geld in seine Heimat zurückzukehren, ist er geblieben. Moldvay machte eine Ausbildung zum Fotoreporter und arbeitete 35 Jahre lang als einer der wenigen festangestellten Fotojournalisten beim „Stern“.
Vor etwas mehr als einem Jahr, am 1. Januar 2024, ist der „Stern“-Fotoreporter Mihály Moldvay im Alter von 85 Jahren verstorben. Ich habe ihn im Frühjahr 2020 kennengelernt und Interviews sowie viele Gespräche mit ihm geführt. Gemeinsam sahen wir uns in seinem Wohnzimmer seine Fotoreportagen an und viele Bilder, die nicht für die Reportagen ausgesucht wurden und in dicken Leitz-Ordnern darauf warteten, wiederentdeckt zu werden.
Er erzählte mir seine Lebensgeschichte: Miša, so wurde er in Deutschland von Freunden und Kolleg:innen genannt, wurde 1938 in Belgrad geboren. Gemeinsam mit Ungarn, Serben, Banater Schwaben und Sinti und Roma ist er in dem Vielvölkerlandstrich Vojvodina in Jugoslawien in dem kleinen Dorf Kikinda aufgewachsen. Seine Familie gehörte dort zur ungarischen Minderheit. „Ich habe mich in allen diesen vier Kulturen zu Hause gefühlt“,[1] erzählte er. In diesem multiethnischen Zusammenleben entwickelte Moldvay einen offenen Umgang mit Menschen und ein großes Interesse an ihnen und ihrem Miteinander. Beide Eigenschaften sollten seine spätere Arbeit als Fotoreporter prägen.
Nach einer Lehre zum Autoschlosser diente er zwei Jahre in der jugoslawischen Volksarmee in Mazedonien und dem Kosovo und machte eine Ausbildung zum Fahrlehrer. Anschließend lebte er zwei Jahre in Slowenien. Im Jahr 1962 wurde Mišas Wunsch, zu reisen und die Welt kennenzulernen, so groß, dass er sich entschloss, als „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik zu gehen. Er träumte davon, als LKW-Fahrer die Welt kennenzulernen, Geld zu verdienen und sich ein Motorrad zu kaufen.

Abb. 2: Zeichnung aus der lebensgeschichtlichen Graphic Novel-Ausstellung „Anne und Miša“ © Bettina Bexte mit freundlicher Genehmigung
Der junge Arbeitsmigrant verdiente sich sein erstes Geld in Autowerkstätten und auf Baustellen an verschiedenen Orten in Süddeutschland. Sein Stundenlohn war stets deutlich niedriger als der seiner deutschen Kollegen, obwohl er mindestens ebenso qualifiziert gewesen ist. In München lebte er mit sechs Slowenen auf einem Zimmer. Nach einiger Zeit zog es ihn nach Hamburg. Auch dort reparierte er Autos in einer Werkstatt und teilte sich mit sechs türkischen Arbeitsmigranten einen kleinen Raum mit Etagenbetten.

Abb. 3: Zeichnung aus der lebensgeschichtlichen Graphic Novel-Ausstellung „Anne und Miša“ © Bettina Bexte mit freundlicher Genehmigung
Eines Tages sah Moldvay in der Hamburger U-Bahn eine Werbeanzeige für eine Ausbildung zum Foto- und Reisereporter. Obwohl er bis dahin noch nie eine Kamera in der Hand gehalten hatte, meldete er sich an – es war wieder die Aussicht, fremde Länder zu erkunden, die ihn lockte. Für den Unterricht kaufte er sich eine Exakta-Kamera mit silbernen Schutzleisten, weil sie ihn an teure amerikanische Limousinen erinnerte. Um die Kosten für die private Fotoschule aufzubringen, übernahm er Nachtschichten im Hamburger Hafen. Sein Zimmer neben einer Werkstatt finanzierte er mit Autoreparaturen an den Wochenenden.
Moldvay begann den Alltag der Menschen in Hamburg zu fotografieren. Er lichtete besonders solche Dinge ab, die ihm kurios erschienen im westlichen Leben, zum Beispiel, am Wochenende das Auto zu waschen. Nach und nach bekam er Aufträge vom „Hamburger Abendblatt“ und machte unter anderem mit einer Reportage über den „Prager Frühling“ die „Stern“-Redaktion auf sich aufmerksam. 1969 holte ihn Rolf Gillhausen zum „Stern“.
„Ich fand tatsächlich, unglaublich, endlich was meiner – Struktur – meinem unermüdlichen, lebhaften, energiegetriebenen ICH entsprach, meinen Traumjob – Fotojournalist – über das Hamburger Abendblatt beim Stern. Beim Stern konnte ich mein (unbewusstes) Talent und meine Energie loswerden und meinen großen Wunsch verwirklichen, die ganze Welt zu bereisen.“[2]
Journalistisch wertvoll war aus Sicht des „Stern“ auch Moldvays jugoslawischer Pass, mit dem er ungehindert reisen konnte. In der Redaktion galt er als der „Spezialist für den Ostblock und für soziale Reportagen“.[3] Für ihn selbst, so sagte Moldvay rückblickend, waren seine Reportagen über die Migration in die Bundesrepublik sein Hauptthema. Seine persönlichen Erfahrungen als Arbeitsmigrant ließen ihn die Geschehnisse genau verfolgen. Moldvay sah und verstand die Menschen, die ankamen, mit anderen Augen als die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Er kannte ihre Bedürfnisse und Nöte im Alltag eines ihnen fremden Landes. „Meine Reportagen sollten die Ungerechtigkeit der sozial Benachteiligten zeigen.“[4]
In den Redaktionssitzungen setzte er sich immer wieder dafür ein, über die Situation der Arbeitsmigrant:innen berichten zu dürfen.[5] Dabei machte Moldvay Menschen sichtbar, die nicht im Mittelpunkt des öffentlichen „Gastarbeiter“-Narrativs standen. Entgegen zu dem männlich dominierten „Gastarbeiter“-Motiv begleitete er zum Beispiel eine Gruppe weiblicher jugoslawischer Arbeitskräfte ein halbes Jahr mit seiner Kamera von ihrer Vertragsunterzeichnung der Anwerbeverträge, dem Abschied von ihren Familien bis hin zu ihrem neuen Leben in Deutschland.[6]

Abb. 4: „Die Mädchen aus Mostar“. Von Moldvay fotografiert vor der historischen Brücke Mostars am Ufer der Neretva. Die Frauen haben an diesem Tag, dem 2. März 1973, das Angebot erhalten, als Arbeitsmigrantinnen in die Bundesrepublik zu gehen. © Mihály Moldvay mit freundlicher Genehmigung

Abb. 5: Moldvay fotografierte die Frauen an einer Schnellstraße im Kreis Villingen. Die Körperhaltung und die Kleidung der jungen Frauen haben sich verändert und stehen gemeinsam mit dem Motiv der Schnellstraße für das neue Leben in der Bundesrepublik. Erich Kuby/Mihály Moldvay, Die Mädchen aus Mostar, in: stern, Nr. 47/1973, 15.11.1973, S. 26-35, hier S. 28-29 ©
1981 fotografierte er für eine Reportage über migrantische Künstler und berichtete darüber, wie diese das Verlassen ihrer Heimat und das Leben als „Gastarbeiter“ in ihren Werken verarbeiteten.[7]

Abb. 6: Diese Fotografie zeigt den Künstler Ihsan Ece neben seinem im Blumenkasten seines Fensters installierten Objekt „Ahmet in Deutschland“. Ahmet ist ein anatolischer Bauer und befindet sich eingeklemmt in einem Ofenrohr. Ece möchte damit die „Einschränkung des Lebens durch die Normen und Zwänge der Industriegesellschaft [verdeutlichen]“. Die Fotografie ist Teil der Reportage. Darin ist sie als Farbfotografie abgedruckt: Zit. nach: Hagen Rudolph/Mihály Moldvay, Bilder aus der Isolation, in: stern, Nr. 46/1981, 05.11.1981, S. 110-128, hier S. 113. © Mihály Moldvay mit freundlicher Genehmigung

Abb. 7: Kind, das aus dem Fenster schaut. Aufmacherfotografie der Reportage „Die Kinder der Gastarbeiter“, Hagen Rudolph/Mihály Moldvay, Die Kinder der Gastarbeiter, in: stern, 52/1980, 17.12.1980, S. 60-74 ©
Mihály Moldvay sah seine mediale Reichweite als Privileg und Pflicht zugleich, denn er wollte die Situation der Arbeitsmigrant:innen mit seinen Fotos zum Positiven verändern. Bei seinen Bildern ging es ihm nicht um perfekt komponierte Aufnahmen, sondern darum, das Medium zu nutzen, um soziale Missstände sichtbar zu machen und Menschen mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen zu zeigen. Mit der Zeit war es nicht nur die Lage der Migranten, die er öffentlich machen wollte, sondern auch die Situation anderer Gruppen sozial benachteiligter Menschen, wie unter anderem seine Reportage „Das Wunder unter der Brücke“ über Obdachlose in St. Pauli verdeutlicht.[9] Moldvay war mit seiner Kamera nicht nur „nah dran“, sondern stand in Kontakt mit den Menschen, die er aufnahm. 1984 fotografierte Moldvay eine Reportage über türkische „Gastarbeiter“, die rund zwanzig Jahre lang bei Mannesmann in Duisburg-Hüttenheim gearbeitet hatten und nun im Zuge des „Rückkehrhilfegesetzes“ in ihre Heimatländer zurückkehren sollten.[10]

Abb. 8: Diese Seite ist Teil der Reportage „Die Heimatvertriebenen“. Moldvay zeigt den Schmerz des Abschiednehmens nach etwa zwanzig Jahren Lebensmittelpunkt in der Bundesrepublik. Gerhard Kromschröder/Mihály Moldvay, Die Heimatvertriebenen. Exodus der Türken, in: stern, Nr. 10/1984, 01.03.1984, S. 20-29, hier S. 22-23 ©
„Da ich mich schon seit Jahren mit den Problemen der Gastarbeiter beschäftigte, fuhr ich nach Duisburg, von wo der Aufbruch von 900 türkischen Gastarbeitern und ihren Familien stattfinden sollte. Was ich dort gesehen und erlebt habe, übertraf meine Erwartungen bei weitem. Es gab traurige und sogar dramatische Abschiede. Ich wurde sehr freundlich aufgenommen, und fast alle waren damit einverstanden, von mir fotografiert zu werden. Die Vorbereitungen zur Abreise dauerten einige Tage. Schon nach zwei Tagen war ich einer von ihnen. Wir feierten, tranken, aßen und weinten zusammen.“[11]
Rückblickend ordnete der Fotoreporter seine sozialkritischen Reportagen so ein: „Meine Arbeit – meine Fotos verhinderten leider nicht den steigenden Hass, auch nicht die Respektlosigkeit – ich war naiv. Ich dachte, wenn ich die Umstände zeige, helfe ich sie zu beseitigen, aber daraus wurde nix. [Es war] nur [eine] Dokumentation.“[12] Aus wissenschaftlicher Sicht sind seine Fotografien allerdings mehr als das. Sie ergänzen die visuellen Erzählungen von Migration durch Moldvays Innenperspektive. In der Medienlandschaft der 1970er und 1980er Jahre wurde Mihály Moldvay zu einem wichtigen Bildgeber der Arbeitsmigrant:innen. Seine persönliche Geschichte, sein Engagement für die Situation dieser Menschen und die Reichweite, die seine Bilder im „Stern“ erfuhren, machen seine fotografische Arbeit außergewöhnlich.
In seinen letzten Lebensjahren kochte Moldvay für Obdachlose und brachte ihnen auf seinem Fahrrad sonntags ein warmes Essen vorbei. Mit dem Herzen immer mit seiner alten Heimat verbunden, war er trotz seines beruflichen Erfolgs nie ganz angekommen in Deutschland. Die innere Zerrissenheit der Migrant:innen zwischen der Sehnsucht nach der Heimat und dem Leben in Deutschland, die er in seinen Reportagen zeigte, kannte er auch von sich selbst. Eigentlich fühle er sich wie einer der Obdachlosen, sagte er in einem unserer letzten Gespräche. Seine Fotografien bleiben als Ausdruck seines Engagements: Mit ihnen wollte er einen Beitrag leisten, damit sich die Menschen in ihrer Individualität sehen, anerkennen und respektieren.[13]
[1] Die biografischen Informationen über Mihály Moldvay stammen, soweit nicht anders gekennzeichnet, aus dem lebensgeschichtlichen Interview. Zit. nach: Violetta Rudolf, Mihály Moldvay: Lebensgeschichtliches Interview mit Mihály Moldvay, 08.07.2021, Lüneburg/Hamburg (unveröffentlicht).
[2] Zit. nach: Mihály Moldvay, selbstverfasster Text „Stirb nicht in Vertrauen der Zukunft!“ Wer ist Miša (Moldvay)? Und was will der? Hamburg 2020-2021, S. 1f. (Der besseren Lesbarkeit willen wurde der Text grammatikalisch leicht angepasst; V.R.)
[3] Anlässlich Moldvays 25. Jubiläums beim „Stern“, das er mit seinem Kollegen Perry Kretz teilte, gab es die Ausstellung „Brennpunkte“ aus 25 Jahren „Stern“-Fotografie mit Bildern von Moldvay und Kretz. In der Eröffnungsrede stellte der Chefredakteur Werner Funk die beiden Fotoreporter vor. Zit. nach: Wolfgang Behnken/Werner Funk, Manuskript Eröffnungsrede, Hamburg 14. November 1994.
[4] Ebd., S. 2.
[5] Violetta Rudolf, Mihály Moldvay: Interview mit Mihály Moldvay, 16.04.2020, Lüneburg/Hamburg (unveröffentlicht).
[6] Erich Kuby/Mihály Moldvay, Die Mädchen aus Mostar, in: stern, Nr. 47/1973, 15.11.1973, S. 26-35.
[7] Hagen Rudolph/Mihály Moldvay, Bilder aus der Isolation, in: stern, Nr. 46/1981, 05.11.1981, S. 110-128.
[8] Hagen Rudolph/Mihály Moldvay, Die Kinder der Gastarbeiter, in: stern, 52/1980, 17.12.1980, S. 60-74; dies., Leben auf Abbruch, in: stern, Nr. 44/1980, 23.10.1980, S. 106-124.
[9] Kai Hermann/Mihály Moldvay: Das Wunder unter der Brücke, in: stern, Nr. 08/96, S. 42-56.
[10] Gerhard Kromschröder/Mihály Moldvay, Die Heimatvertriebenen. Exodus der Türken, in: stern, Nr. 10/1984, 01.03.1984, S. 20-29.
[11] Zit. nach: Mihály Moldvay, Aufbruch, in: ReiseBank AG, Reisemomente festgehalten. Gewinner des ReiseBank-Fotowettbewerbs, S. 14-17, hier S. 14.
[12] Moldvay, „Stirb nicht in Vertrauen der Zukunft!“, S. 3. (Der besseren Lesbarkeit willen wurde der Text grammatikalisch leicht angepasst; V.R.)
[13] Eine Publikation von Violetta Rudolf über Mihály Moldvay und sein fotografisches Werk ist in Arbeit. Eine Graphic Novel mit fünf Biografien von Menschen mit Migrationshintergrund, darunter Mihály Moldvay, von Bettina Bexte soll im Herbst 2025 im avant-verlag erscheinen.
Zitation
Violetta Rudolf, „Ich dachte, wenn ich die Umstände zeige, helfe ich, sie zu beseitigen …“ Erinnerungen an den „Stern“-Fotoreporter Mihály Moldvay (1938-2024), in: Visual History, 04.03.2025, https://visual-history.de/2025/03/04/rudolf-erinnerungen-an-den-stern-fotoreporter-mihaly-moldvay/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2852
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