„Das Ende der DDR ist nicht das Ende der Bilder“

Eine Publikation zeigt bekannte und unbekannte Fotografien der späten DDR

Rötliches Cover mit schwarzer Schrift

Cover: An den Rändern taumelt das Glück. Die späte DDR in der Fotografie, hg. von Annett Jahn und Ulrike Mönnig, Verlag: M BOOKS Weimar ©

Gäbe es einen Preis für den raffiniertesten Titel einer Ausstellung,[1] der gekonnt Poesie und Metapher miteinander kombiniert, dann stünde „An den Rändern taumelt das Glück“ wohl auf der Shortlist. Der gleichlautende Begleitband zur Ausstellung überträgt diesen feinsinnigen Titel zudem in ein visuelles und haptisches Erlebnis. Ein Buch, dessen Gestaltung exzellent auf die abgebildeten Fotografien und Texte abgestimmt ist, das tatsächlich ein Glücksempfinden beim Betrachten, Blättern und Lesen auslösen kann. Einziger gestalterischer Wermutstropfen sind die in dem Falz versteckten kleinen Bildtitel, die das Auffinden der Informationen zu Ort, Zeit und Fotograf:in etwas erschweren.

Doch das Versprechen der Herausgeberinnen Annett Jahn und Ulrike Mönnig, die Vielfalt der fotografischen Bilder der späten DDR zu zeigen und bekannten Fotografien und Fotograf:innen unbekannte Bilder und Akteur:innen zur Seite zu stellen, löst diese Publikation zweifelsohne ein. Auf gut 200 Seiten bietet der Band hochwertige Abbildungen von Schwarz-Weiß- und Farbfotografien, die eine thematische, motivische, biografische und auch regionale Bandbreite aufmachen, wie sie kaum ein zweiter Bildband zur Fotografie in der DDR entfaltet. Das Gros der Bilder ist aus den 1970er und 1980er, ein kleinerer Teil aus den frühen 1990er Jahren.

Zwei Farbfotografien: links: der Hof einer Mietskaserne mit Sonnenschirmen; rechts: eine Gruppe von Menschen auf einer Wiese, die ein Stück Tapete o.Ä. vor ihren Kopf halten.

Jahn/Mönnig (Hg.), An den Rändern taumelt das Glück, Doppelseite 12/13, links: Fotograf: Harald Kirschner, Halle/Saale, 1988 ©; rechts: Fotograf: Claus Bach, 1989 ©

Welcher Rand genau gemeint ist, wo sich das Glück taumelt und unstet fortbewegt, erläutern die Herausgeberinnen nicht. Es bleibt der Lesenden überlassen, ob sie bei Rand an die physische Grenze der DDR denkt oder an die Nischen, also jene Lebensräume abseits der politischen und medialen Aufmerksamkeit in der DDR, oder an die unveröffentlichten Fotoarbeiten in den Schubkästen und Archivablagen der Fotografierenden. So oder so bleibt es ein Aufruf, herkömmliche Betrachtungen über Bord zu werfen und den Blick auf das bisher Ungesehene zu richten.

Von den knapp 40 vertretenen Fotograf:innen im Buch gehören zu den überraschenden Positionen unter anderem Seiichi Furuya, Wolfgang Gregor, Barbara Metselaar Berthold, Katharina Müller, Christine Radack, Jim Schütz und Ines Thate-Keler. Es sind Arrangements, wie das auf der Doppelseite 10/11 mit Fotografien von Ines Thate-Keler, die irritieren, verblüffen und zum Nachdenken anregen. Zwei Fotos stehen sich gegenüber. auf dem einen ein erschöpft wirkender Mann in einem Clownskostüm, auf dem anderen ein junger Soldat in Uniform. Beide Männer sitzen, sie machen offensichtlich Pause; beide wenden ihren Blick von der Fotografin ab. Die Gegenüberstellung von Clown und Soldat stiftet dazu an, über paradox scheinende Ähnlichkeiten menschlicher Regungen und Gemütszustände nachzudenken.

Zwei Schwarzweiß-Fotos: links: ein Clown sitzt an einem Tisch; rechts: ein junger Mann in Uniform sitzt an einem Tisch.

Jahn/Mönnig (Hg.), An den Rändern taumelt das Glück, Doppelseite 10/11, Fotografin: Ines Thate-Keler; links: 1974; rechts: Thüringen, 1983 ©

Allen im Buch abgebildeten Fotografien ist ein künstlerisches Selbstverständnis der Fotograf:innen gemein, das sich von der Pressefotografie und gewerblichen Aufträgen abgrenzt. Eine Unterscheidung mit fließenden Grenzen, wie es die Herausgeberinnen selbst betonen. In vielen Fällen lässt sich ein Ineinandergreifen von Aufträgen und freien Arbeiten beobachten: So konnten aus Aufträgen eigene Ideen werden oder eigene Ideen zu Aufträgen führen. Und auch absolute Freiräume gab es für die Fotograf:innen nicht. Das künstlerische Arbeiten in der Fotografie war vielmehr geprägt durch das permanente Aushandeln von Nähe und Distanz, vom Austarieren staatlicher, institutionell vermittelter Wunschvorstellungen und künstlerischem Eigeninteresse der Fotografierenden. In dieser Pendelbewegung blieben sie der kulturpolitischen Doktrin unterworfen. Aus heutiger Perspektive überrascht mitunter, wie systemabgewandt und DDR-kritisch die eine oder andere Fotoserie sein konnte, ohne dass sie in den Giftschränken der Verlage und Kommissionen verschwand, während wesentlich unscheinbarere Arbeiten nicht publiziert werden konnten.

Wie lohnenswert es ist, diese Arbeitsbedingungen, diese charakteristischen Ambivalenzen zu rekonstruieren, zeigt der Foto-Historiker Axel Doßmann in einem längeren Beitrag über Wolfgang Gregors Porträt-Serie im Berliner Glühlampenwerk Narva. Die Langzeitstudie der Narva-Arbeiter:innen aus den Jahren 1982/83 lässt sich thematisch in die Zeit einordnen. Sie fand Zustimmung bei der Zeitschrift „Neue Berliner Illustrierte“ (NBI), die im Jahr darauf einzelne Fotos abdruckte. Dennoch scheinen die Bilder nicht zu anderen Arbeiter:innen-Porträts jener Zeit zu passen, widersetzen sie sich doch jeglicher politischer Inanspruchnahme. Weder der anstrengende Arbeitsalltag noch das Miteinander der Kolleg:innen werden verherrlicht. Doßmann erkennt vielmehr „soziale Kontrolle“, Schamgefühle, aber auch „Machthierarchien“ in den Bildern. Seine Beobachtungen gleicht er mit selbstkritischen Fragen ab: Was hat der Fotograf in den porträtierten Arbeiter:innen gesehen, was die Dozenten an der Hochschule, wo die Bilder als Diplomarbeit entstanden, was die Redakteure, die die Serie abdruckten, und zu guter Letzt, was sehen wir heute, was können oder auch was wollen wir sehen?

Zwei Schwarzweiß-Fotos hängen an einer Wand: links: eine Frau im Kittel arbeitet mit Lampen; rechts: ein Mann, mit zwei Zigaretten im Mund, und eine Frau an einem Tisch in einer Industriehalle

Fotograf: Wolfgang Gregor, Ausschnitt aus der Porträt-Serie im Berliner Glühlampenwerk Narva 1982/83 ©. Fotografie aus der Ausstellung „An den Rändern taumelt das Glück. Die späte DDR in der Fotografie“, Cottbus, 13. April 2025, Foto: C. Bartlitz

Wie sehr das heutige Betrachten von Fotografie aus der DDR von erlernten und eingeübten Schablonen geprägt ist, die der Gegenwart der Betrachtenden entstammen, und dass die Interpretationen mehr über diese Gegenwart auszusagen vermögen als über die des Bildes und seiner Entstehungshintergründe, führt nicht nur Doßmann, sondern die gesamte Publikation nonchalant vor Augen. Darin liegt eine weitere Besonderheit dieses Buches. Die Bilder werden nahezu wertfrei präsentiert. Sie werden weder als anklagendes noch als beschönigendes Werkzeug eingesetzt, um die DDR zu erklären oder einzuordnen, wodurch den widersprüchlichen, ambivalenten, nicht mehr eindeutig auflösbaren Erfahrungen und Erinnerungen an diese Diktatur Rechnung getragen wird. Das breite Spektrum der vieldeutigen Betrachtungen und Interpretationen von Bildern fangen kurze Bildtexte unterschiedlicher Autor:innen ein. Sechzehn Fotos, sechzehn persönliche Beiträge unter anderem von Anne Rabe, Manja Präkels, Annett Gröschner, Susanne Regener und Steffen Siegel. Jede Beitragende sieht, was sie sehen kann oder auch will. Es ist ein sechzehnteiliges Mosaik an Angeboten, wie Fotografien gelesen und interpretiert werden können – als vorsichtig fragende Annäherungen oder freie assoziative, biografische Erzählungen, als Eingeständnis faktischer Unwissenheit oder auch in Form vorschneller Überinterpretationen abgebildeter Charaktere.

Diese sechzehn deutschen und englischen Texte machen deutlich, dass Fotos keine vergangene Wirklichkeit abbilden, zumindest nicht zweifelsfrei, sondern dass ihr Potenzial vor allem darin liegt, dazu anzuregen, ins Gespräch zu kommen über die unterschiedlichen Assoziationen, die die Bilder bei den Betrachtenden auslösen.

Zwei Schwarzweiß-Fotos: links: ein Mann kniet hinter einer Frau bei einer Bude; rechts: ein Mädchen neben einer riesigen Bierflaschen-Skulptur vor einer Bude.

Jahn/Mönnig (Hg.), An den Rändern taumelt das Glück, Doppelseite 120/121, Fotograf: Wolfgang Gregor, Berlin, ca. 1980 ©

Und doch ist die Fotografie verlockend und wird als Medium eingesetzt, um ein Bild von der DDR zu transportieren. Ob Ausstellungen, Bildbände oder andere Formate der historischen Bildung – sie alle werfen oder entwerfen Blicke auf die Vergangenheit. Das große Interesse lässt sich an der Zahl stetig zunehmender Akteur:innen beobachten, die Fotografien jener Zeit sammeln, Archive anlegen, um die Fotografien „bei der Vermittlung historischer Ereignisse und Prozesse gezielt“ einzusetzen.[2] Sie alle eint die Faszination des Dokumentarischen der Fotografie, die Suggestion des Authentischen, wenn auch nur eines Moments, der festgehalten wurde.

Durchaus zuzustimmen ist der Beobachtung des Rezensenten der Ausstellung in der Wochenzeitung „Der Freitag“,[3] dass in den vergangenen Jahren ein fotografischer Kanon entstanden sei, der die historischen Bildungsangebote und damit die Erinnerungskultur bezüglich der DDR prägt und so zu den Vorstellungen vom Leben in der DDR beiträgt. Vor diesem Hintergrund sind die Ausstellung und die Publikation „An den Rändern taumelt das Glück“ wichtige Schritte, um Reflexionen der heutigen Verwendung der Fotografie aus der DDR anzuregen – sowohl bei den Protagonist:innen als auch bei den Betrachtenden. Denn „das Ende der DDR ist nicht das Ende der Bilder“.

 

An den Rändern taumelt das Glück. Die späte DDR in der Fotografie, hg. von Annett Jahn und Ulrike Mönnig, Publikation begleitend zur gleichnamigen Ausstellung in der ACC Galerie Weimar vom 04.12.2022-12.02.2023, in der station urbaner Kulturen / nGbK Hellersdorf, vom 14.09.2024-15.02.2025 und im Brandenburgischen Landesmuseum für moderne Kunst / BLMK Dieselkraftwerk Cottbus vom 01.03.-11.05.2025, Weimar 2025

Verlag: M BOOKS Weimar, 320 Seiten, 200 Seiten S/W- und Farb-Abbildungen, Gestaltung: Torsten Köchlin, Leipzig, Deutsch / English, https://www.m-books.eu/store/an-den-raendern/

 

 

[1] Link zur Ausstellung in der ACC Galerie Weimar: https://acc-weimar.de/ausstellungen/a/an_den_raendern_taumelt_das_glue-2005.html [04.06.2025].

[2] Vgl. die Website des Archivs der Bundesstiftung Aufarbeitung: https://fotoarchiv.bundesstiftung-aufarbeitung.de/fotobestaende [04.06.2025].

[3] Vgl. Frank Schirrmeister, Mal ohne Harald Hauswald, Besprechung der Ausstellung im Cottbuser Dieselkraftwerk, in: Der Freitag, 03.04.2025.

[4] Leitsatz, mit dem die Ausstellung und die Publikation beworben wurden. Er findet sich u.a. auf der Rückseite des Buches.

 

 

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