Industrie im Fokus
Die Repräsentation der Industrialisierung in den fotografischen Bildwelten des Zarenreichs
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nahm die Industrialisierung in ganz Europa an Fahrt auf und beeinflusste mehr und mehr Menschen. Im Zarenreich veränderte sie das Erscheinungsbild der russischen Städte nachhaltig. Rauchende Schornsteine ergänzten die goldenen Kirchenkuppeln als dominante Punkte in den Stadtsilhouetten. Bevorzugtes Dokumentationsmedium dieser Veränderungen war die Fotografie. Die Entwicklung der Industrialisierung und der Fotografie verlief in Russland parallel.
Ausgehend von dieser Beobachtung, untersucht das Dissertationsprojekt, welche visuellen Diskurse über Industrialisierung im Zarenreich geführt wurden und wie sich die Wahrnehmung des Wandels zur Moderne äußerte. Die Analyse eines solchen Bilddiskurses trägt, besonders in einer Gesellschaft, in der ein großer Teil der Bevölkerung weder lesen noch schreiben konnte, entscheidend dazu bei, neue Erkenntnisse über das späte Zarenreich zu gewinnen und darüber, welche Funktionen Bilder in solchen Gesellschaften erfüllten. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet das Motiv der Fabrik. In Fabriken waren die zentralen Erfahrungen der Industrialisierung wie künstliches Licht, Lärm, Beschleunigung oder die Anpassung des Menschen an Arbeitsabläufe und Maschinen besonders intensiv. Das Projekt untersucht, wie Fotografien diese neuen Wahrnehmungen in eine visuelle Ordnung brachten und welche Intentionen dahinter standen.
Die beiden großen Untersuchungsteile der Arbeit beschäftigen sich einerseits mit der Verwendung der Fotografie innerhalb der Industrie sowie andererseits mit der Adressierung der Fotografie an ein breiteres Publikum. Im ersten Teil wird anhand von Firmennachlässen herausgearbeitet, wie und wofür russische Unternehmen sich der neuen Bilder bedienten. Dabei geht es zum einen um die Präsentation der Betriebe nach außen, zum anderen um die interne Funktion der Bilder. Im zweiten Teil werden unterschiedliche Quellengattungen analysiert, wie Fotografien aus russischen illustrierten Zeitschriften, Darstellungen auf Postkarten, in Werbeanzeigen, Enzyklopädien sowie auf nationalen und internationalen Ausstellungen. Neben der Bildsprache, mit der sich Firmen inszenierten und von Dritten inszeniert wurden, untersucht die Arbeit, welche Themen die Darstellungen aufgriffen, ob sich ein Kanon bestimmter Sujets entwickelte und welche Bereiche nicht abgebildet wurden. Außerdem geht die Arbeit übergeordneten Fragen nach, wie der Rolle des Ersten Weltkriegs und welche Veränderungen das Bild von Industrie in der öffentlichen Diskussion in dieser Zeit erfuhr. Plötzlich wurden die oft skeptisch betrachteten Fabriken zu einem zentralen Element, mit dem sich der Zar seinen Untertanen präsentierte. Darüber hinaus wird das Verhältnis von Mensch und Maschine untersucht. Ab wann finden sich auf Fotografien Menschen, wann war es technisch möglich, Menschen in Fabriken zu fotografieren, und welche Funktionen übernahmen Arbeiter auf Fotografien?
Die aus dem Promotionsprojekt entstehende Monografie ist eine Erweiterung der bestehenden wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Forschungen zur Industrialisierung im Zarenreich. Die Ergebnisse dieser bereits vorliegenden Forschungen werden mit Ansätzen aus der visuellen Geschichte und der neuen Kulturgeschichte kombiniert. Mit dieser Herangehensweise wird gezeigt, wie sich die enormen gesellschaftlichen Veränderungen des langen 19. Jahrhunderts in bildlichen Darstellungen niederschlugen und wie diese Fotografien wiederum die Wahrnehmung der Menschen beeinflussten.