In Erweiterung der Historischen Bildforschung markiert Visual History ein in jüngster Zeit vor allem innerhalb der Neuesten Geschichte und der Zeitgeschichte sich etablierendes Forschungsfeld, das Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet und sich gleichermaßen mit der Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen befasst. Ihren Exponenten geht es darum, Bilder über ihre zeichenhafte Abbildhaftigkeit hinaus als Medien und Aktiva mit einer eigenständigen Ästhetik zu begreifen, die Sehweisen konditionieren, Wahrnehmungsmuster prägen, Deutungsweisen transportieren, die ästhetische Beziehung historischer Subjekte zu ihrer sozialen und politischen Wirklichkeit organisieren und in der Lage sind, eigene Realitäten zu generieren.
Visual History in diesem Sinne ist damit mehr als eine additive Erweiterung des Quellenkanons der Geschichtswissenschaft oder die Geschichte der visuellen Medien; sie thematisiert das ganze Feld der visuellen Praxis sowie der Visualität von Erfahrung und Geschichte. Methodisch ist das Forschungsdesign der Visual History transdisziplinär und offen angelegt. Abhängig von ihren Untersuchungsgegenständen bedient sie sich besonders der Methoden der Kunstgeschichte, der Medien- und der Kommunikationswissenschaft.
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Gerhard Paul, Visual History, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.3.2014
Quelle: Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau ©
Stanislaw Mucha (Krakau), Torhaus Auschwitz-Birkenau, Aufnahme nach der Befreiung des Lagers Mitte Februar/Mitte März 1945. Die Aufnahme zeigt das Torhaus des Vernichtungslagers Birkenau aus der Perspektive der sogenannten Rampe. Am Rande des Fotos ist deutlich der auf den Betrachter zulaufende Stacheldrahtzaun zu sehen. Das „Fot. Nr. 28“ entstammt einem Fotoalbum mit 38 Aufnahmen des befreiten Lagers, das Mucha dem Museum Auschwitz überlassen hat. Dem Album hat Mucha ein Vorwort beigefügt, in dem er schildert, wie er nach der Befreiung des Lagers im Auftrag einer sowjetischen Untersuchungskommission 100 Fotos des befreiten Lagers anfertigte. Weitere Fotos dieser Serie befinden sich heute in Warschau im Polnischen Institut des nationalen Gedenkens (IPN). Das Foto von Mucha zählt zu den bedeutendsten Ikonen des 20. Jahrhunderts. Es ist in Büchern, Zeitschriften und Ausstellungen immer wieder als „Ikone der Vernichtung” reproduziert worden, obwohl es de facto das Torhaus nach der Befreiung zeigt. Durch seinen kompositorischen Aufbau übt das Bild eine geradezu magische Kraft auf den Betrachter aus. Zugleich suggeriert es eine bestimmte Deutung des Holocaust als ein modernes täterloses Verbrechen, die lange Zeit anschlussfähig an strukturalistische Theorien des Holocaust war. Eine der Visual History verpflichtete Analyse der Fotografie von Mucha hätte das Bild zunächst realienkundlich nach den auf der Fotografie abgebildeten Gegenständen sowie ikonologisch nach dem kompositorischen Aufbau sowie der immanenten Triebkraft von diesem bestimmt (Abbildungsrealität). Dem würde die Untersuchung des historisch-politischen Kontextes folgen, in dem das Foto entstanden ist (Entstehungsrealität). Eine dritte Untersuchungsebene hätte sich der synchronen wie diachronen Nutzung und Rezeption des Bildes in unterschiedlichen politischen, kulturellen und medialen Zusammenhängen zu widmen (Nutzungsrealität). Abgeschlossen würde die Analyse mit der Untersuchung der Funktionen und Wirkungen, die das Bild im kulturellen Gedächtnis gezeitigt hat (Wirkungsrealität). Ausführlich zu dieser Fotografie Christoph Hamann, Fluchtpunkt Birkenau. Stanislaw Muchas Foto vom Torhaus Auschwitz-Birkenau (1945), in: Gerhard Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 283-302. – Quelle: Panstwowe Muzeum Auschwitz-Birkenau ©