Das Ballett auf der Strasse
Eine Foto-Ausstellung von Rudi Meisel im ZZF Potsdam
Unter dem Titel „Landsleute“ hat der Fotojournalist Rudi Meisel Bilder aus Reportagen zusammengestellt, die zwischen 1977 und 1987 in der DDR, im Ruhrgebiet und in West-Berlin entstanden sind. Sie sind als Ausstellung – 2015 in der Fotogalerie C/O Berlin gezeigt[1] – nun im Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung zu sehen: Anlass für Fragen an den Fotografen[2] zwischen Zeitgenossenschaft und Geschichte.
Meisels Thema ist der Alltag. Er bereiste die DDR mit der Journalistin Marlies Menge, die für die „Zeit“ akkreditiert war, während für Meisel jeweils Genehmigungen unter Angabe des Themas und der vorgesehenen Orte besorgt werden mussten. So entstanden Fotografien auf dem Berliner Alexanderplatz, aber auch in Vororten und in der Provinz, in abgelegenen Orten wie Zittau oder Bösleben. Einige der Reportagen sind damals auch als Buch erschienen: „Städte, die keiner mehr kennt“[3] ist heute nur noch antiquarisch erhältlich und für sich ein Stück Zeitgeschichte. Denn Texte wie Fotos tragen implizit den Vergleich mit der Bundesrepublik in sich; die Fotos sind stärker kontrastierend ausgewählt: Im Bild gezeigt wird „das Andere“, entweder romantisch-verträumte, von Modernisierung verschonte Orte oder die visuellen Zeichen der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR in ihrer Unterschiedlichkeit zur Bundesrepublik. Der Foto-Reportageband zeigt darüber hinaus eine DDR im Alltag: ein mit sich selbst beschäftigtes Land, Menschen bei ihren täglichen Verrichtungen. Die DDR war Ende der 1970er-Jahre der Bundesrepublik bereits fremd geworden, und so zeigen die Fotos ein Land, das zugleich vertraut und befremdlich scheint.
Die meisten der in den späten 1970er- und 1980er-Jahren in der DDR entstandenen Fotografien erschienen als Illustration zu Marlies Menges Reportagen im „Zeit“-Magazin.[4] Gesucht wurden, wie Meisel bei der Eröffnung seiner Ausstellung im ZZF im November 2016 ausführte, Bebilderungen, die sich auf Textstellen bezogen. Ihre Zahl richtete sich auf den verfügbaren Platz nach Abzug der Werbung. Er habe damals diese Veröffentlichungsform längeren fotojournalistischen Publikationsmöglichkeiten vorgezogen, weil sie ihm häufigere Reisen in die DDR erlaubte. Diese Form eines fotografisch begleitenden Journalismus habe ihm auch die Zeit gegeben, gleichsam nebenbei zu fotografieren.
Die Ergebnisse dieses „Nebenbei“ sind nun in der Ausstellung „Landsleute 1977-1987“ zu sehen. Die Fotografien aus der DDR stehen jetzt in einem Zusammenhang mit zeitgleich entstandenen Bildern aus dem Ruhrgebiet und aus West-Berlin. Gemeinsam ist ihnen ein subtiler Blick auf den Alltag, auch wenn die Bilder hier, im Westen, „in eigenem Auftrag“ entstanden sind.
Dieses Interesse am Alltag zeigt sich in Rudi Meisels Fotografien aus dem Ruhrgebiet. Hier, wo er 1969 bis 1975 an der Essener Folkwangschule Fotografie studiert hat und während eines Freisemesters als Lokalreporter tätig war, fühlt sich Meisel zu Hause. „Das Ruhrgebiet ist Arbeit. Die Menschen sind geradeaus.“ Zugleich ist er fasziniert von der Industrieregion. Wie in einem Maschinenraum sei das, ein Moloch, Metropolis. Die Fotografien zeigen eine von Industrie und Infrastrukturen geprägte Landschaft, vor allem aber die Menschen, die sich darin bewegen. Hier trifft das menschliche Maß auf die gebaute, manchmal auch liegengelassene Realität und vermittelt eine Art Ungerührtheit, eine beiläufige Aneignung, die das Auge des Betrachters rasch von den übergroßen Strukturen der Industrielandschaft auf die auf ihr Tun konzentrierten Menschen lenkt. Durch diesen Blickwinkel werden sich die Fotografien aus der DDR und dem Ruhrgebiet in einer irritierenden Weise ähnlich.
Rudi Meisel bezeichnet seine Fotografien als nicht-hierarchisch. „Es gibt mehrere Geschichten nebeneinander, die man der Reihe nach lesen kann, eine spielerische Erfassung von Leben.“ Er sei, so sagt er, auf der Suche nach dem „Dazwischen“, damit das Foto den Blick öffnet, neugierig macht, gleichsam zu einer Lesereise einlädt. Auch wenn Meisel sich als Flaneur sieht, ist seine Art zu fotografieren harte Arbeit. „Ich schaue mir eine Szene an. Da laufen so viele Schichten, vielfältig und widersprüchlich, und ich will sie in ein Bild bringen. Dann fange ich an zu arbeiten. Ich stehe an einer Stelle vielleicht zwanzig Minuten, was sich anfühlt wie zwei Stunden.“ Das Ergebnis ist, nach strenger Auswahl, „das Ballett auf der Straße“, Menschen und, ganz beiläufig, Ort und Zeitkolorit.
Was in den zehn Jahren zwischen 1977 und 1987 in den beiden Deutschlands an Fotografien entstanden ist, ist nun, mehr als dreißig Jahre danach, zusammen zu sehen. „Ich habe die beiden Deutschlands damals noch getrennt gesehen. Ich fand sie beide interessant, bin aber erst nach 2000 auf die Idee gekommen, die Bilder zusammen zu sehen, ausgelöst durch die Ausstellungen zum 10. Jahrestag des Mauerfalls.“ Meisel hat die damals in völlig unterschiedlichen Zusammenhängen entstandenen Fotografien über Jahre immer wieder neu geordnet, hat nicht mehr nach dem Besondern im jeweiligen deutschen Staat geschaut, sondern nach den Ähnlichkeiten unterhalb der Ebene der offiziellen Politik.
Hat der Blick von heute auf Fotografien, die vor dreißig bis vierzig Jahren in den beiden Deutschlands entstanden, die Bilder verändert? Sind sie historisch geworden, gleichsam Dokumente ihrer Zeit? Meisel hält für diese Frage zwei Antworten bereit: Gegenwärtiger Alltag sei immer langweilig, habe ihm einmal ein Redakteur gesagt, das kenne man doch alles. Er selbst sei dagegen überzeugt gewesen, dass dieser Alltag vergänglich sei. „Fotografie ist Erinnerung. Es sind alles Themen, die uns geläufig sind. Im Grunde kommt man selber in diesen Bildern vor.“
Auch in den Eröffnungsansprachen zur Potsdamer Ausstellung „Zeitzeugen 1977-1987“ wurde dieses Changieren zwischen Zeitzeugenschaft und historischer Distanz mehrfach formuliert. Dies trifft meines Erachtens zunächst einmal die offensichtliche Wiedererkennbarkeit von Zeitkolorit, Dingausstattungen und „Landschaften“, die sich in den Fotografien verdichten. Mir scheint jedoch mehr dahinter zu stecken: Ganz offensichtlich ging es Rudi Meisel darum, Situationen festzuhalten, die ihn erstaunt haben. Die Bilder zeigen damit eine zeitgenössische Reflexion des Typischen wie des Ungewöhnlichen. Sie können deshalb wie eine Alltagsethnografie gelesen werden. Durch ihre Historisierung, also die Präsentation dreißig bis vierzig Jahre nach ihrem Entstehen in einem gänzlich unjournalistischen Zusammenhang, werden sie ihres damaligen Entstehungs- und Verwertungskontextes entkleidet. Die Bilder werden dadurch einerseits verallgemeinernd wahrgenommen, was durch fehlende Kontextualisierung in Form einer journalistischen Veröffentlichung und die jetzt knappen Bildlegenden unterstützt wird, andererseits wirken sie wie visuelle historische Dokumente. In dieser Verbindung kann man sie als Quellen für die longue durée der Lebensweisen in den beiden deutschen Gesellschaften lesen.
[1] Rudi Meisel, Landsleute 1977-1987, Heidelberg 2015.
[2] Interview mit dem Fotografen am 24.10.2016.
[3] Städte, die keiner mehr kennt. Reportagen aus der DDR. Texte von Marlies Menge, Fotos von Rudi Meisel. Mit einem Vorwort von Günter Kuhnert, München: Hanser 1979.
[4] Zu einer kritischen Einschätzung vgl. Axel Doßmann, Sehnsucht nach einem stillen Land. Wie zwei Reporter der „ZEIT im Jahr 1979 die DDR darstellten, in: Zeithistorische Forschungen 5 (2008), H. 23, S. 339-344.
Zitation
Andreas Ludwig, Das Ballett auf der Strasse. Eine Foto-Ausstellung von Rudi Meisel im ZZF Potsdam, in: Visual History, 13.02.2017, https://www.visual-history.de/2017/02/13/das-ballett-auf-der-strasse/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1582
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