Das Fotobuch der Weimarer Republik als Schule des Sehens

Bilder-Bücher, Lese-Bücher. Deutschsprachige Fotobücher der 1920er und 1930er Jahre als Fibeln der Fotografie

Aenne Biermann, 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann Verlag, 1930

Das deutsche Fotobuch in der Weimarer Republik entstand zu einem Zeitpunkt, an dem Fotografie zunehmend den Alltag bestimmte. In den Illustrierten wurden Nachrichten bebildert, also gedruckte Foto-Konstellationen zur schnellen Kommunikation von Inhalten eingesetzt. Im Kino war die schnelle Bilderfolge informativ, unterhaltend, erzählend. Das Fotobuch, das wesentliche Elemente des Fotoessays mit der Form des Buchs verbindet, bietet demgegenüber eine langfristigere Aufbewahrung von Fotografien, übergibt dem Betrachter das eigenständige Erblättern und Zusammenstellen der Sequenz. Es ist auch permanenter als eine Ausstellung an der Galeriewand, kann zudem immer wieder besucht werden, ist portabel und lässt sich im eigenen Tempo betrachten. Das Fotobuch erscheint, so meine These, vor dem Horizont anderer Erscheinungsformen der Fotografie, also vor allem den Illustrierten und dem Kino, als ein Medium, das der Betrachterin oder dem Betrachter die eigene Handlungsfähigkeit vor Augen führt und an die Hand gibt. Die Berührung ist entscheidend – das Umblättern der Seiten, das Halten des Buchs –, all das stellt den Bezug zwischen Betrachtern und Fotografien her. Wesentlich ist dabei auch, dass der Betrachter die Rezeption selbst bestimmen kann – anders als im Kino werden die Hände aktiv mit den Augen des Betrachters zusammengebracht, sodass in der Trias von Auge, Hirn und Hand ein Begreifen der Fotografie stattfinden kann.

Anhand des Fotobuchs der Weimarer Republik wird ein historischer Hintergrund erkennbar, vor dem sich die Fotografie als Medium positioniert, das politisch manipulierbar ist. Konsequenterweise heißt das, dass Fotografie gleichermaßen erkenntnisfördernd wie erkenntnishemmend sein kann. Das Fotobuch ist in diesem Kontext ein pädagogisches Instrument, das die Wahrnehmung von Fotografie auch in anderen Zusammenhängen erleichtert und bewusster erfahrbar macht, weil es die Lese- und Wahrnehmungs-Geschwindigkeit von Fotografie reduziert oder vielmehr dem Betrachter an die Hand gibt, wie schnell oder langsam die Sequenz von Bildern konsumiert wird. Damit regt es zur genaueren Betrachtung und zum Langsam-Lesen und Langsam-Sehen an. Die Berührung durch den Betrachter ist dabei zentral, es geht um das Be-Greifen der Bilder, das mit dem Fotobuch eingeübt wird.

 

Das Fotobuch als Vermittler zwischen Bild und Betrachter

 

Aenne Biermann, 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann Verlag, 1930

Das Fotobuch als Medium erzeugt formal einen Rahmen für die Fotografie, verändert aber darüber hinaus auch die Wahrnehmung von Fotografie und kann so als „Schule des Sehens“ bezeichnet werden. Das Programm der visuellen Alphabetisierung für und durch Fotografie findet im Fotobuch seinen idealen Raum, da das Buch als Medium seit jeher mit der Aneignung von Wissen durch den Akt des Lesens in Verbindung steht. Das Fotobuch bedient sich dieser Lese-Erfahrung und überträgt sie auf die Fotografie. Hier aber bekommt das Lesen einen anderen Charakter, da alles Bild wird und auch der Text sich visuell zum fotografischen Bild verhält. Das Fotobuch ist als Medium zu verstehen, das zwischen Buch auf der einen Seite und gedruckter Fotografie als Abzug auf der anderen Seite vermittelt. Es ist flexibel in der Form der Präsentation, ob es nun gehalten, hingelegt oder aufgestellt wird.

Die Elemente des Fotobuchs von den 1920er Jahren bis heute sind das Seitenlayout, der Aufbau jeder Doppelseite, Text-Elemente wie die Bildtitel, typografische Elemente wie Seitenzahlen, Abstand der Bilder zueinander und der sich daraus ergebende Zwischenraum und die Bildsequenz. Das Erblättern des Fotobuchs gibt dem Betrachter mehr Raum, denn nur in der Interaktion von Buch und Betrachter gelangen die Fotografien als Sequenz zur Sichtbarkeit. Auf diese Weise praktizieren die Betrachter des Fotobuchs eine besondere Form des vergleichenden Sehens, da bereits die Zusammenstellung des Fotobuchs einer vergleichenden und gegenüberstellenden Montage unterworfen ist, an der die Betrachter aktiv mitwirken.

 

Besondere Form des vergleichenden Sehens

 

Aenne Biermann, 60 Fotos, Berlin: Klinkhardt & Biermann Verlag, 1930

Sowohl die Fibel als auch der Atlas sind als verwandte Formen des Fotobuchs zu verstehen, die aufgrund ihrer Ähnlichkeiten wie auch ihrer Differenzen insbesondere in pädagogischer Hinsicht als vergleichende Folie dienen können. Das Fotobuch als „Übungsatlas“ (Walter Benjamin) wird für die fotografische Alphabetisierung eingesetzt. Dies ist eng mit dem vergleichenden Sehen dieses Mediums verbunden. Walter Benjamins Verständnis von Lesbarkeit, das er in verschiedenen Texten in den 1920er Jahren entwickelt hat, kann auch auf Fotobücher angewendet werden, vor allem in der komplexen Annahme, dass ein Lesen immer auch mit einem Halten des Objekts einhergeht. Der Umgang mit den Fotobüchern und der Raum zwischen Buch und Betrachter kommen somit als relevante ergänzende Dimensionen in den Blick. In einem weiteren Schritt wird auch der Atlas sichtbar. Karl Blossfeldts Urformen der Kunst, seine unveröffentlichten „Arbeitskollagen“, und Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne etwa können in den Zusammenhang der fotografischen Konstellation gestellt werden, die ein Wissen „auf einen Blick“ erzeugen soll. Dabei ist allerdings auch Vorsicht geboten, wie Aby Warburg etwa immer wieder betont hat: Fotografische Bilder haben sowohl das Potenzial zur Erleuchtung, wie sie auch geeignete Mittel zur Manipulation sind. Das Fotobuch ist eine Schule des Sehens, weil das Sehen von Fotografien in die Hände des Betrachters gegeben wird, aber eben dieser Raum lässt sich nicht eindeutig politisch festschreiben.

Das Fotobuch als Medium löst jedoch in der Tat den Anspruch ein, ein vergleichendes Sehen zu trainieren, das letztlich eine Schule des Sehens etablieren hilft. In diesen Schulen des Sehens, denn jedes Fotobuch ist anders, kommt das Lesen-Lernen und das Sehen-Lernen immer wieder neu zum Zuge. Es ist an die Hand der Betrachtenden geknüpft und niemals abgeschlossen. So wird das Fotobuch zu einem demokratischen Medium, durch das die visuelle fotografische Umgebung eigenständig erkannt werden kann.

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