Orientalismus und Okzidentalismus in Plakaten (1945-2001)

Die Migration visueller Stereotype von Ost nach West und von West nach Ost

In meinem Forschungsprojekt geht es um Plakate als eine spezielle Form der Gebrauchsgrafik. Gegenübergestellt und gleichzeitig miteinander in Beziehung gebracht werden „okzidentale“ und „orientalische“ Plakate, vornehmlich Werbeplakate, die auf der „westlichen“ Seite orientalistische Motive und auf der „orientalischen“ Seite okzidentalistische Formsprache und Informationsgehalte verwenden. Der Untersuchungszeitraum ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts ab 1945 bis zum September 2001, also bis zu der Zeit, bevor der sunnitisch geprägte Fundamentalismus für die Kunst relevant wurde. Dabei werden die künstlerischen Verbindungen und Wege von Motiven zwischen West und Ost verfolgt und somit die komplexen Beziehungen zwischen der Plakatproduktion zweier sich selbst jeweils als „anders“ wahrnehmender Kulturen untersucht. Es geht nicht nur um Unterschiede, sondern gleichermaßen um Gemeinsamkeiten, Übernahmen, Verwandlungen, wechselseitige Stereotypisierungen und um möglicherweise parallele Entwicklungen, also um transkulturelle Prozesse, die an konkreten und in den jeweiligen Gesellschaften sichtbaren Kunstprodukten ablesbar sind.

Der Okzidentalismus in der Kunst ist bisher noch nicht umfassend untersucht worden. Es gibt allerdings viele Abhandlungen, die diese Thematik mit erörtern. Im arabischen Raum wird der Terminus Okzidentalismus als Praktik der Dialektik zwischen dem „Ich“ und dem „Anderen“ definiert, einer Dialektik, die das „Ich“ kulturell, wissenschaftlich und zivilisatorisch von der Hegemonie des „Anderen“ befreit. Meist wird der Okzidentalismus zugleich mit der Kritik des Orientalismus in den arabischen Ländern innerhalb der Islamischen Studien diskutiert. Im westlichen Kulturraum wird dieses Phänomen innerhalb der westlichen Kultur und im Rahmen eines westlichen Diskurses diagnostiziert, wobei es den Autoren um ihre Kritik an einer westlichen, gegen Andere artikulierten Identitätskonstruktion geht.

In meiner Forschung ist unter den Begrifflichkeiten Orientalismus und Okzidentalismus grundsätzlich zu verstehen, dass es sich dabei um wechselseitig stereotypisierte Kulturen handelt. Nach Edward W. Said ist Orientalismus die Konzipierung des Orients als eine stereotypisierte Welt, welche die westliche Wahrnehmung des Orients bestimmt. Dementsprechend ist Okzidentalismus die Stereotypisierung des Westens, d.h. der Vorgang, wie im orientalischen Kulturraum Okzidentbilder, die Werturteile und Stereotype beinhalten, produziert werden. Trotz der unterschiedlichen Kulturen stellt sich die Frage, wie der Orient und der Okzident wechselseitig stereotypisiert werden. Diese Frage kann nur mittels einer analytischen Stereotypenforschung beantwortet werden.

Meine Forschungsarbeit geht von der Hypothese aus, dass west-östliche Beziehungen in der Kunst nicht eine kulturelle Einbahnstraße darstellen, sondern einen kulturellen Austausch, in dem Hetero- und Autostereotypen eine prägende Rolle spielen. Letztere werden – auch von dieser Annahme gehe ich aus – nicht zuletzt von diversen Motiven zum Ausdruck gebracht, die im Laufe der Arbeit zu ermitteln sein werden.

Im Zentrum des Erkenntnisinteresses steht die Frage nach dem Dialog zwischen stereotypisierten Welten und nach der entstehenden Hybridität, wie sie dabei visuell zum Ausdruck kommt. Der Dialog kann dabei von Kontroversen oder auch Verdrängungen geprägt sein und ist sicherlich weder als ein „herrschaftsfreier“ Dialog vorstellbar, noch ist er kontinuierlich verlaufen.

 

Kitchener World War I Recruitment poster 1914. Grafiker: Alfred Leete, Quelle: Wikimedia Commons, Lizenz: gemeinfrei

Pierre Sadek, ca. 1983
Quelle: Pierre Sadek Foundation © mit freundlicher Genehmigung

 

 

Wesentlich für meine Überlegungen sind die 12 Thesen zur historischen Stereotypenforschung[1] des Historikers Hans Henning Hahn. Grundlegend für seine Definition des Stereotyps ist dessen emotionale Aufladung. Er geht davon aus, dass Gesellschaften Stereotype benötigen, um Gemeinsamkeiten zu schaffen. Dabei sind unbedingt die unterschiedlichen historischen Kontexte zu berücksichtigen: die europäische Moderne, die Folgen der Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, des Kalten Krieges und der Auflösung der kolonialen Dominanz auf der europäischen Seite, die Folgen der Entkolonialisierung, das Ende des Osmanischen Reiches und die komplexen arabischen Nationsbildungsprozesse auf der arabischen Seite.

Vor dem politischen sowie kunsthistorischen Hintergrund und in Anlehnung an die Geschichtskultur, die sich mit dem gesellschaftlichen Geschichtsbewusstsein der differenzierten Kulturen und dem Umgang der Gegenwart mit dieser Geschichte beschäftigt, soll das Datenmaterial der Gebrauchsgrafik untersucht werden. Mit Hilfe der Stereotypenanalyse sollen Aussagen über die Bildproduktion westlicher und orientalischer Kulturen formuliert werden. Die Stereotypen sowohl der „Westler“ als auch der Orientalen erlauben es, nicht nur Einblicke in deren jeweilige Welt zu erhalten, sondern diese Welten analytisch zu dekonstruieren. Aus dem, was als „vertraut, eigen“, und dem, was als „fremd“ aufscheint, sollen Einsichten in die jeweiligen Weltkonstruktionen gewonnen werden, also wie die wahrgenommenen Wirklichkeiten konstruiert und letztlich als Maßgabe für konkretes Handeln angenommen wurden.

Das Forschungsprojekt soll vor dem geschilderten historischen Kontext Rolle und Beitrag von Massenmedien und Public Art im Dialog zwischen den Kulturen unterstreichen und dabei vor allem auf die Mechanismen visueller Stereotypisierung in Form und Inhalt eingehen. Es verfolgt daher das doppelte Ziel, zum einen über die intensive Beschäftigung mit visuellen Stereotypen die Methodik vergleichender kulturwissenschaftlich-historischer Stereotypenforschung weiterzuentwickeln, zum anderen konkret am Beispiel bestimmter Motive der Werbegrafik die west-östlichen Kultur- und Kunstbeziehungen nachzuzeichnen. Schwierigkeiten und Möglichkeiten eines west-östlichen Dialogs werden nur zu überwinden bzw. zu verwirklichen sein, wenn die wechsel- und gegenseitigen Stereotypen erforscht und bekannt sind.

 

[1] Hans Henning Hahn (Hrsg.), Nationale Wahrnehmungen und ihre Stereotypisierung. Beiträge zur Historischen Stereotypenforschung, Frankfurt a.M 2007.

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Ein Kommentar “Orientalismus und Okzidentalismus in Plakaten (1945-2001)

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