„stefan moses: Blumenkinder“ – Ein Nachruf

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

Dass es am Ende ein melancholischer Rückblick auf ein langes Fotografenleben werden würde, war nicht abzusehen, als das Literaturhaus im vergangenen Jahr die „Blumenkinder“ des Schwabinger Fotografen Stefan Moses in den Blick genommen hatte – der nun am 3. Februar 2018 mit 89 Jahren in München verstorben ist.[1] Leichtfüßig und sorglos hatte sich das Thema präsentiert, verspielt und träumerisch sein Blick auf die Wohngemeinschaften und alternativen Lebensentwürfe der 1960er Jahre; Motive von privater Anmutung und angetreten ohne die seinen Porträts oftmals zugeschriebene Verantwortung, staatstragende Geschichten und auf Zelluloid gebannte Aussagen von geschichtsmächtiger Bedeutung zu transportieren.[2] Wer sich hier auf die Suche machen wollte nach dem Hoffotografen der Bonner Republik – unvergessen das ikonische Bild, welches Ingeborg Bachmann mit Günter Grass und Willy Brandt im Vorfeld der Bundestagswahl in das fotografische Gedächtnis der Nation eingeschrieben hat[3] –, wurde enttäuscht: kein Oskar Maria vor deutscher Eiche,[4] keine politisch ambitionierten Bildergeschichten von Emigration und Wiederkehr, auch keine deutsch-deutsche Grenze,[5] dafür lange Haare im Weichzeichner, gruppentherapeutische Experimente in Schwarz und Weiß und einmal mehr: Manuel am Ammersee.

Dies ist vermutlich überhaupt das Schlüsseldokument, welches eine Einordnung der nun zu Ende gegangenen Ausstellung in das Gesamtwerk des großen Bildermachers erst möglich macht. Manuel, das „Bilderbuch“ von Moses aus dem Jahr 1967 (wie er den Band in trügerischer Harmlosigkeit im Untertitel genannt hat); die an Intimität kaum zu überbietenden Einblicke in eine sorglose Kindheit, die seines Sohnes nämlich, in Wahrheit aber schon bald die Bibel des liberalen Münchner Bildungsbürgertums: das erste Fahrrad, der Skikurs, das Geschichtenerzählen, das Rollenspiel, das Schnitzen der Holunderflöte, Menschen ohne Kleidung, das Baden im See, das einfache Leben … Bilder von verstörender Anmut, gepaart mit den Klängen der Volksliedmotive sowie den Texten von Helmut Heißenbüttel, dem postmodernen Poeten avant la lettre; den Umbruch gestaltet von Willy Fleckhaus, Deutschlands erster Art Director (so sagen es seine Biografen).[6] Was ist das Paradies? Auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs erschienen, ist es diese Frage, die sich wie ein roter Faden durch das vermeintlich private Fotoalbum des kosmopolitisch geschulten Humanisten zieht: „Die Bäume grün, die Wiesen gelb voll Butterblumen, über den See ziehen Stimmen, und eine Leiter steigt zum Dach hinauf, der einzigen Wolke zu.“[7] Große Kunst, betörende Poesie oder schon Eskapismus?[8]

 

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

 

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

Christoph Stölzl, auf der Münchner Finissage den Blick zurück auf das Gesamtwerk von Moses einfühlsam moderierend, hat zu Recht darauf verwiesen, dass erst mit diesem bahnbrechenden Werk der künstlerische Werdegang des vormaligen Pressefotografen – lange Jahre beim „Stern“ – seinen eigentlichen Anfang genommen hat.[9] Vorangegangen war diesem Schritt die obligatorische Amerikareise, ohne die es in den Anfängen der Bonner Republik kaum möglich war, den Anschluss zu finden an liberale Diskurse der westlichen Welt. Stefan Moses muss die Begegnung mit der von Edward Steichen am New Yorker Museum of Modern Art (MOMA) kuratierten Fotoausstellung „The Family of Man“, konzipiert als umfassendes Porträt der Menschheit in 37 Themen (darunter Liebe, Glaube und Geburt, Kinder, Krieg und Frieden), tief geprägt haben.[10]

„The World is Young“, so hatte Wayne Miller, der große Magnum-Fotograf, als Assistent von Steichen maßgeblich an der Auswahl der Werke für das MOMA beteiligt, den Bildband über die eigenen Kinder genannt[11] – gleichfalls im Windschatten der Weltpolitik konzipiert, im Vorfeld einer weiteren und ähnlich groß angelegten Bilderschau im Rahmen der Washingtoner „White House Conference on Children and Youth“ von 1960.[12] Es wäre verfehlt, würde man Moses in diesem Sinne unterstellen, im Fahrwasser der „Family of Man“-Fotografen lediglich Karriere gemacht zu haben. Seine Rezeption der Blumenkinder von Irving Penn,[13] auch seine Lesarten des Familienbuches von Wayne Miller sind vielmehr als eigenständige Übersetzungsleistungen zu verstehen, als eine transnationale Rezeptionsgeschichte, welche die Anschlussfähigkeit deutscher Fotokünstler nach dem Krieg wiederherzustellen vermochte: ihre Befreiung aus den von Leni Riefenstahl für die deutsche Jugend erstellten Folien, aus dem Korsett der Uniform und des Gleichschritts. Nicht jeder hat in diesen Jahren eine vergleichbar große Neugierde und Offenheit für transatlantische Zusammenhänge an den Tag gelegt und zugleich den deutschen Zuständen ein vergleichbar großes Entwicklungspotenzial zugetraut: „Die Deutschen, wie sie sein könnten“, hat Christoph Stölzl diesen spezifischen Zugriff des 1928 im schlesischen Liegnitz geborenen Wahlmünchners Stefan Moses genannt.[14]

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

„Auch in München, der heiter-konservativen Stadt vor den Bergen, steckten sich junge Leute Blumen ins Haar. […] Als der Umbruch auch München streifte, richtete Stefan Moses, seit langem schon sensibler Chronist der Deutschen, seinen Blick auf die Phänomene des Wandels: die neuen Wohn- und Familienformen, die veränderten Kindheitsideale, die provozierenden Kunsthappenings oder die religiösen Ekstasen“ – so haben die Kuratoren seine „Blumenkinder“ kommentiert.[15] In dieser Perspektive haftet seinen späteren, auf den ersten Blick sehr viel politischeren Bekenntnissen ein fast schon resignativer Zug an. Denn erst als die den utopischen Entwürfen der unmittelbaren Nachkriegszeit verpflichteten humanitären Gesten und Programmschriften und die der Gründung der Vereinten Nationen eingeschriebene Aufbruchsstimmung an ihr Ende zu kommen drohten, musste Moses dann doch noch einmal deutlich werden: von der Emigration sprechen und der versunkenen Welt, die Leerstellen benennen, welche sie alle im deutschen Geistesleben hinterlassen haben, auch Oskar Maria.[16] So kam die Ausstellung zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie hat den politischen Moses mit dem poetischen Optimisten noch einmal zusammengeführt, mitten im Kreuzviertel, dem wirtschaftspolitischen, weiß-blau und patriarchalisch strukturierten Herz der bayerischen Metropole,[17] an die grundsätzliche Offenheit der historischen Situation erinnert, die selten in gleicher Weise mit Händen zu greifen war wie in den Jahren der Blumenkinder, die Stefan Moses als Chronist einer untergegangenen Welt für das kollektive Gedächtnis bewahrt hat.

Blumenkinder, Literaturhaus München 20.12.2017 bis 25.2.2018. fotografie: stefan moses © mit freundlicher Genehmigung

[1] https://ru.muenchen.de/2018/27/OB-Reiter-kondoliert-zum-Tod-von-Stefan-Moses-76825

[2] In diesem Sinne auch der Nachruf in der „Zeit“: Stefan Moses ist tot, 5.2.2018: „Stefan Moses zeigte den Deutschen ihr Land und porträtierte viele Prominente.“ http://www.zeit.de/kultur/2018-02/fotograf-stefan-moses-gestorben.

[3] Ingeborg Bachmann am 4. September 1965, Stadthalle Bayreuth, in: Stefan Moses, Transsibirische Eisenbahn. Sechsundzwanzig Photogeschichten. Mit einem einleitenden Essay von Joachim Kaiser, München 1979, o.S. Weiterführend Ina Hartwig, Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken, Frankfurt/M. 2017, S. 91-96.

[4] So der Name der im Literaturhaus ansässigen Gastronomie zum Gedenken an den deutsch-amerikanischen Schriftsteller Oskar Maria Graf, dessen Werk an ebendiesem Ort von einer literarischen Gesellschaft bis heute begleitet wird (http://www.oskarmariagraf.de).

[5] Stefan Moses, DDR – Ende mit Wende: 200 Photographien 1989-1990. Mit Essays der Erinnerung von Rita Kuczynski und Harald Eggebrecht, Ostfildern 1999.

[6] Hans-Michael Koetzle/Carsten Wolff/Willy Fleckhaus – Design, Revolte, Regenbogen, hg. von Michael Buhrs/Petra Hesse, Stuttgart 2017.

[7] Manuel. Ein Bilderbuch von Stefan Moses, Hamburg 1967, o.S.

[8] Zeitgleich hatte Rowohlt mit dem Frühwerk von Horst-Eberhard Richter ein weiteres „Kultbuch“ der Liberalisierung im Vorfeld der Kinderladenbewegung neu aufgelegt, vgl. ders., Eltern, Kind und Neurose. Psychoanalyse der kindlichen Rolle, Reinbek 21967 (zuerst 1962); grundlegend Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014; zuletzt Till van Rahden, Eine Welt ohne Familie. Der Kinderladen als ein demokratisches Heilsversprechen, in: Autorität. Krise, Konstruktion und Konjunktur, hg. von Oliver Kohns/Till van Rahden/Martin Roussel, Paderborn 2016, S. 255-281.

[9] Vgl. seine Hinführung an das Werk im Katalog der im Münchner Literaturhaus gezeigten Ausstellung „Blumenkinder“ (20.12.2017 bis 25.2.2018), hg. von Tanja Graf, München 2017.

[10] Stefan Moses. Die Monographie, hg. von Ulrich Pohlmann/Matthias Harder, München 2002, S. 313f.; sowie das vor- & nachwort von Christoph Stölzl zur Neuauflage von Manuel. Ein Bilderbuch von Stefan Moses, München 2006.

[11] Wayne Miller, The World is Young, New York 1958; grundlegend Paula Fass, The World is at Our Door: Why Historians of Children and Childhood Should Open Up, in: Journal of the History of Childhood and Youth 1 (2008), S. 11-31.

[12] Pearl S. Buck, The Joy of Children. Based on the photographic exhibit prepared for the 1960 White House Conference on Children and Youth „These are Our Children”, New York 1964.

[13] https://www.trendhunter.com/trends/irving-penn-san-francisco

[14] Christoph Stölzl, Fotograf Stefan Moses: Er zeigte den Deutschen, wie sie waren – und sein konnten, in: Die Welt, 5.2.2018, https://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article173231106/Fotograf-Stefan-Moses-Er-zeigte-den-Deutschen-wie-sie-waren-und-sein-konnten.html.

[15] Vgl. die Ausführungen von Christoph Stölzl im Klappentext des Münchner Ausstellungskatalogs „Blumenkinder“ (20.12.2017 bis 25.2.2018), hg. von Tanja Graf, München 2017.

[16] Stefan Moses, Deutschlands Emigranten. Mit einem Vorwort von Christoph Stölzl, Wädenswil 2013.

[17] Vgl. Benno Heussen, Interessante Zeiten. Reportagen aus der Innenwelt des Rechts, Stuttgart 2013, S. 117.

 

 

Zitation


Claudia Moisel, „Stefan Moses: Blumenkinder“. Ein Nachruf, in: Visual History, 09.04.2018, https://www.visual-history.de/2018/04/09/stefan-moses-blumenkinder_nachruf/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-1622
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