Der weite Blick von Anna Thiele: Tempelhof 2010-2017
Die Berliner Fotografin Anna Thiele im Gespräch
„Visual History“ sprach mit Anna Thiele über ihr fotografisches Langzeitprojekt „Tempelhof. Metamorphosen“. Das Interview führte Christine Bartlitz.
Christine Bartlitz: Seit 2010 erkunden Sie regelmäßig mit Ihrer Kamera das Flugfeld des stillgelegten Flughafens Berlin-Tempelhof. Warum hat gerade dieser Ort so eine starke Anziehungskraft für Sie?
Anna Thiele: Mich hat einfach der Zauber gepackt ‒ es war etwas Magisches dort. Es war im Juni 2010 bei meinem allerersten Besuch ‒ ich hatte nicht einmal eine Kamera dabei. Wir sind auf den Rollbahnen entlangspaziert, das beeindruckende Gebäude auf der einen Seite, die nahezu unendliche Weite des Flugfeldes auf der anderen. Ein Licht wie inszeniert, das zwischen Wolken einzelne Areale spotartig erhellte oder im Gegenlicht die Menschen wie eine Zauberchoreographie erschienen ließ. Und dann vor allem eine ganz eigene Stimmung der Menschen, die dort das Gelände erkundeten und eroberten. Sie wirkten so frei und gelöst, wie Kinder beim Spielen. Irgendwie hat dieser Raum in seiner schieren Größe, aber auch mit der Imposanz des Flughafengebäudes etwas mit den Menschen gemacht ‒ etwas, was sie frei macht. Vielleicht gerade weil es kein Programm, kein Entertainment, ja nicht mal was zu essen gab. Nur einen freien Raum. Ich wusste sofort, dass ich hier fotografieren muss.
C.B.: Aber Sie sind ja viele Jahre auch nicht müde geworden, immer wieder dort zu fotografieren…
Anna Thiele: Das stimmt! Meine Faszination hat auch nicht nachgelassen. Wo gibt es sonst so eine einmalige städtebauliche Situation? Eine Riesenbrache mitten in einer Millionenstadt! Und das, ohne dass die Stadt zu Beginn gestaltend eingegriffen hätte oder es fertige Entwicklungskonzepte für den Raum gab. Es war also ein ganz offener Schwebezustand, der mich sehr gereizt hat. Zunächst sah es dann ja so aus, als ob das Areal zu einem nicht unerheblichen Teil bebaut würde ‒ so waren zumindest die Pläne des Senats. Aber die Berliner haben um den Erhalt der Freifläche gekämpft und im Volksentscheid „100% Tempelhofer Feld“ dem einen Riegel vorgeschoben. Bemerkenswert! Auch, dass diese Entscheidung damals in allen Bezirken Berlins so ausgefallen war, nicht nur in Neukölln oder Tempelhof, wo die direkten Anwohner sich über das neue Auslaufgebiet freuen konnten.[1]
Aber auch ohne Bebauung unterliegt das Feld einem Wandel. Die Natur holt sich manches zurück. Und die Menschen gehen jetzt mit ganz anderer Selbstverständlichkeit mit dem Raum um. Sie haben inzwischen auch viele Spuren hinterlassen, besonders deutlich durch die sogenannten Pionierprojekte[2], denen man dort Platz überlassen hat. Es sind aber auch mehr Besucher geworden ‒ und andere, inzwischen höre ich viele Sprachen auf dem Gelände. Zunehmend gab es auch Veranstaltungen auf dem Feld und kommerzielle Angebote wie Segway-Vermietung und dergleichen. Das hat natürlich auch das Spektrum der Motive erweitert, aber letzten Endes auch die Art, wie ich fotografiert habe, verändert. Anfangs war der Raum richtiggehend unschuldig in seiner Reinheit, und die Menschen waren noch eher so etwas wie temporäre Gäste. Inzwischen ist es schon eine Art Freizeitpark mit ein bisschen Experimentalcharakter geworden.
C.B.: Sie selbst haben ja biografisch auch eine deutliche Wandlung durchlebt, wenn man das so sagen kann, und haben mit der Fotografie für sich eine neue Bestimmung gefunden. Spielt das in Ihrer Faszination für diesen Ort auch eine Rolle?
Anna Thiele: Ja, absolut. Anfangs ist mir das zwar gar nicht so bewusst gewesen ‒ ich fotografiere meist sehr intuitiv und kann oft erst später benennen, warum es mich zum Fotografieren an bestimmte Orte zieht, während andere mich überhaupt nicht reizen. Aber ja ‒ Wandel, Transformation, das zieht sich als Grundthema wie ein roter Faden durch meine Projekte. Und Tempelhof ist nun mal Wandel pur.
C.B.: Besondere öffentliche Anerkennung haben Sie mit Ihren Aufnahmen aus dem Berliner Regierungsviertel erlangt. Das Tempelhofer Feld ist ja auch ein urbaner Raum, aber letztlich eine flache, große Wiese ‒ im Volksmund auch „Wiesenmeer“ genannt. Was hat das für Sie als Fotografin bedeutet, dort zu fotografieren? Wo und wie finden Sie da Ihre Motive?
Anna Thiele: (lacht) Ja, das ist eine gute Frage. Es stimmt, in einer bebauten Stadtkulisse zu fotografieren, fällt mir leichter. Und andere, die auf dem Flugfeld Aufnahmen gemacht haben, haben auch schon mal gestöhnt, dass es schwer sei, hier gute Bilder zu machen ‒ meist sei oben viel Himmel und unten etwas Boden. Aber vielleicht, weil ich mich in diesen Raum ein bisschen verliebt habe, habe ich auch einen visuellen Zugang gefunden.
Was eher herausfordernd für mich war und womit ich anfangs gar nicht gerechnet hätte, war der Facettenreichtum, der sich aufgetan hat. Aus meinen vielen Touren über das Gelände ist sehr vielfältiges Material entstanden. Neben den räumlichen Bildern, die die Weite spiegeln und auch zeigen, wie klein der Mensch dort ist, habe ich erst bei meiner vierten oder fünften Tour zum Beispiel die kleinen, vergänglichen Schönheiten entdeckt, die sich auf dem Boden zeigen: erodierende Markierungen, so schön wie Gemälde von Lissitzky.
Und dann hat der Ort an sich verschiedene Identitäten. Mal ist er von einsam-melancholischer Schönheit ‒ man sieht vielleicht 2-3 Menschen bis zum Horizont. Bei Wind und Sonnenschein ist das Feld dagegen gerammelt voll, der Himmel überdeckt von Drachen und Kitesegeln. Verschiedene Jahreszeiten, Tageszeiten, Strohballen im Spätsommer, Schneeberge im Winter ‒ dieser Ort ist so wandelbar, dass ich gar keinen Mangel an Motiven hatte, eher manchmal etwas mit meinen Bilderbergen kämpfen muss, um sie für eine Ausstellung oder das jetzt geplante Fotobuch zu verdichten.
C.B.: Verstehen Sie Ihre Arbeit als Kunst oder als Dokumentation?
Anna Thiele: Ich verstehe mich selbst nicht als dokumentarische Fotografin, aber bei diesem Projekt vermischt sich im Ergebnis wohl beides miteinander. Für dokumentarische Fotografie sind mein Ansatz und auch meine visuelle Handschrift zu subjektiv. Ich strebe auch nicht nach Vollständigkeit oder nach einer Art Objektivierung. Im Gegenteil: Meine Auseinandersetzung mit dem Äußeren ist in hohem Maß eine Spiegelung meiner inneren Themen, Fragen und Empfindungen. Mit dieser subjektiven Wirklichkeit, die sich in meinen Bildern spiegelt, ist meine Arbeit in der künstlerischen Fotografie angesiedelt. Dennoch ist natürlich zugleich auch ein Zeitdokument entstanden.
C.B.: Sie hatten bereits 2012 eine Einzelausstellung mit Ihren Tempelhof-Fotografien, und 2013 wurde eine Bildserie aus Ihrem Projekt beim Europäischen Architekturfotografie-Preis mit einer Anerkennung bedacht sowie u.a. im Deutschen Architekturmuseum ausgestellt[3]. Wie ist die Resonanz des Publikums auf diese öffentlich gezeigten Bilder?
Anna Thiele: Ach, wunderbar positiv. Ich merke zum einen, wie groß das Interesse der Menschen an dem Thema ist. Aber auch an meiner Fotografie ‒ ich bekomme viele schöne Rückmeldungen, dass es mir offenbar gelingt, auf dieser flachen Riesenwiese sehr qualitätsvolle und auch poetische Aufnahmen zu machen.
C.B.: Inwieweit kann man Ihrem fotografischen Projekt schon jetzt eine zeithistorische Bedeutung beimessen?
Anna Thiele: Eine Besucherin meiner Tempelhof-Einzelausstellung hat mir schon damals ins Gästebuch geschrieben, dass ich mit meinen Aufnahmen ein Zeitdokument schaffe. Das war 2012 und hat mich sehr gefreut, denn zu der Zeit war ja alles quasi noch frisch und noch Gegenwart. Das hat sich bis heute schon etwas geändert. Auch wenn die Stilllegung des Flughafens 2008 noch nicht so lange zurückliegt ‒ also verglichen mit der langen Geschichte des Tempelhofer Feldes ‒, sind einige meiner Bilder bereits unwiederbringlich. Der unverfälschte Zustand des Flugfeldes, den wird es so nie wieder geben. Am Gebäude gab es bauliche Veränderungen. Auch Pionierprojekte sind schon wieder verschwunden. Und um noch ein weiteres Beispiel zu nennen: Eines meiner Lieblingsschilder aus Flugzeiten wurde nun abgesägt. Ein Schild mit ganz wunderbar rostig-abgeknickten Beinen, auf dem „Notfallbereitstellungsraum“ stand ‒ angesichts des jetzigen, oft heiteren Treibens hatte das schon eine gewisse Komik. Wenn man allerdings an die Unterbringung der Flüchtlinge in den Hangars denkt ‒ auf dem Gipfel des Flüchtlingszustroms waren es Tausende ‒, hat das auch etwas Makabres.
C.B.: … und auf längere Sicht?
Anna Thiele: Die Diskussionen über eine vielleicht doch andere Nutzung und insbesondere Bebauung sind ja nicht abgeebbt. Ich schließe nicht aus, dass es in absehbarer Zeit über eine Gesetzesänderung doch noch eine deutlich dramatischere Veränderung dort geben könnte. Und dann wären meine Aufnahmen ja richtig historisch ‒ wie bei einer Zeitkapsel, die ihre historische Bedeutung auch erst mit einem größeren Zeitversatz offenbart.
Für die Bemessung der zeithistorischen Bedeutung spielt natürlich auch eine Rolle, dass der Flughafen Tempelhof an sich geschichtlich von so großer Symbolkraft ist ‒ überaus positiv besetzt vor allem durch die Berliner Luftbrücke, die sich ja gerade zum 70. Mal jährt. Aber die Geschichte war sehr wechselhaft, vielfach von militärischer Nutzung geprägt, dann erprobten sich bekannte und weniger bekannte Flugpioniere, und im „Dritten Reich“ fanden dort Verbrechen gegen die Menschlichkeit statt, die jetzt zunehmend aufgearbeitet und bekannt gemacht werden. Es ist schon bemerkenswert, dass manche der vergangenen Aktivitäten, von Fußball bis zu Pioniererprobungen, auf eine Art jetzt wieder auf das Feld zurückgekehrt sind ‒ die traurigen Kapitel glücklicherweise ausgenommen.
C.B.: Sie arbeiten gerade daran, zu Ihrem Tempelhof-Projekt ein Fotobuch zu veröffentlichen. Werden Sie dennoch auch weiterhin dort fotografieren oder sehen Sie das Buch als Schlusspunkt dieser Arbeit?
Anna Thiele: Diese Frage stelle ich mir auch … Zum jetzigen Zeitpunkt habe ich aber noch keine abschließende Antwort darauf. Einerseits denke ich, dass dieser Ort mich vielleicht auch nie loslässt und ich weitere Wandlungsphasen auch fotografisch begleiten werde. Aber vielleicht ‒ sollte es zum Beispiel zu einer massiven Bebauung kommen, im schlechtesten Fall noch mit phantasieloser, schlechter Architektur ‒, ja, vielleicht will ich das dann gar nicht mehr?
Es kommt noch eins dazu: ich kann heute gar nicht sagen, was ich fotografisch zum Beispiel in fünf Jahren machen werde. Ich arbeite ausschließlich frei. Wüsste ich jetzt bereits, was mich dann bewegt, wo ich dann stehe, persönlich und künstlerisch ‒ ehrlich gesagt, fände ich das überaus langweilig.
C.B.: Frau Thiele, ich danke Ihnen für das Gespräch.
Weitere Aufnahmen aus dem Projekt „Tempelhof. Metamorphosen“ sowie biografische Informationen sind auf der Homepage der Fotografin zu sehen: www.annathiele.de
Hinweis der Redaktion:
Im Juni 2020 ist das Buch von Anna Thiele erschienen: tempelhof. metamorphosis, Distanz Verlag Berlin 2020
[1] Am 25. Mai 2014 stimmten 64,4 Prozent der Berliner Bürger im Volksentscheid „100% Tempelhofer Feld“ dafür, dass Tempelhofer Feld als innerstädtischen Freiraum unverändert zu bewahren https://de.wikipedia.org/wiki/Volksentscheid_zum_Tempelhofer_Feld_in_Berlin.
[2] Auf Initiative der Tempelhof Projekt GmbH wurden ab 2010 rund 20 Pionierprojekten mit verschiedenen thematischen Orientierungen Flächen auf dem Tempelhofer Feld zur Verfügung gestellt https://de.wikipedia.org/wiki/Tempelhofer_Feld sowie https://www.tagesspiegel.de/berlin/tempelhofer-feld-in-berlin-pioniere-fuerchten-feldverweis/8517072.html.
[3] „Im Brennpunkt | Focus of Attention“, Europäischer Architekturfotografiepreis 2013, Eröffnungsausstellung 4. Mai bis 16. Juni 2013, Deutsches Architekturmuseum Frankfurt.
Zitation
Christine Bartlitz, Der weite Blick von Anna Thiele: Tempelhof 2010-2017. Die Berliner Fotografin Anna Thiele im Gespräch, in: Visual History, 08.05.2018, https://www.visual-history.de/2018/05/08/anna-thiele-tempelhof-2010-2017/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok.5.1201
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