Wer schaut hier wen an?
Die Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow in Berlin
1896 kaufte sich der Kameruner Kwelle Ndumbe, der auch als Bismarck Bell bekannt war, ein Opernglas und blickte mit diesem auf die Besucher*innen der Ersten Deutschen Kolonialausstellung im Treptower Park in Berlin. Bismarck Bell, Anführer der Duala-Gruppe, war einer von 106 afrikanischen Teilnehmer*innen der Berliner Kolonialausstellung, die dort das alltägliche Leben in ihren Herkunftsländern vorführen sollten. Der etwa Zwanzigjährige leistete aktiv Widerstand gegen die stereotype Rolle als „primitiver Eingeborener“ und provozierte nicht nur mit seinem Opernglas. Er ließ sich auch in westlicher Kleidung anstatt traditionell afrikanischer Tracht fotografieren und wirkte damit exzeptionell auf die zeitgenössischen, europäischen Darstellungsweisen von Afrikaner*innen ein.[1]
In unserer digitalisierten Welt werden Bilder massenhaft medial reproduziert und global verbreitet. Dadurch verankern sie sich in wachsender Anzahl im kollektiven Bildgedächtnis verschiedener Gesellschaften. Unter anderem historische Fotografien aus kolonialen Zusammenhängen haben in ihrer heutigen, postkolonialen Erinnerung eine besondere Brisanz: Da sie häufig diskriminierende oder kolonialrassistische Bildinhalte transportieren, sehen sich Ausstellungsmacher*innen, die koloniale Themen für eine breite Öffentlichkeit aufbereiten, ohne eine ausreichende Kontextualisierung der Gefahr einer bloßen Reproduktion dieser Bildinhalte und damit eines kolonialen Rassismus gegenüber.
Mit den Postcolonial Studies werden seit den 1990er Jahren die Visualisierungen der Kolonialzeit und des „Anderen“ aus Sicht der deutschen Kolonisierenden, aber auch das Verständnis von Fotografie als kolonialrassistischer Herrschaftspraxis auch in der Geschichtsvermittlung präsenter. Damit entsteht zunehmend die Notwendigkeit, einen verantwortungsbewussten und konsensfähigen Umgang mit kolonialen Fotografien in musealen Ausstellungen zu finden.[2]
„zurückGESCHAUT“ ist in diesem Zusammenhang deutschlandweit eine der ersten Dauerausstellungen zur deutschen Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Widerstand. Deshalb stellt sich die Frage, wie die Ausstellungsmacher*innen diskriminierende und kolonialrassistische Fotografien im Hinblick auf bildethische Grundsätze in ihr Ausstellungskonzept integriert haben. Seit 2017 thematisiert die Ausstellung im Museum Treptow in Berlin die sogenannte Erste Deutsche Kolonialausstellung im Treptower Park als einen eigenständigen Teil der Berliner Gewerbeausstellung von 1896. Nachdem im Folgenden mit der Berliner Gewerbeausstellung von 1896 der historische Gegenstand, in einem Exkurs das Bezirksmuseum Treptow sowie die Inhalte und der Aufbau von „zurückGESCHAUT“ vorgestellt werden, soll der Fokus im Zusammenhang mit der aufgeworfenen Frage auf dem sogenannten Raum mit dem Opernglas liegen. In diesem wird unter anderem das von Bismarck Bell erworbene Opernglas ausgestellt.
Das Konzept des Raumes erschafft eine einzigartige Atmosphäre und ein besonderes Raumgefühl. Die heutigen Ausstellungsbesucher*innen können, wenn sie sich im Raum befinden, den Teilnehmer*innen der Ersten Deutschen Kolonialausstellung auf Porträtfotografien zumindest teilweise in die Augen schauen und sind ringsherum von ihnen umgeben.
Über die Intentionen der Ausstellungsmacher*innen lässt sich an dieser Stelle nur spekulieren, ebenso über die Wirkung auf die verschiedenen Ausstellungsbesucher*innen, allerdings scheint der Ausstellungstitel „zurückGESCHAUT“ hier seine doppelte Anwendung zu finden. Die Teilnehmer*innen der Kolonialausstellung schauen im übertragenen Sinne auf die heutigen Ausstellungsbesucher*innen zurück, so wie es Bismarck Bell 1896 tat, während diese heute auf die historische Kolonialausstellung zurückschauen. Abschließend soll am Beispiel der Ausstellung ein bildethisch verantwortungsvoller Umgang mit diskriminierendem Bildmaterial in musealen Ausstellungen herausgestellt werden.
Historischer Gegenstand: Die Berliner Gewerbeausstellung von 1896
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich in Europa aufgrund von Fotografien der bereisten Orte und dort gesehenen Menschen die Vorstellungswelt des „Fremden“. Dabei standen sich keine „klar abgrenzbare[n] Identitäten der Europäer und der Nicht-Europäer gegenüber; vielmehr waren die fotografischen Techniken zentral daran beteiligt, Identitäten zu schaffen, herauszufordern, umzudeuten oder neu zu entwerfen“, wie Jens Jäger schreibt.[3] Mit der Kolonialfotografie materialisierten sich Gegensätze wie „schwarz“ und „weiß“ oder „zivilisiert“ und „wild“. Darüber hinaus markiert sie außerdem den Beginn der fotografischen Suche nach sichtbaren Merkmalen einer ethnischen und sozialen Zugehörigkeit. Als Norm und Körperideal, an dem die Einwohner*innen der Kolonien gemessen wurden, galt der weiße, bürgerliche Mensch. Trotzdem sind Bilder aus kolonialen Kontexten vor allem auch Dokumente, „die die Ausgegrenzten und Marginalisierten als Individuen zumindest ‚sichtbar‘ machten“.[4] Es ist durchaus davon auszugehen, dass sie vor der Kamera und damit auch auf die Bildgestaltung und -nutzung Einfluss nahmen. Die Fotografie „formte ‚westliche‘ Vorstellungen von anderen Kulturen“[5] und wirkte auch auf diese zurück.[6]
Die Kolonien selbst blieben aber nicht der einzige Ort, an dem Fotografien entstanden, denn in Europa fanden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts sogenannte Zurschaustellungen statt, wobei insbesondere die Kolonialausstellungen der großen Weltausstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts als Sonderform der Zurschaustellungen dienten. Sie sollten Fortschrittlichkeit, Vorherrschaft und Weltmachtanspruch der jeweiligen Nation ausdrücken.[7]
Inspiriert von diesen in Städten wie London, Paris und New York stattfindenden internationalen Expositionen entstand seit den 1870er Jahren auch unter Berliner Unternehmern das Interesse an einer Weltausstellung in der deutschen Reichshauptstadt. Die Organisationsversuche durch die Vereinigung „1879“ und den „Verein Berliner Kaufleute und Industrieller“ scheiterten in den 1880er und 1890er Jahren, sodass die Berliner Gewerbeausstellung erst vom 1. Mai bis zum 15. Oktober 1896 auf dem weitläufigen Areal des Treptower Parks stattfinden konnte.[8]
Die Ausdehnung des Ausstellungsareals (mehr als 900.000 Quadratmeter) mit künstlich angelegten Gewässern und architektonisch vielseitigen Gebäuden, die etwa 4000 nationalen Aussteller, aber auch die mehr als 7,4 Millionen Besucher*innen verdeutlichen, dass die vor allem lokal konsumierte Berliner Gewerbeausstellung zumindest einige Dimensionen einer Weltausstellung erfüllte. 22 fachbezogene Ausstellungsbereiche boten inhaltlich eine Vielfalt an Exponaten aus Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft und präsentierten „Berlin als bedeutenden Wirtschaftsstandort in Deutschland und als Zentrum der damals aufstrebenden, neuen Industrien […]“.[9] Zusätzlich ergänzten eigenständige Ausstellungsteile die gewerbliche Präsentation. Dazu zählten beispielsweise ein Alpenpanorama, ein großes Linsenfernrohr, ein Vergnügungspark und Marineschauspiele sowie die Erste Deutsche Kolonialausstellung.[10]
Diese befand sich im Ostteil des Ausstellungsareals auf etwa 60.000 Quadratmetern und zeigte anthropologische, ethnografische, zoologische, botanische, geografische und geologische Exponate, Export- und Importgegenstände nationaler Unternehmen, der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts, von privaten Sammlern, Handelsgesellschaften und Missionen. Finanziell und auch personell wurde die Kolonialausstellung vom deutschen Kaiserreich unterstützt, „um Deutschlands politische und wirtschaftliche Interessen an eigenen Kolonien […] zu manifestieren“.[11] Ein wesentlicher Bestandteil der Ausstellung waren über einhundert Teilnehmer*innen aus den deutschen Kolonien, die als einheimische Bevölkerung täglich das dörfliche Leben ihrer Heimat vorführen sollten. Etwa zwei Millionen Menschen besuchten die Kolonialausstellung, um, ihrem Narrativ folgend, das deutsche Wirken in den Kolonien zu beobachten. Dabei wurde vor allem das Verhältnis „des Deutschen“ zu seinem „Anderen“ als „das Kolonisierte“ verhandelt.[12]
Nach dem Abbau hinterließ die Berliner Gewerbeausstellung weder städtebauliche Überreste noch eine Ausstellungstradition oder einen „Gedächtnisort“ wie in anderen Weltausstellungsstädten. Denn sie hatte nur unter der Bedingung stattfinden dürfen, dass der Baumbestand im Treptower Park geschont und alle baulichen Strukturen nach der Ausstellung wieder abgerissen würden. Lediglich durch eine ausgebaute Infrastruktur der Landgemeinde Treptow, einige Schäden im Treptower Park, der erst später wieder als Volkspark genutzt werden konnte, und das große Linsenfernrohr, das noch heute Teil der Archenhold-Sternwarte ist, hinterließ sie ihre Spuren.[13] Demgegenüber sind die (Nach-)Wirkungen und Folgen der Ersten Deutschen Kolonialausstellung als zeitgenössische Propaganda für eine Kolonial- und Weltpolitik, ein rassistisches Menschenbild und eine eurozentrische Weltanschauung in vielerlei Hinsicht gravierender.
Das Museum Treptow und seine Ausstellungen von 1996 bis heute
Als eines der vier Bezirksmuseen in Treptow-Köpenick hat das Museum Treptow die Aufgabe, die Bezirksgeschichte darzustellen. Entstanden ist es aus dem „Heimatgeschichtlichen Kabinett“ des ehemaligen DDR-Stadtbezirks Treptow und wurde 1989 als Heimatmuseum Treptow neu gegründet. Mit der Wiedereröffnung am 8. März 1991 behandelt es, heute nur noch als Museum Treptow bezeichnet, seitdem in seiner Dauerausstellung und in wechselnden Sonderausstellungen die Geschichte des Bezirksteils Treptow.[14]
1996 eröffnete zum hundertjährigen Jubiläum die Exposition „Die verhinderte Weltausstellung – 100 Jahre Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Treptow“ und damit die bis dato größte und längste Ausstellung des Museums. Auf zwei Etagen präsentierte sie die Berliner Gewerbeausstellung in Modellen und sogenannten Souvenirartikeln der historischen Ausstellung. Damit wurde „[d]ie Lokalgeschichte Treptows […] als wichtige und einzige Vorgeschichte in die deutsche Weltausstellungsgeschichte eingeordnet“,[15] wie es die Kulturwissenschaftlerin Britta Lange beschreibt, aber auch eine Ausstellungsgeschichte ohne kritische Auseinandersetzung mit der Ersten Deutschen Kolonialausstellung als Sonderteil der Berliner Gewerbeausstellung erzählt.
2007 zog eine neue Dauerausstellung zu verschiedenen Kapiteln der Lokalgeschichte in die zweite Etage, wobei einige angepasste Teile der Jubiläumsexposition in diesem Zuge in den Raum zur Berliner Gewerbeausstellung von 1896 integriert wurden.[16] Die heutige Dauerausstellung „Aus 250 Jahren Treptower Geschichte“ behandelt somit gemäß dem Ausstellungs- und Sammlungsschwerpunkt des Museums die erste Besiedlung Treptows, die Gewerbeausstellung von 1896 mit kritischem Ton zu den Sonderteilen ebenso wie die Industriegeschichte und die Ausflugsziele und -gaststätten des Bezirks aus historischer Sicht.
Das Programm wird weiterhin durch wechselnde Sonderausstellungen begleitet, wobei die seit 2017 im Museum Treptow angesiedelte Ausstellung „zurückGESCHAUT“ als mittlerweile fester Bestandteil der Dauerausstellung eine Ausnahme bildet. Sie wurde vom Bezirksamt Treptow initiiert, auf Nachhaltigkeit angelegt und ist in Kooperation mit der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland Bund e.V. und Berlin Postkolonial e.V. entstanden. Thematisch setzt sie sich kritisch mit der bisher nicht ausreichend aufgearbeiteten Kolonialvergangenheit Deutschlands auseinander.[17]
Aufbau und Inhalt der Ausstellung „zurückGESCHAUT“
Im Eingangsbereich der kompakten Dauerausstellung „zurückGESCHAUT“ wird auf mehreren Text-Bild-Tafeln auf den damaligen Ausstellungszeitraum zurückgeblickt. Zuvor werden einleitend das Thema der Dauerausstellung sowie seine Bedeutung besprochen: Die Ausstellungsmacher*innen legen transparent offen, welche Bevölkerungs- und Interessengruppen für die Auswahl und Aufbereitung der Inhalte verantwortlich sind, welche Quellen der Dauerausstellung zugrunde liegen und wie mit daraus resultierenden, diskriminierenden Inhalten vor allem sprachlicher Herkunft umgegangen wird.
Nach einer kurzen steckbriefartigen Übersicht zum Areal der Ersten Deutschen Kolonialausstellung folgen daraufhin drei Themenschwerpunkte: „Deutschlands ‚Weltreich‘ am Karpfenteich“, „Wissenschaftlich-kommerzieller Teil“ und „Ethnologischer Teil“.[18] Der erste ordnet die Kolonialausstellung in die Zeit des deutschen Kolonialismus ein. Dabei wird deutlich, dass die Berliner Gewerbeausstellung von 1896 vor allem die Möglichkeit bot, das deutsche Kolonialreich zu präsentieren sowie entsprechende Imagepflege und Propaganda nach innen und außen zu betreiben. Im „Wissenschaftlich-kommerzielle[n] Teil“ wird daraufhin der Bereich der Ausstellung thematisiert, „in dem sich das ‚deutsche Kolonialwesen‘ in seiner ganzen Breite selbst inszeniert“ habe.[19] Dazu zählen beispielsweise das Auswärtige Amt, der Arbeitsausschuss der Ausstellung, die Aussteller der sogenannten Kolonialhalle, Missionen, aber auch die Deutsche Kolonialgesellschaft sowie wissenschaftliche Institutionen und industrielle Exportfirmen. Im „Ethnologische[n] Teil“ wird schließlich der Bereich der Ausstellung kontextualisiert, den die Veranstalter als „Eingeborenen-Dörfer“ bezeichneten. Im Stil der Zurschaustellungen wurden hier Kinder, Frauen und Männer aus den deutschen Kolonien präsentiert.[20]
Eine Besonderheit bildet die Tafel „Der koloniale Blick“, da sie an einem konkreten Bildbeispiel den bewusst gewählten Umgang mit diskriminierendem Bildmaterial im Prozess der heutigen Ausstellungsgestaltung und damit die Intentionen und selbst gewählten ethischen Richtlinien der Ausstellungsmacher*innen aufzeigt. Zunächst werden das „Problem nahezu jeder Visualisierung der Kolonialgeschichte […], dass die zur Verfügung stehenden Bilddokumente durch den ‚kolonialen Blick‘ weißer Männer geprägt sind und deren Sichtweisen wiedergeben“,[21] und die damit zusammenhängende Entscheidung umrissen, die „Reproduktion von kolonialrassistischem Bildmaterial“[22] zu vermeiden.
Im Umgang mit Bildern soll also kritisch abgewogen werden, ob sie die Würde und Individualität der gezeigten Personen wahren, woraufhin gegebenenfalls auf das Zeigen von kolonialrassistischem und inszeniertem Bildmaterial verzichtet wird. Für einen solchen „Perspektivwechsel […] im Umgang mit den Abbildungen“[23] wurden die Erfahrungen von Schwarzen Menschen und deren Urteil in die Ausstellungsgestaltung einbezogen. Trotzdem verwendete, problematische Bilddokumente werden entsprechend kontextualisiert. Eine solche Kontextualisierung gestaltet sich beispielsweise wie folgt:
„Das ‚Gruppenfoto‘, veröffentlicht im ‚Amtlichen Bericht des Arbeitsausschusses‘, ist ein aufschlussreiches Bild. Es hat eine Schlüsselfunktion und dokumentiert wie kein zweites den Geist der kolonialen Großveranstaltung im Treptower Park. Wir sehen eine bewusst arrangierte Gesellschaftspyramide. […] Das Foto kann uns heute vermitteln, wie sich die Herrscher über das wilhelminische Kolonialreich am Ende des 19. Jahrhunderts selbst sahen und welcher Platz für die Kolonisierten vorgesehen war.“[24]
Die vom Eingangsbereich abgehenden Räumlichkeiten behandeln dann drei verschiedene Themenkomplexe, die zwar im Zusammenhang mit Kolonialismus, Rassismus und Widerstand stehen, aber nicht alle mit der Kolonialausstellung von 1896.
Der vordere Raum greift gegenwärtige, postkoloniale Diskurse in großformatigen Fotografien auf, die verschiedene Protestaktionen zum Zeitpunkt der Ausstellungserarbeitung zwischen 2015 und 2017 zeigen. Mittig im Raum befindet sich außerdem ein Modell des „Schreins für die vergessenen Seelen“, ein Entwurf von Satch Hoyt für ein Denkmal als Ort der Trauer, des Verarbeitens und Lernens. Dahinter hängt eine 2017 von Lena Ziyal rekonstruierte Kohlezeichnung Bismarck Bells.
Der mittlere Raum informiert allgemeiner über den deutschen Kolonialismus und präsentiert Tafeln aus der Wanderausstellung „freedom roads! koloniale Straßennamen | postkoloniale Erinnerungskultur“, die zwischen 2010 und 2014 vor Ort in Namibia, in Togo und Kamerun sowie in Tansania gestaltet wurden.[25] Der hintere Raum zeigt die 106 Teilnehmer*innen der Kolonialausstellung von 1896 auf vier großen Wänden. Diese Kurzvorstellungen zeigen nicht immer eine Porträtfotografie, präsentieren dafür aber stets Eckdaten zur Person und werden teils durch herausnehmbare Biografien in Aufstellern vor den Wänden ergänzt.[26]
Von den im Raum befindlichen Text-Bild-Tafeln ist insbesondere die Tafel „Blickwechsel“ hervorzuheben, die in engem Zusammenhang mit der Tafel „Der koloniale Blick“ im Eingangsbereich steht und unter anderem bildethische Fragen aufgreift. Mittig im Raum befindet sich außerdem eine Vitrine mit zwei Exponaten: zum einen das Opernglas, mit dem der Teilnehmer Bismarck Bell 1896 auf die Besucher*innen der Kolonialausstellung zurückschaute, und zum anderen das Buch „Deutschland und seine Kolonien im Jahre 1896“, das als amtlicher Bericht über die Erste Deutsche Kolonialausstellung der heutigen Ausstellung als Hauptquelle dient.
Der Umgang mit diskriminierenden Bildern im „Raum mit dem Opernglas“
„Wie lässt sich das diskriminierende Prinzip der kolonialen ‚Völkerschau‘ in Treptow […] brechen? Was kann der ausgrenzenden Darstellung der Kolonisierten als Menge von ‚Fremden‘ und ‚Anderen‘ […] entgegengestellt werden? Wie kann ihnen – mehr als ein Jahrhundert später – ein Teil ihrer Individualität und Würde zurückgegeben werden?“[27] Dies sind die wesentlichen Fragestellungen, unter denen der hintere Ausstellungsraum, der „Raum mit dem Opernglas“, konzipiert wurde. Die Tafel „Blickwechsel“ informiert über die daraus folgende Entscheidung der Ausstellungsmacher*innen, alle Teilnehmer*innen vorzustellen, „ohne sie nach Herkunft oder sprachlicher Zugehörigkeit zu ordnen“.[28]
Damit soll ihnen ihre Individualität und Würde zurückgegeben werden. Trotzdem wird dabei teilweise auf Porträtfotografien zurückgegriffen, die im Kontext der Kolonialausstellung und „im Rahmen ihrer ethnologisch-anthropologischen Dokumentation“[29] entstanden sind. Dies begründen die Ausstellungsmacher*innen mit dem Mangel an Alternativen: „Im Gegensatz zu den ebenfalls im Amtlichen Bericht aufgenommenen Profilbildern erscheinen uns diese nicht abwertend“,[30] heißt es begründend. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass den Gesichtsausdrücken entsprechend die meisten Teilnehmer*innen keine Freude beim Fotografiertwerden hatten und sich einige trotz einer angebotenen Entlohnung verweigerten.
Der „Blickwechsel“ legt mit den dargestellten Intentionen und Vorgehensweisen der Ausstellungsmacher*innen in einem für Museen ungewöhnlichen Maß den Konstruktcharakter der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ offen. In diese Transparenz reihen sich die zentral im Raum platzierten Exponate ein. Als dreidimensionale Objekte verbildlichen sie in Form des amtlichen Berichts von 1896 die diskriminierenden, kolonialrassistischen Ausstellungspraktiken der historischen Kolonialausstellung und würdigen mit dem Opernglas die Individualität und sich aktiv widersetzende Haltung einiger Teilnehmer*innen. Das Opernglas steht als Sinnbild somit auch für das Konzept und den Namen von „zurückGESCHAUT“.
Unter den Porträtfotografien befinden sich, soweit dies zu rekonstruieren war, die Namen, die Lebensdaten und einige Basisinformationen zu den Abgebildeten. Damit erfahren die Besucher*innen von „zurückGESCHAUT“ mehr von den Teilnehmer*innen der Kolonialausstellung als die Besucher*innen der historischen Ausstellung. Eine zusätzliche Quelle bilden dabei die herausnehmbaren, unterschiedlich umfangreichen Biografien der Teilnehmer*innen. Diese A4-Seiten enthalten Informationen zu ihrem Leben vor, während und nach der Kolonialausstellung von 1896. Ihre Art und Länge variiert stark; einigen sind mehrere Seiten gewidmet, während es über andere gar keine oder nur unvollständige biografische Informationen gibt. Auch die dort genutzten Fotografien enthalten nur wenige Kontextinformationen.
Bildethische Verantwortung im musealen Umgang mit diskriminierendem Bildmaterial
Das Museum Treptow setzt sich bereits seit 1996 in unterschiedlicher Schwerpunktsetzung mit der Ersten Deutschen Kolonialausstellung auseinander. Doch erst seit 2017 ist mit „zurückGESCHAUT“ eine Sonderausstellung angelegt, die diese kritisch behandelt und die Geschichte von Kolonialismus, Rassismus und Widerstand in Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft. Dafür gehen die Ausstellungsmacher*innen offen mit ihren Konzepten zu sprachlich und bildlich diskriminierenden Inhalten des zur Verfügung stehenden Quellenmaterials um. Zur Vermeidung einer kolonialrassistischen Reproduktion dieser Inhalte wenden sie drei Hauptstrategien an:[31] Dies ist zuerst die Beteiligung Schwarzer Menschen beim Erstellen des Ausstellungskonzepts, bei der Auswahl der Bilder und dem Verfassen der Ausstellungstexte. Grundsätzlich wird zweitens die Verwendung von rassistischem Vokabular und kolonialrassistischen Fotografien kritisch nach gewahrter Würde und Individualität der Gezeigten beurteilt und soweit wie möglich vermieden. Anderenfalls werden die diskriminierenden Inhalte drittens als solche für die Ausstellungsbesucher*innen kenntlich gemacht und entsprechend kontextualisiert oder apostrophiert.[32]
Die Wirkungskraft und -macht von Bildern scheint in der Ausstellungskonzeption eine wichtige Rolle zu spielen, da zum Schutz der gezeigten Personen bildethische Konzepte angewendet werden: Bilder werden nach kritischem Abwägen ausgewählt, (re-)kontextualisiert, und entsprechend der Prämisse „Not without us about us“ findet eine Selbstrepräsentation schwarzer Bevölkerungsgruppen statt.[33] Kolonialrassistische Bildinhalte werden damit nicht einfach wiederholt, sondern mit Hinweisen auf einen kolonialen Blick versehen. Damit wird der gewünschte „Blickwechsel“ bewirkt.
Für die Porträtfotografien im Raum mit dem Opernglas bedeutet dies konkret, dass die Individualität der Teilnehmer*innen der Kolonialausstellung von 1896 in der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ klar wahrnehmbar wird. Sie werden einzeln vorgestellt und bekommen einen Platz in der Ausstellung, unabhängig davon, ob eine Porträtfotografie vorhanden ist oder Informationen zur Person vorliegen. Dies würdigt sie als teils aktiv Widerstand leistende Individuen und erkennt sie im Sinne des Ausstellungsnarrativs entsprechend an.
Unklar bleibt, wer die Porträtfotografien wann und wo genau gemacht hat, inwiefern die Fotografierten Einfluss auf die Aufnahmen genommen haben und wie der historische Verwendungskontext von 1896 war. Von Seiten der Ausstellungsmacher*innen fehlt außerdem eine Antwort auf die Frage, warum es an dieser Stelle wichtig und nötig ist, zumindest einige der Teilnehmer*innen visuell zu zeigen. Mehr Kontext enthalten die Biografien in den Aufstellern, die allerdings erst aktiv von den Ausstellungsbesucher*innen herausgenommen und gelesen werden müssen. Die Kontextualisierung der Porträtfotografien erfordert somit eine Übertragungsleistung der Besucher*innen zwischen den Text-Bild-Tafeln, den Porträtfotografien und den Biografien. Es stellt sich die Frage, ob die Kontextualisierung im Zusammenhang mit kolonialen Fotografien nicht direkter möglich gewesen wäre. Der atmosphärische Raumgedanke im doppelten Sinne des Zurückschauens scheint sich dadurch nicht vollständig entfalten zu können. Anzuerkennen bleibt die problembehaftete Recherche- und Rekonstruktionsleistung, die der Wechsel auf die Perspektive der Teilnehmer*innen der Kolonialausstellung mit sich bringt und die hier umfassend gelungen ist.[34] „zurückGESCHAUT“ reiht sich insgesamt mit seinen bildethischen Konzepten in einen ethisch verantwortungsbewussten Umgang mit diskriminierenden Bildern aus kolonialen Kontexten ein.
[1] Vgl. die Biografie von Bismarck Bell/Kwelle Ndumbe in der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020; Die Bundesregierung, Ausstellung zur deutschen Kolonialgeschichte. zurueckGESCHAUT, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/buerokratieabbau/zurueckgeschaut-467352 [22.06.2021].
[2] Vgl. Britta Lange, Geschichte als Argument. Deutsche Kolonien und deutsche „Heimat“ in der Berliner Gewerbeausstellung 1896 und in der Retrospektive 1996/2007, in: Jahrbuch für Politik und Geschichte 4 (2013), S. 67-86, hier S. 68; Ulrike Lindner, Neuere Kolonialgeschichte und Postcolonial Studies, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.04.2011, http://docupedia.de/zg/lindner_neuere_kolonialgeschichte_v1_de_2011 [22.06.2021]; Diana Miryong Natermann, Koloniale Dokumente im Museum für Völkerkunde Hamburg. Afrika als Gegenstand der kolonialen Fotografie, in: Visual History, 23.06.2017, https://visual-history.de/project/koloniale-dokumente-im-museum-fuer-voelkerkunde-hamburg/ [22.06.2021]; Gerhard Paul, BilderMACHT. Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 634.
[3] Jens Jäger, Fotografie und Geschichte, Frankfurt a.M. 2009, S. 169.
[4] Jäger, Fotografie und Geschichte, S. 173.
[5] Ebd.
[6] Vgl. ebd., S. 154-156, 169, 179.
[7] Vgl. Kristina Starkloff, Völkerschauen/Zurschaustellungen, in: Pim den Boer/Heinz Durchardt u.a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte: 3. Europa und die Welt, München 2012, S. 165-171, hier S. 167-169.
[8] Vgl. Bezirksamt Treptow von Berlin (Hg.), Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 in Bildern, Berlin ²2010, S. 8-9.
[9] Ausstellungstext „Berliner Gewerbeausstellung 1896“ aus der Dauerausstellung „Aus 250 Jahren Treptower Geschichte“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[10] Vgl. Ausstellungstext „Berliner Gewerbeausstellung 1896“; Bezirksamt Treptow von Berlin, Berliner Gewerbeausstellung 1896, S. 20-25, 31-70; Alexander C.T. Geppert, Weltstadt für einen Sommer. Die Berliner Gewerbeausstellung 1896 im europäischen Kontext, in: Die Geschichte Berlins. Verein für die Geschichte Berlins e.V., Januar 2007, https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/berlin-abc/stichworteag/975-weltstadt-fuer-einen-sommer-die-berliner-gewerbeausstellung-1896-im-europaeischen-kontext.html/ [22.06.2021]; Lange, Geschichte als Argument, S. 69.
[11] Ausstellungstext „Berliner Gewerbeausstellung 1896“.
[12] Vgl. Bezirksamt Treptow von Berlin, Berliner Gewerbeausstellung 1896, S. 26; Geppert, Weltstadt für einen Sommer; Lange, Geschichte als Argument, S. 68-79; 2. Tafel im Eingangsbereich „Treptow | 1896 Erste Deutsche Kolonialausstellung“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[13] Vgl. Ausstellungstext „Berliner Gewerbeausstellung 1896“; Bezirksamt Treptow von Berlin, Berliner Gewerbeausstellung 1896, S. 8; Geppert, Weltstadt für einen Sommer.
[14] Vgl. Berlin.de – Das offizielle Hauptstadtportal: Bezirksamt Treptow-Köpenick. Amt für Weiterbildung und Kultur, https://www.berlin.de/ba-treptow-koepenick/politik-und-verwaltung/aemter/amt-fuer-weiterbildung-und-kultur/ [22.06.2021]; Berlin.de – Das offizielle Hauptstadtportal: Museen Treptow-Köpenick. „Aus 250 Jahren Treptower Geschichte“ – Dauerausstellung des Museums Treptow, https://www.berlin.de/museum-treptow-koepenick/ausstellungen/artikel.649850.php [22.06.2021]; Berlin.de – Das offizielle Hauptstadtportal: Museen Treptow-Köpenick. Geschichte des Museums Treptow, https://www.berlin.de/museum-treptow-koepenick/ueber-uns/geschichte/geschichte-des-museums-treptow-595997.php [22.06.2021].
[15] Lange, Geschichte als Argument, S. 82.
[16] Vgl. ebd., S. 80-85.
[17] Vgl. Berlin.de – Das offizielle Hauptstadtportal: Museen Treptow-Köpenick. „ZurückGESCHAUT“ – Ausstellung zur Deutschen Kolonialgeschichte im Museum Treptow, https://www.berlin.de/museum-treptow-koepenick/ausstellungen/artikel.649851.php [22.06.2021].
[18] Mit den beiden Bezeichnungen „Wissenschaftlich-kommerzieller Teil“ und „Ethnologischer Teil“ übernehmen die heutigen Ausstellungsmacher*innen die Originalnamen der Ausstellungsteile von 1896; dies wird im Rahmen der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ jeweils besonders gekennzeichnet.
[19] 5. Tafel im Eingangsbereich „Wissenschaftlich-kommerzieller Teil“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[20] Vgl. 3. und 4. Tafel im Eingangsbereich „Deutschlands ‚Weltreich‘ am Karpfenteich“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020; 5. bis 8. Tafel im Eingangsbereich „Wissenschaftlich-kommerzieller Teil“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020; 9., 10. und 12. Tafel im Eingangsbereich „Ethnologischer Teil“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[21] 11. Tafel im Eingangsbereich „Der koloniale Blick“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[22] 11. Tafel „Der koloniale Blick“.
[23] Ebd.
[24] Ebd.
[25] Siehe dazu: Wanderausstellung freedom roads! koloniale straßennamen. postkoloniale erinnerungskultur. Geschichte, Kunst und Beteiligung, http://www.freedom-roads.de/ [22.06.2021].
[26] Von den insgesamt 106 Vorstellungen zeigen 58 eine Porträtfotografie, 48 verbleiben ohne Gesicht.
[27] 1. Tafel im Raum mit dem Opernglas „Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Kolonialausstellung“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[28] Ebd.
[29] Ebd.
[30] Ebd.
[31] Vgl. 1. Einleitungstafel im Eingangsbereich „1896 Treptower Park. Erste Deutsche Kolonialausstellung“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020; 11. Tafel im Eingangsbereich „Der koloniale Blick“; 2. Tafel im Raum mit dem Opernglas „Blickwechsel“ aus der Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow, Oktober 2020.
[32] Vgl. Frank Becker, Historische Bildkunde – transdisziplinär, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 21 (2008), S. 95-110, hier S. 100; Arnd Pollmann, Darf man das zeigen? Grundzüge einer philosophischen Ethik des Bildes, in: tv diskurs 22 (2018), Ausgabe 83, Heft 1, S. 22, http://www.a-pollmann.de/wp-content/uploads/2015/11/pollmann-grundzuege-bildethik-tvd83-1.pdf [10.06.2021].
[33] Vgl. Violetta Rudolf, Bilder zeigen – aber wie? Ein Kommentar zum Workshop „Bildethik – zum Umgang mit Bildern im Internet“ am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, 18. März 2019, in: Visual History, 03.09.2019, https://www.visual-history.de/2019/09/03/bilder-zeigen-aber-wie/ [22.06.2021].
[34] Vgl. Starkloff, Völkerschauen/Zurschaustellungen, S. 170.
Zitation
Josephine Kuban, Wer schaut hier wen an? Die Ausstellung „zurückGESCHAUT“ im Museum Treptow in Berlin, in: Visual History, 28.06.2021, https://visual-history.de/2021/06/28/wer-schaut-hier-wen-an/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2258
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