Abenteuer „Gastarbeit“: Das Fotoalbum Lino Caringis

 

Fotoalben eröffnen zumindest ausschnitthaft Einblicke in individuelle Lebenswege, lassen sich als Selbstvergewisserung wie -darstellung und somit als kuratierte Erinnerungen ihrer Besitzer lesen. Keineswegs sind sie allerdings immer so eindeutig wie das Wolfsburg-Album Lino Caringis, in dem bereits die erste Seite signalisiert: Nun beginnt ein neuer Lebensabschnitt. Darin bezeichnet sich der am 7. Oktober 1943 in Arbizzano, einem Städtchen in den Abruzzen, Geborene selbst als „Arrivato“, als einen Angekommenen, und notiert mit dem 19. Juli 1962 das betreffende Datum. Das Wo seiner Ankunft ist gleich doppelt durch einen farbigen Aufnäher und eine Fotografie dokumentiert,[1] die sicherlich nicht zufällig auch bildlich miteinander interagieren (Abb. 1).

Beide zeigen das die Werksfront dominierende Kraftwerk des Volkswagenwerks – wobei auf ersterem zeitgemäß noch die so markanten Schornsteine fehlen – und im Vordergrund mit einem fahrenden VW Käfer ebenjenes Produkt, das in den kilometerlangen Hallen produziert wurde. Da der Aufnäher sogar den Ort des Geschehens – Wolfsburg – klar benennt, bleiben diesbezüglich keine Fragen offen. In das 30 Seiten umfassende Fotoalbum, das noch im gleichen Jahr fertiggestellt wurde, hat Caringi Fotografien eingeklebt und kommentiert, die er selbst oder seine Freunde mit seiner Kamera aufgenommen haben. Aber welche Geschichte erzählt Caringi in und mit ihm – und für wen?

Abb. 1: Aufbruch in eine neue Welt; Titelseite aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Zunächst einmal sind seine Fotografien wie die so viele anderer Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten „ein reflexives Instrument zur Selbstverortung in einer neuen Stadt“, schließlich seien es jene „selbstinszenierten Bilder“, wie es die Architekturhistorikerin Ela Kaçel und die Kuratorin Barbara Engelbach präzise benannt haben, „die helfen, den eigenen Platz in der Stadt zu bestimmen“.[2] Sie sind insofern schon einmal besonders, als sie die lange Zeit medial verbreiteten und demnach die offizielle Lesart dominierenden Bilderwelten der Migration kontrastieren, die Migranten und Migrantinnen vornehmlich als Reisende, in ihrem Arbeitsumfeld oder aber als „gesellschaftliches Problem“ in Szene setzten.[3] Lino Caringis Aufnahmen, klassische Beispiele der sogenannten Knipserfotografie, mit denen er auch keinerlei „künstlerische Ambitionen“ verfolgte, sondern vielmehr „selbst erlebte Szenen festhalten“ wollte,[4] zeigen aber noch weit mehr als das, was gemeinhin für viele Fotografien vergleichbaren Ursprungs gesagt wird. Häufig sollten diese schöne Erlebnisse dokumentieren, den Verwandten in der Heimat veranschaulichen, wie das Leben in der Fremde konkret aussah.

Darüber hinaus vermitteln sie nicht selten – und dies keineswegs allein aus heutiger Sicht – auch visuelle Aufstiegsgeschichten: Zahlreiche der in den 1960er und 1970er Jahren im privaten Kontext entstandenen Fotografien präsentieren die Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten vor, in oder neben Kraftfahrzeugen posierend oder aber mit anderen meist technischen Konsumgütern.[5] Sie führten den in der Heimat verbliebenen Verwandten und Freunden vor Augen, dass die „Entscheidung, das eigene Land“ – wenn auch nur temporär – „zu verlassen, richtig und lohnenswert war“. Diese Fotografien waren damit, wie es die Historikerin Claudia Valeska Czycholl formuliert, Hilfsmittel zur „Selbstvergewisserung“ und „Beweismaterial für die eigene Erfolgsgeschichte“ gleichermaßen,[6] da sie den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg im Migrationsland bildlich festhielten.

Bei Lino Caringi hingegen scheint das nicht der Fall gewesen zu sein. Zwar finden sich auch in seinem Wolfsburg-Album vier kommentierte Aufnahmen, die diesem Typus entsprechen – auf der Albumseite 27 beschreibt Caringi beispielsweise eine Fotografie eines Freundes vor einem VW Karmann Ghia,[7] vor dem er auf einem weiteren Bild dann selbst posiert (Kommentar: „Bellissimo“) – mit „Nino und sein erstes Auto“. Doch verrät ein weiterer handschriftlicher Eintrag, dass das gefeierte Auto für die Freunde eine ganz andere Funktion als die oben erwähnte übernahm: Es ermöglichte ihnen an den Wochenenden, von Wolfsburg aus zu fünft in die Disco nach Schöningen zu fahren. Das Auto versprach Freiheit und ein regelmäßiges Ausbrechen aus der Enge der Volkswagenstadt, wo den vielen Italienern der Zutritt zu Tanzlokalen oftmals verwehrt blieb (Abb. 2). So lassen sich die Aufnahmen weniger als visuelle Selbstvergewisserung denn als Ausdruck der jugendlichen Freude am Leben interpretieren.

Seite aus Fotoalbum: ein junger Mann im dunklen Anzug neben seinem VW-Karmann Ghia

Abb. 2: Ein VW-Karmann Ghia als Statussymbol und Ausweg aus der Wolfsburger Enge; Seite 28 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Dass die oben genannten etablierten visuellen Narrative auf das „Gastarbeiterdasein“ Lino Caringis nicht so wirklich zutreffen, zeigt sich im Fotoalbum schon deutlich früher. Bereits die zweite Seite verrät, dass wir es gewissermaßen mit einem Erinnerungsalbum einer Gruppe zu tun haben, sind doch neben Caringi mit „Tonino“ und „Ugo“ Portraitfotografien zweier weiterer Freunde aus seiner Heimat eingeklebt, die mit ihm, wie er im Interview gleich zu Beginn ausführt, aus „Abenteuerlust“ nach Deutschland aufgebrochen seien.[8] Gemeinsam mit ihnen hat er sich sodann – das zeigen seine Fotografien der Zeit auf vielfache Weise – die Stadt, das neue Land erschlossen, hat mit ihnen seine Freizeit geteilt, herumgealbert und ganz offenbar das Leben genossen. Das Fotoalbum erzählt daher auch, da die Freunde ihn über das ganze Album hinweg begleiten, die Geschichte ihrer Freundschaft. Wie er handschriftlich kommentiert hat, sind alle drei Fotografien noch vor der Abfahrt nach Wolfsburg aufgenommen worden (Abb. 3). Damit stehen sie im Kontrast zu einem Bild, das auf der nächsten Seite des Albums folgt: „Le mie Prime Foto“ – das erste Foto, das ihn in Wolfsburg zeigt: Er steht lässig, die Hemdsärmel hochgekrempelt, die linke Hand in der Hosentasche, mit der rechten sich an einem der Fensterläden der Unterkünfte an der Berliner Brücke abstützend, in der Wolfsburger Sonne, dabei einen augenfälligen Schlagschatten werfend.

Seite aus Fotoalbum: drei Passfotos von Lino Caringi

Abb. 3: Die drei Abenteurer; Seite 2 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Nicht untypisch für thematisch geordnete Fotoalben, die sich einer „lebensgeschichtlichen Entwicklungsphase“ widmen,[9] gruppiert Caringi in seinem Album immer wieder Sinnabschnitte.[10] So nimmt er auf den nächsten beiden Seiten mit seiner unmittelbaren Arbeitswelt einen erwartbaren elementaren Teil seiner Migrationsbiografie in den fotografischen Blick – doch werden eben diese Erwartungen umgehend textlich wie visuell gebrochen. Eine Fotografie gibt inmitten der Halle 12 des Volkswagenwerks aus der Perspektive eines Bandarbeiters einen unverstellten Einblick in den Produktionsprozess (Abb. 4).

Es wirkt, als sei die Aufnahme am eigenen Arbeitsplatz am Montageband aufgenommen: Eine lange Reihe von VW Käfern mit geöffneten Türen verschwimmt vor dem Auge des Betrachters am rechten unteren Bildrand zu einem hellen Band, das sich in der Tiefe der Halle verliert. Zwar sind einzelne Kollegen des Fotografen bei der Endfertigung der Autos zu erkennen, doch ziehen die weiteren Fließbandreihen am linken Bildrand und vor allen Dingen die unter der Hallendecke schwebenden Käfer-Karosserien den Blick auf sich. Besonders wird das Bildmotiv durch den selbstironischen, wohl mit einem schelmischen Augenzwinkern verfassten handschriftlichen Kommentar Caringis: Seine Tätigkeit in der Produktion, speziell der Einbau der Fenster, sei „für ihn ein großes Problem“ gewesen, habe er doch zuvor „noch nie gearbeitet“. Angesichts dessen, dass er sein Album noch in Wolfsburg zusammengestellt hat, ist diese Selbstironie bemerkenswert. Sie ist ein Beleg mehr für die Leichtigkeit, mit der er seinen Aufenthalt als „Gastarbeiter“ bei der Volkswagenwerk AG angegangen zu sein scheint.

Seite aus Fotoalbum: Foto von VW-Montagehalle mit Fließbandreihen und scheinbar durch die Halle schwebenden Autos

Abb. 4: Die Endfertigung des VW Käfers aufgenommen aus der Perspektive Caringis; Seite 4 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Ein „Gastarbeiter“, dem das Arbeiten eher schwerfiel – dieses Bild seiner selbst zeichnet er auch im lebensgeschichtlichen Interview. Vergnügt berichtet er gleich zu Beginn, ihm sei die Arbeit alles andere als leicht gefallen, habe er doch noch nicht einmal gewusst, was eine Bohrmaschine sei.[11] Damit stand er sicherlich nicht alleine, klagten doch viele italienische Arbeitsmigranten, die ihre ersten Arbeitserfahrungen oftmals in der heimatlichen Landwirtschaft gesammelt hatten, über die für sie „ungewohnte Arbeit“.[12]

Caringi störte sich jedoch nicht daran, sei er doch sowieso nur selten auf der Arbeit und deswegen auch nicht überrascht gewesen, als sein Arbeitsvertrag nicht verlängert worden ist. Was er geleistet habe, so wurde ihm im Personalbüro vermittelt, sei schlichtweg „Mist“ gewesen.[13] Gekümmert scheint ihn dies, das vermittelt er zumindest retrospektiv, damals so wenig wie heute zu haben: Mit der Kündigung habe er gerechnet; er sei anschließend nach Schöningen gezogen, wo er eine Beziehung mit einer jungen Frau führte. Dort sei er anders als in Wolfsburg „sofort mit offenen Armen aufgenommen“ worden.[14] Es seien aber eben auch nur fünf oder sechs Italiener vor Ort gewesen und nicht Tausende wie in Wolfsburg. In Schöningen habe er dann einen ganz anderen „Lebensstil“ gepflegt, verschiedene Berufe ausprobiert, vom Tischler bis zum Klempner, stets durch Freunde vermittelt, ehe er dann in einem Café zu arbeiten begann und auf den Weg des Gastronomen eingebogen sei – einen Weg, den er sodann nicht mehr verlassen sollte. Er führte ihn schließlich nach Braunschweig, wo er alleine am Kohlmarkt, dem zentralen Platz in der Löwenstadt, drei Eisdielen betrieb.

Doch zurück zu dem, was Fotoalben im Vergleich zu erzählten Lebensgeschichten besonders machen: ihre spezifische „Evidenz, die mehr in der Sichtbarkeit als in narrativen Prinzipien verankert ist“.[15] So zeigen ungeachtet seiner Erzählung zwei Fotografien Lino Caringi auf der nächsten Albumseite bei verschiedenen Arbeitstätigkeiten im Volkswagenwerk, das eben auch für ihn zentraler Orientierungspunkt dieses Lebensabschnitts war (Abb. 5). Doch schleicht sich der Eindruck ein, dass Caringi seine Arbeit mit Lebensfreude zu verknüpfen verstand: Die Schnappschüsse wirken im Kontrast beispielsweise zu den filmischen Aufnahmen, die Carmine Perrotti 1964 in den Produktionshallen zeigen,[16] weniger seriös. Caringi erscheint aufgrund seiner fehlenden Körperspannung weniger gewissen- und ernsthaft, obgleich doch auch Perrotti verschmitzt direkt in die Kamera grinst.

Es spricht für sich selbst, dass eine dritte Fotografie Caringi mit drei Kollegen bei einer Arbeitspause zeigt, einen Snack, nicht Werkzeug in den Händen haltend. Auf einer vierten Aufnahme schließlich, zugleich die letzte, die sich dem Thema Arbeit widmet, sieht eine Kollegin von ihrer Tätigkeit auf und lächelt in Richtung Kamera. Anders als die zuvor genannten hat er diese Fotografie wohl selbst gemacht. Was er anhand ihrer vermitteln wollte, darüber kann nur spekuliert werden. Möglicherweise wollte er festhalten, dass auch Frauen mit ihm zusammen im Werk arbeiteten, er mit ihnen freundschaftlich verbunden war. So kommt der Seite eine zweifache dokumentarische Funktion im Album zu – einerseits ist Caringi selbst in seiner Arbeitswirklichkeit festgehalten, andererseits dokumentierte er auf ihr auch das Miteinander, den Austausch und all das, was über die Arbeit hinausgeht und für ihn so viel wichtiger war, in seinem Abenteuer „Gastarbeit“.

Seite aus Fotoalbum: vier Fotos mit Szenen aus der Arbeitswelt in der VW-Montagehalle von Lino Caringi und seinen Kolleg:innen

Abb. 5: Einblicke in Caringis Arbeitswelt; Seite 5 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Da Alben klassischerweise als „Präsentationsinstrument des eigenen Lebens“ genutzt werden,[17] da in ihnen Erinnerungen nicht nur bewahrt, sondern immer wieder neu erzeugt werden,[18] fehlen auch in Caringis Wolfsburg-Album solche Fotografien nicht, die ihn vor und in seiner Unterkunft zeigen, einer doppelstöckigen Holzbaracke im sogenannten Italienerdorf (Abb. 6). Sie wirken wenig zufällig. Auch für sie trifft zu, was Kaçel und Engelbach für vergleichbare migrantische Privatfotografien formuliert haben: Sie sind „in der Regel sorgsam bedachte und inszenierte Bilder mit einer performativen Wirkung, in dem Sinne, dass sie hervorbringen können, was sie abbilden. Die Praxis des Fotografierens schafft ein Gefühl des Ankommens.“[19] Aber wenig zufällig und inszeniert meint dann doch eine andere Inszenierung als beispielsweise die durch den Werksfotografen Willi Luther und sein Team aufgenommenen Fotografien aus dem „Italienerdorf“. Caringis Bilder transportieren eine andere, privatere Nähe, Lebendigkeit – ob sie ihn schick gekleidet zeigen, „fertig zum Ausgehen“, eine „Spagettata!!“ oder die Freunde in ihren Betten auf ihrem Zimmer.

Seite aus Fotoalbum: das obere Bild zeigt die Unterkunft aus der Entfernung:, auf dem unteren Foto steht Lino Cariugi davor.

Abb. 6: Sich selbst in der neuen Stadt verorten; Seite 6 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Es ist gut möglich, dass auch diese Knipserfotografien dazu gedacht waren, als visuelle Zeugnisse des „Gastarbeiterlebens“ in die italienische Heimat verschickt zu werden. Vermutlich waren die Fotos schlichtweg Ausdruck seiner Persönlichkeit; auf den späteren Bildern bricht sich jedenfalls mehr und mehr der Schalk Bahn, der ihn auszuzeichnen scheint. Aber zuvor ließ sich Lino Caringi noch in melancholischer Stimmung ablichten (Abb. 7). Er kommentierte: „Am selbigen Tag war mein Gedanke nur einer. Italien. Zuhause …“ Zweifelsohne litt auch er wie zahlreiche seiner Landsleute an Heimweh, das in der deutschsprachigen Presse mit Beginn des Herbstes vielfach zum Thema gemacht wurde: „Natürlich haben die Süditaliener“, hieß es beispielsweise im Tages-Anzeiger aus Regensburg, „manche kleine und große Sorge, an erster Stelle – Heimweh.“[20]

Seite aus Fotoalbum: Lino Cariugi auf einer Parkbank und im Gras sitzend

Abb. 7: Vor der Sehnsucht nach der Heimat scheint keiner gefeit; Seite 11 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Auf den folgenden Seiten des Albums kann davon jedoch nicht mehr die Rede sein. Caringi möchte sein Leben eher als freudvoll und abenteuerlich nachzeichnen. So zeigen die Fotografien: Es sind seine Freunde und Freundschaften, die ihn das Leben genießen lassen. Fast hat es den Anschein, als sei auf den Aufnahmen eine Urlaubsreise mit den Freunden festgehalten. Mal bilden diese gemeinsam eine menschliche Pyramide inklusive „Gegenschuss“ auf den Fotografen (Abb. 8) – man beachte, dass das „Gruppo“ in „Il mio Gruppo“ unterstrichen ist –, mal zeigen die Fotos Lino blödelnd mit Ugo (Abb. 9). Selbst eine Fotografie seiner „ersten Freundin“ hat er ins Album geklebt; wenngleich diese ebendort auch namenlos bleibt, so hat sie doch einen Platz in seinem Album bekommen. Und immer wieder sind auf den Fotografien gemeinsame Badefreuden zu sehen, ob am Mittellandkanal oder im VW-Bad (Abb. 10). Der letztgenannten Gruppenaufnahme ist auf der gleichen Seite noch eine weitere, offenbar ebenfalls aus dem Sommer stammende, hinzugefügt. Sie bekommt durch den handschriftlichen Kommentar und einen Pfeil, der auf einen Freund auf der Fotografie zeigt, eine in jeglicher Hinsicht andere Bedeutung und verweist auf eine ganz andere Realität der italienischen Gruppe:

„November 1962. (Zum Sterben kalt) Der Tod unseres Freundes wegen Krankheit und fehlender Ambulanz. 10.000 Italiener! 1 Doktor!! Pfui Teufel. Streik der Italiener. Ich und Carmine mit den Feuerwehrschläuchen gegen die Polizei. Unvergesslich.“

Seite aus Fotoalbum: oben: drei junge Männer, die eine Pyramide bilden; unten: fünf junge Männer auf der Straße, die sich für eine Gruppenaufnahme aufgestellt haben.

Abb. 8: Dokumentierte Freundschaft; Seite 16 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Seite aus Fotoalbum: Ein junger Mann posiert in Badehose in einem Flur, links und rechts Passfotos von zwei jungen Männern, die herumalbern.

Abb. 9: „Was für ein toller Hecht“; Seite 17 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Seite aus Fotoalbum: oben: Foto von vier jungen Männern in Badehose im Schwimmbad oder am Mittellandkanal; unten: eine weitere Gruppenaufnahme von vier jungen Männern mit handschriftlichem Kommentar und Pfeil

Abb. 10: Was von einer Freundschaft bleibt; Seite 25 aus Lino Caringis Wolfsburg-Album, 1962; Private Sammlung Lino Caringi ©

Caringi verdichtet hier auf wenigen Zeilen seine Erzählung des ‚wilden‘ Italienerstreiks vom 4./5. November 1962.[21] Anlass zu diesem hätte, wie er es in wenigen Sätzen notiert hat und es seinerzeit auch in der Presseberichterstattung hieß, „ein Versagen der ärztlichen Fürsorge“ gegeben:[22] der Tod seines Freundes. Er war am Freitagabend an einem Gehirnschlag im örtlichen Krankenhaus verstorben, und die Behauptung stand im Raum, er hätte „bei rechtzeitigem Eingreifen der Ärzte gerettet werden können. Ob das zutrifft, bedarf der Klärung“, hieß es dazu in einer Radioreportage des Bayrischen Rundfunks.[23] Als dann zwei Tage später ein Italiener „von heftigen Magenschmerzen befallen worden war“, habe es 40 Minuten gedauert, bis der Rettungswagen vor Ort eingetroffen sei[24] – so der Vorwurf der Streikenden, der von der zuständigen Feuerwehr rigoros zurückgewiesen wurde. Die Italiener legten jedenfalls die Arbeit spontan nieder.

Das Ereignis rief damals republikweit Verwunderung hervor, weil das „Italienerdorf“ gemeinhin als „vorbildlich“ galt,[25] sich noch der italienische Botschafterrat Dr. Papini des römischen Außenministeriums in der Woche zuvor ausschließlich lobend über die Art der Unterbringung und Betreuung der italienischen Arbeitsmigranten geäußert hatte.[26] In der bereits erwähnten Reportage im Tages-Anzeiger wurde gar über „das Geheimnis der Zufriedenheit“ der Italiener in Wolfsburg gemutmaßt, sie seien mit dem „Komfort“, der ihnen dort widerfahre, zuvor schlichtweg nicht vertraut gewesen: „Wer etwas braucht, ruft nach einem Dolmetscher, wer sich nicht wohlfühlt, geht zu dem italienischen Arzt im Krankenrevier.“[27] Rückblickend lesen sich manche dieser Aussagen fast zynisch. Denn ganz anders klingt es in Caringis Album, der mit der Bemerkung „1 Doktor! Pfui“ auf das große Missverhältnis hinweist. Fotografie und begleitender Kommentar verbinden auf engstem Raum Trauer, Wut und Fassungslosigkeit.

Die letzte Seite des Albums bringt dann noch einmal zwei Aufnahmen, die Lino Caringi mit seinen „Amici“ zeigen. Da ihre Freundschaft, wie anzunehmen ist, auch über das Album hinaus Bestand hatte, das Kapitel Wolfsburg für Caringi jedoch wenige Monate später abgeschlossen war, endet das Album ohne wirkliches Ende. Ein weiteres seiner Alben jedoch, das er bereits zuvor begonnen hatte und das ganz seiner sportlichen Laufbahn gewidmet war – es birgt insbesondere Fotografien jener Fußballmannschaften, in denen er aktiv mitwirkte, darunter der I.S.C. Lupo aus Wolfsburg –, wird von ihm dagegen noch über Jahre fortgeschrieben. Der Sport beschäftigte ihn weiter, das Abenteuer Wolfsburg war vorbei. Als kuratierte Erinnerung hat es jedoch als Fotoalbum überdauert – zur Entstehungszeit wohl noch mehr für sich selbst erarbeitet, all die Jahrzehnte später aber sicherlich als visuelle Basis für Lino Caringis Erzählungen für seine Kinder, Enkel und Freunde.

 

 

Dieser leicht veränderte Aufsatz geht zurück auf den Beitrag in: Alexander Kraus/Aleksandar Nedelkovski/Anita Placenti-Grau (Hg.), Percorsi di vita. Lebenswege nach Wolfsburg. Reihe: Stadt – Zeit – Geschichte; Bd. 8, 208 S., 212 z.T. farb. Abb., Wallstein Verlag 2023, € 35,-. Wir danken Alexander Kraus für die Genehmigung.

 

 

[1] Jens Jäger zufolge macht gerade die Vielzahl an unterschiedlichen Elementen, ob Fotografie, handschriftliche Kommentare oder andere Erinnerungsstücke, aus einem Fotoalbum „eine sehr komplexe Erzählung“. Jens Jäger, Fotografie und Geschichte. Frankfurt am Main 2009, S. 188. Diese Form von Collage sei für Fotoalben der Nachkriegszeit typisch, so Cord Pagenstecher, „Private Fotoalben als historische Quelle“, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History Online-Ausgabe 6 (2009), H. 3, https://zeithistorische-forschungen.de/3-2009/4629, Druckausgabe S. 449-463 [24.02.2023], hier S. 454. Zur „polymediale[n] Erzählform“ siehe auch Johanna Bose, „Fotos auch anderen zeigen. Das Fotoalbum im Archiv und Museum. Eine Recherche“, in: Fotogeschichte, Jg. 41 (2021), H. 161, S. 57–63, online unter https://www.fotogeschichte.info/en/back-issues/issues-from-150/161/johanna-bose-das-fotoalbum-im-archiv-fotogeschichte-heft-161-2021/ [24.02.2023].

[2] Ela Kaçel/Barbara Engelbach, „Vor Ort: Fotografien und Erinnerungsbilder der Arbeitsmigration“, in: dies. (Hg.), Vor Ort: Fotogeschichten zur Migration/In Situ: Photo Stories on Migration. Köln 2021, S. 13–40, hier S. 22.

[3] Siehe dazu Claudia Valeska Czycholl, Bilder des Fremden. Visuelle Fremd- und Selbstkonstruktionen von Migrant*innen in der BRD (1960–1982). Bielefeld 2020 sowie Burcu Dogramaci, „Places of Gastarbeiter. Stadt, Migration und Fotografie der 1970er und 1980er Jahre“, in: Kritische Berichte, Bd. 43 (2015), H. 2, S. 5–15. Dogramaci geht dabei vor allem auf Fotografinnen wie Brigitte Kraemer oder Barbara Klemm ein, die zwar durchaus „Rituale und Verhaltensweisen in den Blick [nahmen], die als kulturell fremd und exotisch anmuteten. In ihrer Gesamtheit zeigen ihre Fotografien jedoch deutlich, dass die Fremden längst zum prägenden Teil einer von Einwanderung veränderten bundesdeutschen Gesellschaft und urbanen Landschaft geworden waren.“ Ebd., S. 5.

[4] Thomas S. Eberle, „Fotografie und Gesellschaft. Thematische Rahmung“, in: ders. (Hg.), Fotografie und Gesellschaft. Phänomenologische und wissenssoziologische Perspektiven. Bielefeld 2017, S. 11–70, hier S. 17, online unter https://www.transcript-verlag.de/media/pdf/0d/cb/32/ts2861_1xXS4IVUzgZSSx.pdf [24.02.2023]. Grundlegend dazu Tim Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980. München/Berlin 1995.

[5] Siehe dazu Claudia Valeska Czycholl, „Auto und Fernseher: Die ‚private Praxis‘ der Fotografie von ‚Gastarbeiter*innen‘“, in: Hans Peter Hahn/Friedemann Neumann (Hg.), Das neue Zuhause. Haushalt und Alltag nach der Migration. Frankfurt am Main/New York 2019, S. 307–324.

[6] Ebd., S. 314.

[7] Alle Übersetzungen der handschriftlichen Kommentare durch Alexander Kraus.

[8] StadtA WOB, Zeitzeugeninterview mit Lino Caringi vom 28. Februar 2022 von Alexander Kraus und Aleksandar Nedelkovski, Minute 01:19 bis 01:45.

[9] Siehe dazu Roswitha Breckner, „Zwischen Leben und Bild. Zum biografischen Umgang mit Fotografien“, in: Eberle, Fotografie und Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 229–239, hier S. 229 und 233.

[10] Vgl. Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quelle (wie Anm. 1), S. 460.

[11] Zeitzeugeninterview mit Lino Caringi (wie Anm. 8), Minute 02:40 bis 03:25.

[12] Anne von Oswald, „‚Venite a lavorare con la Volkswagen!‘ ‚Gastarbeiter‘ in Wolfsburg 1962–1974“, in: Rosmarie Beier (Hg.), Aufbau West – Aufbau Ost. Die Planstädte Wolfsburg und Eisenhüttenstadt in der Nachkriegszeit. Ostfildern-Ruit 1997, S. 199–209, hier S. 203.

[13] Zeitzeugeninterview mit Lino Caringi (wie Anm. 8), Minute 02:40 bis 03:25.

[14] Hier und im Folgenden ebd., Minute 04:10 bis 06:07.

[15] Eberle, Fotografie und Gesellschaft (wie Anm. 4), S. 50.

[16] Siehe dazu Martin Prinoth „Die Dramaturgie des Daseins“, in: Alexander Kraus/Aleksandar Nedelkovski/Anita Placenti-Grau (Hg.), Percorsi di vita. Lebenswege nach Wolfsburg. Göttingen 2023, S. 84–87.

[17] Ildikó Kovács, „Die Bedeutung von Fotografien als historische Quellen im Archiv. Mit exemplarischem Themenfeld aus dem Archiv für Zeitgeschichte (AfZ) ETHZ: Die Alltagsfotografie“, in: Informationswissenschaft: Theorie, Methode und Praxis (2014), S. 329–343, hier S. 339, online unter https://bop.unibe.ch/iw/article/download/3492/5273 [23.02.2023]. Dazu auch Timm Starl, „Die Bildwelt der Knipser. Eine empirische Untersuchung zur privaten Fotografie“, in: Fotogeschichte, Jg. 14 (1994), H. 52, S. 59–68, hier S. 59.

[18] Vgl. Breckner, Zwischen Leben und Bild (wie Anm. 9), S. 229–231. Siehe dazu auch Pagenstecher, Private Fotoalben als historische Quelle (wie Anm. 1), S. 453.

[19] Kaçel/Engelbach, Vor Ort (wie Anm. 2), S. 23.

[20] ER, „Ein Sieb für Spaghetti gehört zur Erstausstattung. Im größten Italienerdorf nördlich der Alpen – ‚Klein-Neapel‘ in Wolfsburg“, in: Tages-Anzeiger vom 7. November 1962 (Unternehmensarchiv Volkswagenwerk (UVW), 62/42/4). Die Reportage, in der eine wahre Hymne über die Italienerunterkünfte gesungen wurde, erschien zu einem gänzlich unpassenden Moment: Nur wenige Tage zuvor waren die Italiener in Wolfsburg in einen wilden Streik getreten. Quer durch die Republik berichtete die Presse von den Vorfällen, nun aber in einem gänzlich anderen Tonfall. Siehe dazu die Pressedokumentationen in UVW, 62/42/4; UVW, 62/40/1; UVW; 62/60/2; UVW, 62/40/3; UVW, 69/189/2 und UVW, 438/210/1.

[21] Siehe dazu Simon Goeke, „Wir sind alle Fremdarbeiter!“ Gewerkschaften, migrantische Kämpfe und soziale Bewegungen in Westdeutschland 1960–1980. Paderborn 2020, S. 78–86; Hedwig Richter/Ralf Richter, „Zum Streik der italienischen Arbeitsmigranten im Volkswagenwerk Wolfsburg 1962“, in: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, Jg. 7 (2008), Nr. 1, S. 72–88.

[22] UVW, 69/189/2, Radioreportage im Bayrischen Rundfunk vom 6. November 1962.

[23] Ebd. Fast Wortgleich hieß es so unter anderem auch in der Zeit. A. St., „‚Eviva Chruschtschow‘. Im Volkswagenwerk streikten die Italiener“, in: Die Zeit vom 9. November 1962 (UVW, 62/42/4).

[24] „VW-Gastarbeiter streikten. Angeblich unzureichende ärztliche Betreuung“, in: Mangfall Bote vom 8. November 1962 (UVW, 62/42/4).

[25] Klaus Wiborg, „Die großen Kinder aus dem Süden sind vereinsamt. Über die Hintergründe des Streiks in Wolfsburg“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 1962 (UVW, 62/42/4). Für Wiborg stand außer Frage, dass der Streik ganz andere Ursachen hatte. Hochnäsig, ja geradezu arrogant führt er aus, da die Italiener als Analphabeten in einer patriarchalischen Gesellschaft groß geworden seien, überfordere sie das Leben als „freie Menschen“. Es falle ihnen offenbar schwer, „für sich selbst zu sorgen und die freie Zeit auszufüllen“.

[26] A. St., „Eviva Chruschtschow“ (wie Anm. 23).

[27] ER, Ein Sieb für Spaghetti gehört zur Erstausstattung (wie Anm. 20).

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