Rezension: #LastSeen Bildatlas

Fotografische Überlieferung von Deportationen aus dem Reichsgebiet

Zum Projekt

Als Online-Rechercheplattform zur Fotogeschichte der nationalsozialistischen Verfolgung präsentiert sich seit Mitte März 2023 das Projekt #LastSeen und setzt dabei eigene neue Maßstäbe. Auf der Landingpage der Webseite www.lastseen.org hat der:die Benutzer:in zunächst die Wahl zwischen dem Entdeckungsspiel und dem Bildatlas. Der vorliegende Text widmet sich ausschließlich dem Bildatlas sowie der historischen Einbettung und Präsentation der in ihm enthaltenen derzeit 406 Fotografien von Deportationen von Jüdinnen und Juden sowie von Sinti:zze und Rom:nja aus 32 Orten in den Jahren 1938 bis 1943.

Screenshot der Startseite: Rechts sind Fotografien von Menschen mit Koffern und auf Bahnhöfen zu sehen; links auf schwarzem Untergrund die Textzeile #lastseeen Bildatlas sowie die Navigation der Website

Abb. 1: Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas https://atlas.lastseen.org/ © [15.05.2023]

#LastSeen ist ein Kooperationsprojekt unter der Leitung der Historikerin Alina Bothe. Entwickelt wurde es von Mitarbeiter:innen der Arolsen Archives, der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, dem Zentrum für Antisemitismusforschung, dem USC Dornsife Center for Advanced Genocide Research und dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München. Gefördert wurde es vom Bundesministerium der Finanzen und im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft. Ziel des Projekts war die systematische Erfassung und Veröffentlichung aller Fotografien von Deportationen aus dem Deutschen Reich sowie die Erarbeitung eines Bildungsangebotes für Schüler:innen.[1]

 

Der Bildatlas

In der Listenansicht des Atlas werden alle Deportationsfotos von 1938 bis 1943 alphabethisch nach den Orten im Reichsgebiet als Kacheln aufgelistet, von denen aus die Deportationen erfolgten: von A wie Asperg bis W wie Würzburg. Die Anzahl der überlieferten Fotografien ist sehr unterschiedlich. Aus Würzburg gibt es 96 Fotos, andere Serien sind wesentlich kleiner, wie zum Beispiel die aus Weiden mit nur vier Fotografien. Historische Leerstellen werden durch weiße „Störkacheln“ visualisiert, die auf das Fehlen der fotografischen Überlieferung hinweisen. Hiermit gelingt es dem Projektteam, trotz der Listung der Fotografien keinen irreführenden Anschein von Vollständigkeit zu erwecken. So sind beispielsweise aus Berlin bisher gar keine Fotografien der 60 Deportationen von etwa 50.000 jüdischen Menschen überliefert. Eine auffällige Lücke, die hoffentlich mithilfe des Projekts eines Tages geschlossen werden kann.

Listenansicht von drei Fotografien aus Asperg, 1940: Zwei zeigen Menschen in einem Zug, das dritte eine Gruppe von Personen vor einem Gebäude. Links neben den Fotos eine weiße Kachel, auf der steht: „1941-1945 Berlin: 60 Massendeportationen < 50.000 Jüdische Personen. Keine Fotos bekannt.“

Abb. 2: Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas ©: Ansicht der vorhandenen Fotografien mit „Störkachel“ zur fehlenden fotografischen Überlieferung der Deportationen in Berlin, https://atlas.lastseen.org/ [15.05.2023]

Die Recherche im Bildatlas wird durch eine kleinteilige Filteroption erleichtert, mit der der Bestand nach Ort, Örtlichkeit, Zeitraum oder Verfolgtengruppe, aber auch nach Bildhandlung – hinter diesem etwas sperrigen Begriff verstecken sich Kategorien wie „Abholung am Wohnort/Sammellager“ oder „Gepäcktransport“ – durchsucht werden kann. Über die Tags können zudem sehr konkrete Bildinhalte wie z.B. Fotoapparate, Gelbe Sterne und Omnibusse gesucht werden oder auch weitere Personengruppen, darunter Wehrmacht- und SS-Angehörige, Angestellte der Zivilverwaltung oder Zuschauende. Die verschiedenen Filteroptionen erlauben sehr spezifische Recherchen, sind allerdings nicht ganz intuitiv und hätten an einigen Stellen noch weiterer Differenzierung bedurft. Sucht man etwa Fotografien, die in den Sammellagern entstanden sind, findet man sie über die Filteroption „Örtlichkeit“ nur unter „Sonstiges“, denn der „Aufenthalt am Sammelpunkt/im Sammellager“ wurde statt als Örtlichkeit als „Bildhandlung“ verstanden und kann nur über diese Kategorie gefiltert werden.

In der Einzelbildansicht können die Fotografien mit Anmerkungen zu visuellen Details wie Gebäuden, Personengruppen oder Gegenständen angezeigt werden. Ebenso ist eine Ansicht des gesamten Bildes ohne die manchmal Details verdeckenden Markierungen mit den hinterlegten Anmerkungen möglich. Zudem können Kurzbiografien von mehr als 200 identifizierten Verfolgten nachgelesen werden. Damit gelingt es dem Projekt, einigen der abgebildeten Personen ihre Individualität zurückzugeben.

Besonders positiv hervorzuheben ist, dass die Rückseiten der Fotografien sowie die korrespondierenden Seiten in Fotoalben ebenfalls digital zur Verfügung gestellt wurden. So bleiben der ursprüngliche materielle Zusammenhang und der fotohistorische Überlieferungskontext weitgehend erhalten, was sowohl die weitere Recherche zu ihrer Funktion als auch die historische Einordnung erleichtert. Im Kontext ihres Gebrauchs werden auch die durchaus verschiedenen Intentionen der Fotograf:innen angedeutet. Durch Scrollen auf der Seite erhält der:die Benutzer:in weitere Informationen zu der jeweiligen Deportation, zur Bildserie sowie, falls bekannt, zu den Fotograf:innen und zur Überlieferung der Fotografien. Schade ist, dass die Einzelfotos nicht vergrößert werden können, weshalb kleinere Details nur schlecht zu erkennen sind.

 

Potenziale

Einen großen Mehrwert der Webseite stellt die Darstellung der Deportationsfotos auf einer Karte dar. Gelbe Punkte zeigen die unterschiedlichen Orte, aus denen Fotografien überliefert sind. Hier erschließt sich, eindrucksvoller als durch die alphabetische Listung der Orte, wie häufig die Deportationen fotografiert wurden. Auch entstehen daraus neue Forschungsfragen: Zum Beispiel, warum aus einigen Regionen wesentlich mehr Fotoserien überliefert sind oder die Frage nach dem Verhältnis von Klein- und Großstädten. Auch ermöglicht die Anzahl der im Einzelnen fotografierten Motive eine Vorstellung davon, welche Abläufe der Deportationen als dokumentationswürdig galten. Galt es vielleicht als legitim, Gewalt gegenüber den Deportierten auszuüben, dies jedoch nicht zu fotografieren? Eine weitere Frage könnte auch sein, ob Zuschauer:innen der Deportationen etwa am Bahnhof nicht nur geduldet, sondern als „Einschüchterung“ von den Behörden auch erwünscht waren. Wie reagierten sie auf die Kamera?

Auf schwarzem Grund eine Karte von Deutschland mit gelben Kreisen, in denen sich Zahlen (7, 13, 19, 20 etc.) befinden.

Abb. 3: Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas ©: Karte mit Zoom, https://atlas.lastseen.org/ [15.052023]

Zoomt man in die jeweiligen Orte hinein, sind die Aufnahmeorte der einzelnen Fotografien teilweise recht genau geodatenreferenziert, was u.a. für die lokalgeschichtliche Arbeit mit Schulklassen von Nutzen sein könnte. Langfristig wäre die Ausweitung des Projekts auf Orte außerhalb des ehemaligen Reichsgebiets wünschenswert. Allerdings sollte die Bedienungsfreundlichkeit verbessert werden, da sich die Karte weder in der Browseransicht noch auf dem Smartphone gut manövrieren lässt.

 

Kritik

Die digitale Präsentation der Deportationsfotos bietet jedoch nicht nur Vorteile, sondern birgt auch einige Fallstricke. So gibt die Reihung der Fotografien innerhalb der Serien in der Gesamtstruktur des Atlas zum Teil eine nicht historisch gesicherte Sortierung vor. Zum Beispiel bei der Serie aus Asperg, die aus 15 Farbdias besteht, die unterschiedliche Stationen zwischen Verhaftung und Abtransport der Jüdinnen und Juden über sechs Tage hinweg zeigen. Zwar verweist der Text darauf, dass sich nur die ersten und letzten Fotos der Serie zeitlich sicher einordnen lassen, trotzdem suggeriert die Anordnung in der Listenansicht einen bestimmten zeitlichen Ablauf der Geschehnisse, der durch den textlichen Hinweis nicht aufgehoben werden kann.

Listenansicht von Kacheln mit Fotografien von den Deportationen aus Asperg, 1940: Menschen auf der Straße, Menschen vor Gebäuden, Menschen am Bahnhof; in der Mitte eine weiße Kachel zum Hinweis auf die fehlenden Bilder aus Berlin.

Abb. 4: Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas ©: Bildserie aus Asperg im Überblick, https://atlas.lastseen.org/ [15.05.2023]

Als Benutzer:in des Bildatlas wünscht man sich einen Leuchttisch, der es ermöglicht, eine eigene Auswahl der Bilder zu betrachten. Bisher ist man auf Einzelbilder, die gesamte Serie oder alle Bilder festgelegt. Mit einem Leuchttisch wäre es möglich, beispielsweise Gemeinsamkeiten und Unterschiede von den Szenen am Bahnsteig genauer zu vergleichen.

Recht versteckt finden sich erläuternde Texte zur Geschichte der Deportationen von Jüdinnen und Juden sowie von Sinti:zze und Rom:nja sowie zu ethischen Überlegungen zum Zeigen und Betrachten der Fotografien. Obwohl sie wichtige Inhalte thematisieren, zeigt sich an diesen Texten auch ein übergeordnetes Problem der Webseite: Die Zielgruppe ist nicht einheitlich definiert. Während sich das Entdeckungsspiel und die Bildungsangebote primär an Schüler:innen wenden, scheinen die Texte eher an ein akademisches Publikum gerichtet zu sein und setzen zum Teil viel Hintergrundwissen voraus. Hier wurde das Potenzial der Online-Präsentation nicht voll ausgeschöpft. So könnten unbekannte Begriffe oder komplexe Prozesse zum Beispiel durch eine Mouseover-Funktion mit Erklärungen versehen werden.

Zu den zwei unterschiedlichen Verfolgtengruppen gibt es kurze weiterführende Literaturlisten, die auch für das komplexe Thema der bildethischen Fragestellungen wünschenswert gewesen wären – ebenso wie ein Hinweis auf die fotohistorischen Vorläufer des Projekts wie das im Jahr 2002 erschienene Buch „Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz“ von Klaus Hesse und Philipp Springer, die ihrerseits 1475 regionale Archive anschrieben und einen großen Teil völlig unbekannten Bildmaterials der NS-Verfolgung veröffentlichen konnten.[2] Fotografien von Deportationen zeigten sie aus 18 verschiedenen Ortschaften, besonders genau und ausführlich hat Klaus Hesse in diesem Buch die Deportationsserien aus Lörrach, Laupheim, Eisenach und Wiesbaden analysiert.

 

Die fotografische Perspektive

Irritierend ist der Titel des Projekts #LastSeen. Zwar sahen sich einige Freund:innen und viele Nachbar:innen an diesen Tagen mit hoher Wahrscheinlichkeit das letzte Mal, jedoch haben die Fotos mit den privaten emotionalen Momenten des wechselseitigen Abschiednehmens, den der Titel evoziert, nichts zu tun. Keineswegs handelt es sich bei den Fotograf:innen um Knipser, die ihre Nachbar:innen verabschieden, sie fotografieren, um sie im Familienalbum stets in Erinnerung zu halten. Vielmehr handelt es sich um „Fotografien-wider-Willen“,[3] deren Aufnahmesituation von einem asymmetrischen Machtverhältnis zwischen Fotografierenden und Fotografierten geprägt ist. Die allermeisten der hier versammelten Fotografien zeigen die kontrollierte Situation der Deportationen, die „vor aller Augen“ häufig am hellen Tage stattfanden – was man im Deutschen Reich nicht nur wissen konnte, als Einwohner:in all dieser Städte ja sogar wissen musste.

Es ist eine fotografische Perspektive auf die Organisation der Deportationen, die als möglichst effizient, ordentlich und gewaltlos dargestellt werden soll. Es sind zumeist die Täter selbst, die fotografisch dokumentieren, wie gut sie ihren Job gemacht haben, um es gegenüber ihren Vorgesetzten bezeugen zu können. Die Bilder zeigen meist typische Stationen, Abläufe und Muster der technischen Durchführung der Deportationen, die sich in allen Städten ähnelten.

Als beispielhaft könnte die Serie des Kriminaloberassistenten Hermann Otto aus Würzburg gelten, der die Deportation in mindestens 59 Fotos im Auftrag der Gestapo festgehalten hat. Seine Perspektive etwa am Bahnsteig, wo die Menschen „ordentlich und kontrolliert“ in die Personenzüge einsteigen, entspricht der seines Kollegen Hans Laub, der auf dem Bildvordergrund noch sichtbar ist. Die Distanz der Kamera zum Waggon und den einsteigenden Menschen verleiht dem Bild den Charakter einer nüchternen Überblicksaufnahme, die keinen emotionalen oder individuellen Ausdruck des Geschehens sucht. Auch für lokale Stadtchroniken wurden solche Aufnahmen häufig von den Inhabern lokaler Fotogeschäfte angefertigt, die in kleinen Städten für die Visualisierung öffentlicher Ereignisse verantwortlich waren.

Screenshot: auf der rechten Seite eine Fotografie von einem Bahnsteig: Menschen steigen mit Gepäck in einen Zug, vorne links ist ein Mann in Uniform zu sehen. Links die Schrift auf schwarzem Grund: „Würzburg April 1942“ sowie die Beschreibung der Fotografie und die Seitennavigation.

Abb. 5 Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas: Würzburg, April 1942: „Unter dem Blick des bewachenden Ordnungspolizisten Laub steigen die Menschen in den Zug, der sie nach Kraśniczyn bringen wird.“ Bild: Staatsarchiv Würzburg ©, https://atlas.lastseen.org/image/w%C3%BCrzburg/375 [15.05.2023]

Für die Stadt Neustadt an der Saale ist bekannt, dass die NSDAP Fotos der Deportation in der Geschäftsstelle der „Mainfränkischen Zeitung“ öffentlich aushängen ließ.[4] Und die Fotos der Deportation aus Dortmund 1938 wurden einen Monat später mit antisemitischen Kommentaren („Die hier abgebildeten jüdischen Prachtexemplare, die unser Bildberichterstatter noch in letzter Minute vor ihrer Abschiebung auf die Platte brachte […]“[5]) in der „Westfälischen Landeszeitung“ publiziert. Dieser Aspekt der fotografischen Perspektive könnte im Projekt weiter ausgebaut oder sichtbarer vermittelt werden, sodass die Bilder nicht auf ihr dokumentarisches Moment reduziert werden.

Die wenigen Ausnahmen von dieser fotografischen Täterperspektive sollten insofern als solche herausgehoben thematisiert werden. Dazu zählen zum Beispiel die zwei Aufnahmen vom Sportplatz in Dortmund 1942, die nur aufgrund der großen Entfernung des Fotografierenden zu den abgebildeten Menschen als vermutlich heimliche Aufnahmen bezeichnet werden. Ebenso vorstellbar wäre aber auch, dass diese Bilder nicht heimlich, sondern nur ohne offiziellen Auftrag aufgenommen wurden.

Screenshot: auf der rechten Seite eine Fotografie von einer langen Schlange von Menschen auf einem Sportplatz, aufgenommen aus großer Entfernung. Links die Schrift auf schwarzem Grund: „Dortmund 28.4.1942“ sowie die Beschreibung der Fotografie und die Seitennavigation.

Abb. 6: Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas / Bild: Stadtarchiv Dortmund ©: Dortmund, 28.4.1942, https://atlas.lastseen.org/image/dortmund/100 [15.05.2023]

Etwas vorschnell werden auch die Fotos aus Bremen aus dem Jahr 1941 betextet mit „höchstwahrscheinlich aus Verfolgtenperspektive aufgenommen“. Unklar bleibt für die Nutzer:innen des Bildatlas jedoch, wie diese Einschätzung begründet wird. Der Besitz von Kameras war zudem für jüdische Deutsche verboten, sie mussten seit dem 13. November 1941 abgeliefert werden, wie auch Schreibmaschinen, Fahrräder und Ferngläser. Dass sich die Abgebildeten und der Fotograf dieser Bilder vermutlich kennen und miteinander kommunizieren, wird deutlich sichtbar, weil Personen offen in die Kamera lachen und posieren.

Screenshot: mittig eine Fotografie von einer Gruppe von meist jungen Menschen, die zum großen Teil mit einem Lächeln in die Kamera blicken. Links die Schrift auf schwarzem Grund: „Bremen 17.11.1941“ sowie die Beschreibung der Fotografie und die Seitennavigation.

Abb. 7: Screenshot: Website #LastSeen Bildatlas / Bild: Sammlung Inge Berger ©: Bremen, 17.11.1941, https://atlas.lastseen.org/image/bremen/332 [15.052023]

Die Lokalisierung und Datierung der Fotografien sowie die Identifikation von Personen sind äußerst wichtig, sagen aber noch nicht alles über die Fotografien als Bilder oder als Inszenierungen aus. Entscheidend für ihre Lesbarkeit ist die Frage, wer ein Foto zu welchem Zweck angefertigt hat. Dies thematisiert das Projekt nur wenig und lässt auch neue fotohistorische Forschungen zum Beitrag der Fotografie bei der visuellen Konstruktion von (Volks-)Gemeinschaft im Nationalsozialismus unberücksichtigt.[6]

 

Bildungsarbeit

Für Multiplikator:innen und Forscher:innen bietet die Webseite einen großen Fundus an neuem, aber auch bekanntem Bildmaterial, das nun an einem digitalen Ort zusammengefügt wurde. Die Fotografien können allerdings nicht abgespeichert werden, und es sind auch die strengen Bildrechte der leihgebenden Archive zu beachten: Für die Nutzung der Fotografien müssen die Rechte direkt dort angefragt werden. Der Bildatlas ist ein attraktives Tool für die schulische und außerschulische Bildungsarbeit, und es ist zu wünschen, dass das Projektteam in Zukunft noch pädagogisches Material zur Nutzung veröffentlichen wird. Momentan können bereits Workshops zu den Deportationsfotos an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und den Arolsen Archives gebucht werden, aber auch eine angeleitete digitale Nutzung der Webseite für die Vermittlungsarbeit wäre wünschenswert.

 

Ausblick

#LastSeen ist kein abgeschlossenes Projekt, sondern wird in den kommenden Jahren kontinuierlich mit weiteren Fotografien und Informationen ergänzt werden. Doch schon jetzt bietet die Webseite einen beeindruckenden Überblick über die fotografische Inszenierung der Deportationen aus dem Deutschen Reich von 1938 bis 1943. Man muss die Bilder mit Hanno Loewy als „geradezu schmerzhaft gewöhnlich“[7] bezeichnen. Sie entsprechen nicht unseren Vorstellungen von nationalsozialistischer Verfolgung, sie stehen am Beginn eines langen Prozesses der Exklusion der ehemaligen Nachbarn, die letztlich auch visuell aus der „Volksgemeinschaft“ ausgestoßen wurden. Die Fotografien vollziehen diesen Ausschluss zwar noch nicht vollumfänglich, sie stellen aber einen Teil des Prozesses dar. Auch wenn die Zahl der Bilder schon hoch erscheinen mag, hoffen wir mit den Projektmitarbeiter:innen, dass #LastSeen noch mehr unbekanntes Bildmaterial zu diesem wichtigen Thema finden und zur Verfügung stellen kann – möglicherweise auch durch die Aufmerksamkeit und das Wissen interessierter Benutzer:innen des Bildatlas.

 

#LastSeen Bildatlas. Bilder der NS-Deportationen https://atlas.lastseen.org

Kontakt zur Projektleitung: Dr. Alina Bothe
lastseen@arolsen-archives.org

 

[1] Siehe die Beschreibung des Projekts auf der Website: https://www.lastseen.org/projekt-lastseen [15.05.2023].

[2] Klaus Hesse/Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002. Anzahl der Archive S. 19, Orte S. 187-201.

[3] Der Begriff geht zurück auf Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999, wurde aber von Cornelia Brink 2007 über die Fotografie von Verdächtigen hinaus erweitert. Cornelia Brink, Vor aller Augen: Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: Werkstatt Geschichte 47 (2007), S. 61-74, hier S. 61, online unter https://werkstattgeschichte.de/wp-content/uploads/2017/01/WG47_061-074_BRINK_AUGEN.pdf [05.05.2023].

[4] Vgl. Hesse/Springer, Vor aller Augen, S. 186.

[5] Zit. nach der Website #LastSeen Bildatlas, https://atlas.lastseen.org/image/dortmund/98 [15.05.2023].

[6] Besonders Michael Wildt, Linda Conze und Ulrich Prehn haben im Forschungsprojekt „Fotografie im Nationalsozialismus. Alltägliche Visualisierung von Vergemeinschaftungs- und Ausgrenzungspraktiken 1933-1945“ diesen Aspekt der Konstruktion von Gemeinschaft mit und durch Fotografie betont; vlg. die Projekt-Webseite https://www.geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/forschung/abgeschlossene-forschungsprojekte/fotografie-im-nationalsozialismus [15.05.2023]. Vgl. auch Linda Conze, Die Ordnung des Festes / Die Ordnung des Bildes. Fotografische Blicke auf Festumzüge in Schwaben (1926-1934), in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 12 (2015), H. 2, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2015/5222 [15.05.2023], sowie dies., Filling the Frame: Photography of May Day Crowds during the Early Nazi Era, in: Journal of Modern European History 16 (2018), H. 4, S. 463-486.

[7] Vgl. Hanno Loewy, Spuren, in: ,,Unser einziger Weg ist Arbeit“. Das Getto in Lodz 1940-1944, Red. ders./Gerhard Schoenberner, Wien 1990, S. 59-66, hier S. 59. Zit. nach: Hesse/Springer, Vor aller Augen, S. 203.

 

 
 

 

Zitation


Svea Hammerle und Sandra Starke, Rezension: #LastSeen Bildatlas. Fotografische Überlieferung von Deportationen aus dem Reichsgebiet, in: Visual History, 19.05.2023, https://visual-history.de/2023/05/19/hammerle-starke-rezension-lastseen-bildatlas/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2481
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