un.sichtbar – Zur Einführung
Es könnte eine Filmszene sein: Vier Personen posieren auf bzw. in einem Automobil für die Kamera. Die Frau im Wagen blickt zum geöffneten Fenster heraus. Sie trägt einen hellen, mit einem Schmuckband verzierten Topfhut und ein darauf abgestimmtes Oberteil. Der Mann sitzt schräg unter ihr auf dem Trittbrett, im eleganten Anzug mit aufrechter Haltung, die Hände locker auf seine Knie gestützt. Auf der Motorhaube haben sich ein Junge und ein Mädchen im Alter von fünf und sechs Jahren lässig gruppiert. Der Junge sitzt auf der Motorhaube; er trägt eine Art Matrosenanzug. Das Mädchen in hellem Rock und verzierter Jacke steht auf dem Kotflügel direkt vor ihm. Alle vier sind sich der Bedeutung des Moments dieser Aufnahme bewusst. Sie schauen freundlich, aber mit angemessenem Ernst in die Kamera. Das Fahrzeug, eine dunkle Limousine aus den 1920er Jahren, ist der Star der Aufnahme. Im Hintergrund sind die Fassade und der mit einer Säule flankierte Eingang eines repräsentativen bürgerlichen Hauses zu sehen.
Die Szene ist bis ins kleinste Detail choreografiert. Genau daraus bezieht die Fotografie ihre Wirkung. Das Bild transportiert Freude, Stolz und das Selbstbewusstsein aller vier Familienmitglieder, ein solches Auto ihr Eigen zu nennen. Es wird als herausragendes Statussymbol präsentiert. Durch den Standort des Fotografen/ der Fotografin werden wir als Betrachtende zu Zeugen dieses Vorgangs. Die Bildunterschrift verweist auf das Jahr der Aufnahme „1926“. Die Fotografie stammt aus einem privaten Fotoalbum, das Momente aus dem Leben von Joseph und Helene Lindenberger und der weiteren Familie zeigt.
Das Album ist Teil eines Konvoluts aus der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin, das von Michael Lindenberger – der Sohn des kleinen Jungen auf der Motorhaube – gestiftet worden ist. Es umfasst Dokumente und Fotografien der Familie Lindenberger aus Berlin, die am Alexanderplatz eine Engros- & Export-Fischhandlung nebst dazugehöriger Eisfabrik und Kühlhallen besaß. Die Unterlagen stammen aus dem Nachlass von Hermann (1920-2003) und Marion Lindenberger, geb. Allerhand (1923-2023). Die Eltern von Hermann Lindenberger waren Joseph (1881-1949) und Helene Lindenberger, geb. Taitza (1894-1952). Joseph war eines von insgesamt zwölf Kindern des Berliner Firmengründers Isaak Lindenberger und seiner Frau Esther. Er betrieb mit seiner Frau Helene in Merseburg ein Konfektionshaus für Herren- und Damenbekleidung. Das Konvolut umfasst neben Familienfotografien und dem Album Dokumente zur Familiengeschichte, zu Ausbildung und Beruf, zur Emigration der Familie nach Palästina im Jahr 1938 und zu ihrer Rückkehr nach Deutschland 1957. Unterlagen zur Restitution der Familienunternehmen in Berlin und Merseburg geben einen Einblick in die Enteignung durch das NS-Regime Ende der 1930er Jahre, wodurch die Familie ihr gesamtes Vermögen verlor.
Das früheste Bild im Album stammt aus dem Jahr 1906, das späteste ist von 1969. Die Narration ist nicht durchgehend chronologisch. Überlieferte Bilder sind nachträglich eingeklebt worden; außerdem wurden Fotografien entnommen. Das Album bildet somit mehrere Zeitschichten ab. Zusammengestellt hat es Michael Lindenberger. Es zeigt Mitglieder der Familie, ihre Feste und Ausflüge, die Urlaubsreisen in die Berge und ans Meer: Einblicke in ein bürgerliches Leben in Deutschland – das Leben einer jüdischen Familie. Das Album dokumentiert die Zeit im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, unter NS-Herrschaft und den Aufbau einer neuen Existenz in Palästina.
Was ist sichtbar? Was bleibt unsichtbar? Ein Fotoalbum erzählt von der privaten Familiengeschichte ebenso wie von der Zeit, in der es entstanden ist. Studierende des Masterstudiengangs Public History der Freien Universität Berlin haben im Wintersemester 2023/24 mit Unterstützung von Christine Bartlitz (ZZF), Christoph Kreutzmüller (Selma Stern) und Theresia Ziehe (Jüdisches Museum) das Fotoalbum der deutsch-jüdischen Familie Lindenberger als zeitgeschichtliche Quelle im Sinne einer Visual History untersucht und sich dabei auf das Spannungsverhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem im Album und bei den einzelnen Bildern konzentriert.
In den letzten Jahren hat sich die geschichtswissenschaftliche Forschung verstärkt für private Fotografien interessiert. Anhand von Fotoalben oder auch Einzelbildern wurde und wird analysiert, ob und wie historische Ereignisse ihren Niederschlag fanden und wie private Fotografien gesellschaftliche und politische Konventionen sowie soziale Praktiken spiegeln. Ausgehend von der Entwicklung, Bilder als zeitgeschichtliche Quellen zu verstehen, haben wir uns konkret den Fotografien selbst zugewandt.
Anhand des ausgewählten Bestands standen die fotografischen Zeugnisse der Familie Lindenberger im Fokus: Wovon erzählen sie? Was sind beliebte Motive? Was lässt sich aus den Bildern bei genauer Betrachtung herauslesen – und was nicht? Können die Fotografien etwas über jüdisches Leben in Deutschland berichten? Und was macht überhaupt eine solche Perspektive aus? In dem Themendossier „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“ geben wir Einblicke in unsere Arbeit: In 17 Beiträgen nähern wir uns aus ganz unterschiedlichen Perspektiven den Bildern aus dem Album und stellen das Fotoalbum in Gänze sowie einzelne Fotografien im Detail vor, unter der Fragestellung: Was können uns die Bilder zeigen – und was zeigen sie nicht?
Mitwirkende
Christine Bartlitz (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam), Charles Harding (FU Berlin), Christina Helwig (FU Berlin), Christoph Kreutzmüller (Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien), Clara Müller (FU Berlin), Daniel Neumeier (FU Berlin), Lisa Querner (FU Berlin), Jan-Niklas Welling (FU Berlin), Junseok Won (FU Berlin), Theresia Ziehe (Jüdisches Museum Berlin)
Unser ganz besonderer Dank geht an Michael Lindenberger, der für Fragen gerne zur Verfügung stand und uns bei diesem Projekt unterstützt hat.
Quellen
Stiftung Jüdisches Museum Berlin, Konvolut/ 059 Sammlung Familie Lindenberger
Interview mit Michael Lindenberger, 22. Dezember 2023
Herbert Lindenberger, „One Family’s Shoah: Victimization, Resistance, Survival in Nazi Europe“, New York 2013
Dieser Artikel ist Teil des Themendossiers: „un.sichtbar. Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969“, herausgegeben von Christine Bartlitz, Christoph Kreutzmüller und Theresia Ziehe
Themendossier: un.sichtbar: Blicke auf das Fotoalbum einer jüdischen Familie 1904-1969
Zitation
Christine Bartlitz, un.sichtbar – Zur Einführung, in: Visual History, 14.02.2024, https://visual-history.de/2024/02/14/unsichtbar-bartlitz-einfuehrung/
DOI: https://doi.org/10.14765/zzf.dok-2692
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